Andreas Jud, Jörg M. Fegert et al. (Hrsg.): Kinder- und Jugendhilfe im Trend
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Berg, 18.06.2015
Andreas Jud, Jörg M. Fegert, Mirjam Schlup (Hrsg.): Kinder- und Jugendhilfe im Trend. Veränderungen im Umfeld der Kinder- und Jugendhilfe am Beispiel der Stadt Zürich. Interact Verlag Hochschule Luzern (Luzern) 2014. 169 Seiten. ISBN 978-3-906036-17-5. D: 31,00 EUR, A: 31,00 EUR, CH: 38,00 sFr.
Thema
Die Sozialen Dienste der Stadt Zürich haben eine Studie in Auftrag gegeben, um die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe auf dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher, politischer und fachlicher Entwicklungen zu überprüfen.
Herausgeber und Autoren
Die Herausgeber vertreten die beteiligten Institutionen: die Direktorin M. Schlup die Sozialen Dienste der Stadt Zürich als Auftragnehmer, als Auftragnehmer Dr. Jud die Hochschule Luzern und Professor Dr. Fegert die Universitätsklinik Ulm. Neben letzteren, die die meisten Textanteile haben, wirken weitere zehn Autorinnen und Autoren mit, zumeist Mitarbeitende der Luzerner bzw. Ulmer Hochschule.
Entstehungshintergrund
Mit der vorliegenden Veröffentlichung dokumentieren die Auftraggeber und die Auftragnehmer gemeinsam ihre Bestandsaufnahme und Erkenntnisse zur strategischen Ausrichtung der Kinder- und Jugendhilfe in Zürich.
Aufbau
Die Studie umfasst zwölf Kapitel.
- Die ersten sechs Kapitel reichen bis Seite 99 und charakterisieren die gesellschaftlichen, rechtlichen und fachlichen Entwicklungen, also das aktuelle Umfeld, in dem sich die Kinder- und Jugendhilfe bewegt.
- Die folgenden drei Kapitel (S. 103-128) gehen auf spezielle Herausforderungen (Zeitpolitik, Wirksamkeit sozialarbeiterischer Methoden, Probleme des sog. Übernahmeverschuldens) ein.
- Im 10. Kapitel (vier Seiten) apostrophieren die Autoren die Bedeutung der Gemeinde für den Alltag von Kindern und ihren Familien.
- Das 11.Kapitel (8 Seiten) berichtet aus der sozialarbeiterischen Praxis, nämlich in Hinsicht auf die oft vernachlässigte Dokumentation in der Arbeit am Fall.
- Auf den letzten zehn Textseiten fassen die Vertreterinnen des Amtes den “Strategieprozess” zusammen, der sich aus der Studie ergibt.
Inhalt
Die (Ulmer) Autoren gehen davon aus, dass Kinder von familiären Problemlagen umso stärker betroffen sind, je jünger sie sind. Die Gefahren von Vernachlässigung und Kindeswohlgefährdung seien in den ersten fünf Lebensjahren am größten. Im Jugendalter, einer sensiblen Umbruchphase, sind viele problematische Verhaltensweisen möglich, zum Teil auch nötig, dürfen sich aber nicht chronifizieren. Sog. primäre Prävention zielt darauf ab, Familien zu unterstützen und so Störungen und Gefährdungen zu verhindern.
Kinder wachsen mit den neuen Medien (Handy, Computerspiele usf.) auf, die ganz selbstverständlich zu ihrem Alltag gehören. Je “gutbürgerlicher” der familiäre Rahmen ist, desto mehr können aktive Beschäftigungen wie Musizieren oder Lesen der passiven Medienberieselung entgegengestellt werden.
Armut, so Beat Baumann, betrifft vor allem Kinder und Familien. Auch die im Vergleich zur Gesamtbevölkerung Zürichs deutlich höhere Sozialhilfequote der bis zu 17jährigen belegt dies. Armut ist ein Risikofaktor, der sich – in Verbindung mit anderen Faktoren - gravierend negativ auswirken kann, etwa auf die sprachliche Entwicklung des Kindes. Die familienergänzende, kommunale Kinderbetreuung sei, so Baumann, für ein Viertel der Vorschulkinder (Angaben für 2010) vergleichsweise gut ausgebaut. Die ausländische Wohnbevölkerung macht ca. 30 % aus, besteht aus Deutschen mit guten Einkommen und Niedriglöhnern aus dem Balkan oder Portugal.
Viel zu wenig Aufmerksamkeit haben bislang, darauf weisen die Ulmer Experten hin, Kinder erhalten, die in Familien mit psychisch kranken Eltern aufwachsen. Psychische Auffälligkeiten dieser Kinder sind häufig.
Patrick Zobrist (FH Luzern) referiert die gängigen Prinzipien sozialer Arbeit, von der Sozialraumorientierung,über Menschenrechte und Empowerment, zum systemischen Ansatz, frühen Hilfen und Schulsozialarbeit. Andreas Jud und Regula Gartenhauser betrachten die Forschungslage in Bezug auf die “Wirksamkeit eingesetzter Methoden” in der Kinder- und Jugendhilfe, etwa bei der Fremdunterbringung von Kindern oder der Sozialpädagogischen Familienhilfe; im Ergebnis finden sie in 18 empirischen Studien kaum mehr als “Hinweise auf positive Wirkungen”.
J. Fegert stellt für die Fälle, in denen Sozialarbeiter nicht verhinderten, dass Kinder zu Tode kamen, die Verbindung zum Medizinrecht her, das vorsieht, durch eine sog. Überlastungsanzeige ein Übernahmeverschulden auszuschließen. A. Jud empfiehlt den Praktikern dringend, ihr Herangehen und Handlungsweise präzise zu dokumentieren, einschließlich der Begründungen dafür und der Argumente gegen mögliche Alternativen.
Zum Abschluss skizzieren Reusser, Bachofen und Schlup (Stadt Zürich) den Prozess, der von der Schwächen-Stärke-Analyse über die Vision 2025 zur Fachstrategie führen soll. Dabei heben sie vor allem darauf ab, entsprechend der Sozialraumorientierung die fünf Sozialzentren weiterzuentwickeln und die Fallzahlen pro Sozialarbeiter um ein Fünftel zu reduzieren.
Diskussion
Das Buch ist fein gestaltet, klar gegliedert und gut lesbar. Ganz selten lassen schweizerische Begriffe wie “Vernehmlassungskreis” (Fachkräfte des Fachbereichs und der Sozialzentren, die die Umsetzung der Strategie in die Praxis diskutieren) aufhorchen.
Nicht nur quantitativ, also im Verhältnis der Textanteile, auch inhaltlich ist die Veröffentlichung nicht in der Balance: Den ausführlichen theoretischen Vorarbeiten, die die – weitgehend ja doch bekannten – vielfachen Herausforderungen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe vorstellen, folgen kurzgefasste Überlegungen zu Strategieprozessen, die meist formal bleiben: Angebote sollen “qualitativ hochstehend” sein und “bedarfsgerecht weiterentwickelt” werden. Was konkret heißt das für Kinder aus Familien mit psychisch kranken Eltern, aus armen Familien, die mit den Niedriglöhnen nicht auskommen können, denen “Zeitwohlstand” oder Medienkompetenz fehlt?
Fazit
Erfreulicherweise haben sich die Sozialen Dienste der Stadt Zürich auf einen umfassenden Strategieprozess eingelassen. Der vorliegende Werkstattbericht dazu ist solide, informativ, anregend – ein guter Anfang. Jetzt fehlt nur noch eine Reportage, die veranschaulicht, wie mit neuen Werkzeugen Neues hergestellt wird, die bessere Praxis nämlich.
Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Berg
Hochschule Merseburg
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Zitiervorschlag
Wolfgang Berg. Rezension vom 18.06.2015 zu:
Andreas Jud, Jörg M. Fegert, Mirjam Schlup (Hrsg.): Kinder- und Jugendhilfe im Trend. Veränderungen im Umfeld der Kinder- und Jugendhilfe am Beispiel der Stadt Zürich. Interact Verlag Hochschule Luzern
(Luzern) 2014.
ISBN 978-3-906036-17-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18892.php, Datum des Zugriffs 07.10.2024.
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