Claire Moulin-Doos: CiviC disobedience
Rezensiert von Dr. Rolf Frankenberger, 14.03.2016

Claire Moulin-Doos: CiviC disobedience. Taking politics seriously. A democratic theory of political disobedience.
Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2015.
205 Seiten.
ISBN 978-3-8487-1517-6.
D: 54,00 EUR,
A: 55,60 EUR,
CH: 76,90 sFr.
Schriftenreihe zeitgenössische Diskurse des Politischen, Vol. 7.
Thema
Ungehorsam ist eine zentrale Kategorie sowohl in der demokratischen Praxis als auch in der politischen Theorie. Denn immer wieder gibt es Menschen, die sich in Demokratien für die Einhaltung geltenden Rechts einsetzen oder sich aber geltendem Recht widersetzen – häufig in emanzipatorischer Absicht wie etwa die amerikanische Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King oder Mahatma Gandhi mit seinem gewaltfreien Widerstand. In der demokratietheoretischen Auseinandersetzung mit politischem Widerstand finden sich unterschiedliche Traditionen, wobei insbesondere die anglo-amerikanische liberale Tradition in Anschluss an John Rawls, Ronald Dworkin und Joseph Singer eine zentrale Rolle einnimmt. Im deutschen Kontext sind hier vor allem Jürgen Habermas, Günther Frankenberg und Theodor Ebert zu nennen. Gemeinsam ist beiden Linien die Terminologie des zivilen Ungehorsam („civil disobedience“).
Claire Moulin-Doos schlägt nun vor, diese liberale Konzeption zivilen Ungehorsams um eine Theorie des demokratischen politischen Ungehorsams („civic disobedience“) zu ergänzen, die eine Alternative zur liberalen Theorie darstellen soll (S. 19). Den Kernunterschied zwischen „liberalem“ und „demokratischem“ Widerstand sieht sie dabei in der unterschiedlichen Funktion innerhalb eines politischen Gemeinwesens: Während ziviler (civil) Ungehorsam darauf zielt, dass der Staat in einem bestimmten Bereich keine Maßnahmen ergreifen soll, zielt politischer (civic) Widerstand darauf, dass der Staat aktiv werden soll und bestimmte Bereiche politisch und rechtlich verregeln soll. Für Moulin-Doos ist der Begriff „civil“ somit defensiv und bezieht sich auf Rechte und das Verhältnis von Staat und Bürger. Der Begriff „civic“ beziehe sich im Unterschied dazu auf Werte und gehe daher weit über den rechtlichen Diskurs hinaus, so Moulin-Doos (S. 101).
Autorin und Entstehungshintergrund
Claire Moulin-Doos arbeitet als Postdoc an der Carl-von-Ossietzky Universität Oldenburg am Institut für Sozialwissenschaften. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind unter anderen Theorien der Demokratie, radikale Demokratietheorie, politischer Ungehorsam und Menschenrechtsdiskurse.
Der vorliegende, in englischer Sprache abgefasste Band ist eine überarbeitete Version der Dissertation, die Moulin-Doos im Juni 2011 an der Universität Bremen verteidigte.
Aufbau und Inhalt
Der Band ist in eine Einleitung, fünf inhaltliche Kapitel und eine Conclusio gegliedert. Die inhaltlichen Kapitel wiederum umfassen jeweils zwei Teile, die mit einer Zusammenfassung der Hauptargumente enden.
In der Einleitung (S. 15-28) führt Moulin-Doos in die Zielsetzung der Arbeit ein, eine alternative Theorie politischen Ungehorsams vorschlagen zu wollen. Zu diesem Zweck unterscheidet sie Liberalismus als ein rechtlich fixiertes Wertesystem von Demokratie als einem System kollektiver Entscheidungsfindung. Während ersteres Konzept normativ gebunden sei, sei Demokratie normativ neutral, könne aber ersteres als „liberale Demokratie“ beinhalten. Diese Unterscheidung ist zentral für die Begründung von Widerstand. Im Falle des zivilen Ungehorsams bezieht sich dieser auf die rechtliche Ordnung, während die Begründung im Fall politischen Widerstands der Bezugsrahmen hin zu Handlungen verschiebt.
In Kapitel 1 „Generic Concept of Political Disobedience“ (S. 29-60) diskutiert die Autorin, was politischer Ungehorsam ist und definiert ihn als bewusst ausgeführte, zielorientierte, illegale, öffentliche und kollektive Handlung (S. 45). Entscheidend sei dabei die Möglichkeit der Rechtfertigung der Handlungen sowie ein niedriges Level an Gewaltanwendung.
Kapitel 2 („Civil Disobedience and Liberalism: the same Logic of Defending „Rights“, S. 61-82) dient der Ausarbeitung der Idee, dass ziviler Ungehorsam vor allem defensive sei. Es gehe in dieser liberalen Tradition im Wesentlichen darum, Rechte gegen Eingriffe seitens der Politik zu verteidigen. Für Moulin-Doos kommt die liberale Tradition einer Neutralisierung der Politik gleich, indem politische Entscheidungen in das Rechtssystem verlagert würden (S. 74) und über der Politik stehende Rechte, die verteidigt würden.
Dass „CiviC“ oder politischer Ungehorsam im Unterschied dazu konstruktiv sei und dem demokratischen Prozess gleich sei, erörtert die Autorin in Kapitel 3 („CiviC Disobedience and Democracy: the same Logic of Promoting Politics“, S. 83-104). Durch die zunehmende Verrechtlichung von Politik und Demokratie, wie sie in den USA zu finden sei, komme es zu einer Privilegierung zivilen Ungehorsams als politischer Handlung. Im Unterschied dazu werde in politischen Systemen wie Frankreich, die nicht komplett durch eine Verrechtlichung dominiert seien, „civic disobedience“ bedeutsamer.
In Kapitel 4 („Justification of Political Disobedience – Liberal Moral Justification versus Political Justification“, S. 105-156) kontrastiert Moulin-Doos die unterschiedlichen Legitimationsmuster. Während Ungehorsam in der liberalen Tradition darüber legitimiert werde, dass übergeordnete Rechte verteidigt würden, finde sich in der Demokratietheorie keine solche Legitimationsmöglichkeit von Widerstand, da Demokratietheorie kein bestimmtes Gerechtigkeitsprinzip vertrete.
Den Rollen oder Funktionen von politischem Ungehorsam geht die Autorin in Kapitel 5 „Role of Political Disobedience – Limiting Democracy versus Promoting Democracy“ (S. 157-188) nach und analysiert nochmals dezidiert die begrenzende Funktion zivilen (civil) Ungehorsams im Unterschied zu der Demokratie erweiternden Funktion von „civic disobedience“.
Fazit
Claire Moulin-Doos erweitert die Theoriedebatte um Ungehorsam in Demokratien konzeptionell. Neben die liberale Idee eines auf Rechte bezogenen zivilen (civil) Ungehorsams zur Verhinderung staatlicher Eingriffe stellt sie das Konzept des auf Werte bezogenen demokratischen politischen (civic) Ungehorsams, der den Staat zum Handeln auffordert. Damit leistet sie einen relevanten und intellektuell anregenden Beitrag zur demokratietheoretischen Auseinandersetzung mit Ungehorsam. Für die Leserinnen und Leser ist dabei besonders hilfreich, dass Frau Moulin-Doos am Ende jedes Unterkapitels und jedes Kapitels eine kurze Zusammenfassung der Hauptbefunde liefert. So können eilige Leserinnen und Leser ebenso schnell den Kern der Arbeit erfassen wie im Englischen ungeübtere Leserinnen und Leser.
Rezension von
Dr. Rolf Frankenberger
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Zitiervorschlag
Rolf Frankenberger. Rezension vom 14.03.2016 zu:
Claire Moulin-Doos: CiviC disobedience. Taking politics seriously. A democratic theory of political disobedience. Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2015.
ISBN 978-3-8487-1517-6.
Schriftenreihe zeitgenössische Diskurse des Politischen, Vol. 7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18894.php, Datum des Zugriffs 31.03.2023.
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