Tina Horlitz, Astrid Schütz: ADHS [...] Ressourcen und Stressbewältigung [...]
Rezensiert von Dr. Johannes Streif, 06.08.2015
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Tina Horlitz, Astrid Schütz: ADHS. Himmelweit und unter Druck. Ressourcen und Stressbewältigung für betroffene Erwachsene und Jugendliche. Springer (Berlin) 2015. 100 Seiten. ISBN 978-3-662-44403-0. D: 19,99 EUR, A: 20,55 EUR, CH: 25,00 sFr.
Thema
Das Buch ist Ratgeber zur Stressbewältigung für von der ADHS betroffene Erwachsene und ältere Jugendliche.
Autorinnen
Tina Horlitz ist Diplom-Psychologin und arbeitet seit 2012 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Persönlichkeitspsychologie, Diagnostik und Personalpsychologie der Universität Bamberg.
Astrid Schütz ist Professorin für Persönlichkeitspsychologie und psychologische Diagnostik an der TU Chemnitz.
Aufbau
Das insgesamt rund 100 Seiten umfassende Buch ist in zwei Bereiche unterteilt.
- Im ersten Bereich, dem von den Autoren so genannten Theorieteil, wird zunächst anhand eines Fallbeispiels in den Gegenstand des Buches eingeführt. Ein eigenes Unterkapitel informiert dabei über die Grundlagen der ADHS. Ein weiteres Kapitel ist dem Thema Stress gewidmet. Das dritte Kapitel des ersten Teils thematisiert den Hyperfokus, das heißt die Verhaltenstendenz von ADHS-Betroffenen, ungeachtet der ansonsten vorherrschenden fluktuierenden Aufmerksamkeit gelegentlich vollständig in spezifischen Interessen aufzugeben.
- Im zweiten Bereich, dem Anwendungsteil, werden zunächst Ziele für die Nutzung spezifischer Techniken zur Stressbewältigung vorgestellt. Ein weiteres Kapitel widmet sich sodann Formen der Stressbewältigung. Im dritten Kapitel des Anwendungsteils werden die Techniken der Stressbewältigung auf ADHS-spezifische Probleme angewendet und Strategien des Selbst- und Zeitmanagements, der Prioritätensetzung, der Ressourcenaktivierung, des Grenzsetzens und Nein-Sagens, der emotionalen und kognitiven Selbststeuerung sowie zur Verbesserung der Selbstwirksamkeit vorgestellt. Der zusammenfassende Epilog schließt die Darstellung des Themas ab.
Ab Seite 96 enthält das Buch einen Serviceteil, der eine kurze Biografie sowie ein Stichwortverzeichnis umfasst.
Inhalt
Die auf Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) nimmt inzwischen nicht nur im Bereich der Pädagogik, Psychologie und Kinder- und Jugendpsychiatrie einen großen Raum ein, sondern eroberte in den letzten zehn Jahren auch die Buchregale der Ratgeber für Erwachsene. „ADHS: Himmelweit und unter Druck“ ist in diesem Kontext nur eine Veröffentlichung unter zahlreichen anderen, wiewohl mit einem zentralen Gegenstand: Stress und Stressbewältigung.
Das Buch beginnt nach einem Vorwort sowie der Vorstellung der beiden Autorinnen mit einem konstruierten Fallbeispiel, das jedoch sehr realistisch geschildert wird und auf die häufig kolportierten Klischees der ADHS im Erwachsenenalter, unter anderem ein generalisiertes berufliches und soziales Scheitern, verzichtet.
Die im ersten Teil des Buches vermittelte Theorie zu ADHS und Stress entfaltet sich in einem Dialog zwischen der ca. 45 Jahre alten Patientin und ihrem Therapeuten. Anny, Betriebswirtin, ehemals selbstständig und in ihrem zweiten Beruf als Sozialpädagogin tätig, hat zwei Kinder an der Schwelle zum Erwachsenwerden: einen Sohn, der gerade das Abitur ablegt, sowie eine etwas jüngere Tochter am Anfang ihrer Berufsausbildung. Die fiktive Klientin des Therapeuten ist weder arbeits- noch mittellos, weder ein Treibauf noch eine sozial isolierte Verliererin. Ihre Probleme sind Alltagsprobleme, die jedoch, bekommt man sie nicht in den Griff, eine Tendenz zur Eskalation haben. Die ADHS wurde für sie zunächst in der Auseinandersetzung mit den schulischen Problemen ihrer Tochter bewusst. Anny geht es nicht um eine psychiatrische Rettung in letzter Minute, sondern um Hilfen zur Bewältigung ihres Lebensalltags, ihrer Ablenkbarkeit und Motivationslosigkeit in Angelegenheiten, die sie langweilen und die dennoch wichtig sind, ihre Gefühlsschwankungen und ihre Unberechenbarkeit in der Gemeinschaft mit anderen.
Dem Fallbeispiel folgt ein längeres Unterkapitel zur Einführung in die Grundlagen der ADHS. Auch diese Darstellung folgt dem Dialogprinzip einer fragenden Klientin und des erklärenden Therapeuten. Die Beschreibung der Symptomatik ist dabei wissenschaftlich korrekt und geht über die Aufzählung der Symptome in den beiden gängigen Diagnosemanualen DSM-5 und ICD-10 hinaus. Gleichfalls Bestandteil des Unterkapitels ist eine Übersicht von Beratungsmöglichkeiten und Interventionsangeboten diesseits der Medikation, die von den Autorinnen im Vorwort fälschlicherweise als im Erwachsenenalter nicht verfügbar bezeichnet wird. Die kurzen Abschnitte zur kognitiven Verhaltenstherapie, dialektisch-behavioralen Therapie, zu metakognitiven Therapieansätzen, Mindfulness-Meditation-Training, Biofeedback und Neurofeedback sowie Stressbewältigungstrainings sind als rudimentäre Einführung informativ, erklären jedoch weder die spezifische Funktionsweise der jeweiligen Intervention noch den mit ihnen verbundenen Aufwand sowie die auf diese Weise realistisch erreichbaren Ziele.
Im zweiten Kapitel des Theorieteils, mit „Stress“ überschrieben, referieren die Autorinnen grundlegende psychologische Stresskonzepte, wobei sie historische Modelle wie das „Allgemeine Anpassungssyndrom“ von Hans Seyle aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts mit modernen Ansätzen und Forschungsbefunden verbinden. Vergleichbar dem ersten Kapitel zur ADHS enthält das Kapitel zum Stress basale Hinweise für eine günstige Stressbewältigung wie Faktoren eines gesunden Schlafs, Ausgleichsaktivitäten für Alltagsbelastungen sowie eine Übersicht von Entspannungsverfahren. Darüber hinaus werden sinnvolle Konzepte wie das Modell der internalen Kontrollüberzeugung von Rotter oder die Selbstwirksamkeitserwartung nach Bandura vorgestellt. Schließlich nimmt das Konzept des sogenannten Flow des amerikanischen Psychologen Mihály Csíkszentmihályi am Ende des zweiten Kapitels einen größeren Raum ein, da es in Abgrenzung vom sogenannten Hyperfokus im Kapitel 3 nochmals aufgegriffen wird.
Kapitel 3 widmet sich unter dem Titel „Himmelweiter Hyperfokus“ einem Phänomen aus der klinischen Praxis der ADHS. Mit Hyperfokussierung wird eine Verhaltenstendenzen von ADHS-Betroffenen bezeichnet, die ungeachtet ihrer ansonsten hohen Ablenkbarkeit unter weitgehender Ausblendung von Umweltreizen einer für sie interessanten Sache zugewandt sind. Horlitz und Schütz führen dabei kurz in das Konzept des über Hyperfokus ein und nennen Faktoren seines Entstehens wie die hohe persönliche Relevanz von Inhalten, der explorative Charakter von Themen, welcher die Neugierde bedient, das Gefallen von ADHS-Betroffenen an komplexen und veränderbaren Zusammenhängen sowie die Aspekte von Kreativität und Autonomie, die dem eigenständigen und sprunghaften Denken bei ADHS entgegenkommen. Am Ende des dritten Kapitels erfolgt eine inhaltliche Abgrenzung von Hyperfokus und Flow-Erleben.
Der zweite Teil des Buches umfasst gleichfalls drei Kapitel sowie einen Epilog. Kapitel 4, „Von der Theorie zur Praxis – Ziele für die Anwendung“ überschrieben, widmet sich zunächst der Zielsetzung eines Handbuches oder Ratgebers wie dem vorliegenden zur Stressbewältigung. Dabei werden die Schritte von der Reflexion der Stressgefährdung über die Reflexion der eigenen ADHS-Betroffenheit und dem Aufbau von Bewältigungsstrategien bis hin zur Stärkung des Selbstwertes dargelegt. Kapitel 5 widmet sich sodann zentral der Stressbewältigung. Beide Kapitel enthalten Übungsblätter, die von den Lesern zur Reflexion und für Notizen genutzt werden können.
Kapitel 6 versucht schließlich unter der Überschrift „ADHS-Spezifik“ eine Übertragung der Erkenntnisse aus den vorherigen Kapiteln auf nützliche Strategien zur Alltagsbewältigung bei ADHS. Gegenstand des Kapitels sind Strategien des Selbst- und Zeitmanagements, darunter der Tages- und Selbststrukturierung, der Gestaltung von Partnerschaft, Familie und Sozialkontakte, des Selbstmanagements in Beruf und Karriere, die Gestaltung von Hobbys und Freizeit mit dem Ziel eines über die Alltagsbelastung hinausgehenden Lebensinhalts sowie die Aufrechterhaltung einer guten körperlichen Verfassung. Darüber hinaus werden Techniken der Prioritätensetzung, der Ressourcenaktivierung, des Grenzsetzens und Nein-Sagens, der emotionalen und kognitiven Selbststrukturierung sowie zur Verbesserung der Selbstwirksamkeit vorgestellt. Auch dieses Kapitel enthält mehrere Arbeitsblätter.
Der Epilog in Kapitel 7 enthält eine Zusammenfassung der Inhalte des Buches sowie ihrer Nutzbarmachung durch den Leser. Das Kapitel ist in Ich-Form verfasst, als ob Anny aus dem Fallbeispiel im ersten Teil des Buches einen Brief an den Leser schreibt. Sie formuliert dabei die Erkenntnisse, die der Leser nach dem Willen der Autorinnen durch die Lektüre des Buches am Ende gewonnen haben sollte, als Einsicht und Programm von Anny mit einem hohen Identifikationspotenzial für den Leser.
Diskussion
Das kurze, klar strukturierte und in seinen Ratschlägen alltagsnahe Buch der Autorinnen Tina Horlitz und Astrid Schütz ist ein sowohl nützlicher als auch für ADHS-Betroffene nutzbarer, da knapper und übersichtlicher Ratgeber zur Stressbewältigung. Die ADHS-Spezifität des Werkes resultiert dabei weniger aus dem Postulat einer besonderen Disposition der ADHS-Betroffenen zu Überforderung und Stress als vielmehr aus den Bedingungen der Stressbewältigung vor dem Hintergrund von Unaufmerksamkeit, Unruhe und Impulsivität. Dabei verwischen die Autorinnen jedoch bisweilen die Grenze zwischen ADHS-Symptomatik und ADHS-Ätiologie, indem sie die emotionalen Stressreaktionen mit ADHS-Symptomen gleichsetzen. In der Folge entsteht daraus an manchen Stellen des Buches (vgl. Seite 27) der Eindruck, als seien Unruhe, Ungeduld und Impulsivität das Resultat einer Stressreaktion, nicht aber primäre Verhaltenskennzeichen der ADHS selbst.
Diese Sichtweise hat zur Konsequenz, dass die Autorinnen einige Schlussfolgerungen ziehen und diese verallgemeinern, die so in ihrem Zutreffen auf ADHS-Betroffene fraglich sind. Während nicht von der ADHS betroffene Menschen unter Stressbelastung i.d.R. nervöser, fahriger und unkoordinierter werden, führt bei ADHS-Betroffenen das Erleben von großem Druck im Gegenteil zu einer Beruhigung und Fokussierung auf die notwendigen Aufgaben. Der Stress übernimmt dabei die Funktion eines Filters und Motivators, in dem das Erleben von Druck – nicht zuletzt durch äußere Grenzen, seien sie zeitlicher oder materieller Natur – zu einer Einengung und damit Fokussierung der Aufmerksamkeit führt. Viele ADHS-Betroffene schildern, dass sie notwendige Aufgaben erst dann konsequent zu Ende bringen können, wenn der subjektiv empfundene Druck einen Maximalpunkt erreicht hat und das zu Erledigende auf diese Weise zum primären Reiz wird, der alles andere aus dem Denken verdrängt, das zuvor nicht willentlich beiseitegelegt werden konnte. In diesem Sinne ist Stress für ADHS-Betroffene bisweilen eher die Therapie als das Problem.
Sinnvoll und in ihrer Darstellung überwiegend nützlich ist sowohl die Übersicht der Interventionsstrategien bei ADHS als auch die Liste von Techniken zur Stressbewältigung. Zu den in Kapitel 2 aufgeführten Entspannungsverfahren ist anzumerken, dass Techniken wie die „Progressive Muskelrelaxation“ (PMR) von vielen ADHS-Betroffenen als nur eingeschränkt hilfreich erlebt werden, da der Wechsel zwischen Anspannung und Entspannung häufig nicht gelingt. Tendenziell sind für ADHS-Betroffene solche Entspannungsverfahren hilfreicher, die durchgängig für einen hinreichend großen Zeitraum auf Ruhe und Erholung abzielen. Wenngleich nur wenige Zeilen umfassend ist der Absatz zum gesunden Schlaf eine sinnvolle Mahnung an die ADHS-Betroffenen, im Erwachsenenalter nicht fortzusetzen, was bereits im Kindesalter zu Ein- und Durchschlafproblemen führte. In diesem Sinne sollten sich die Betroffenen immer wieder vergegenwärtigen, dass Schlaf vor allem dann gelingt, wenn regelmäßige Schlafens- und Aufstehzeiten eingehalten werden und eine angenehme Schlafumgebung (dunkel und kühl) geschaffen wird. Der Rat, persönliche Einschlafrituale zu etablieren, ist grundsätzlich gut, doch sollte nach Möglichkeit nicht nur aufs Fernsehschauen, sondern auch auf das Hören von Hörspielen und Musik verzichtet werden; Lesen vor dem Einschlafen ist weitaus sinnvoller.
Fazit
„ADHS: Himmelweit und unter Druck“ von Bettina Rochlitz und Astrid Schütz ist ein brauchbares Buch für Laien zur Stressbewältigung – nicht nur, aber auch bei ADHS. Es ist gut verständlich geschrieben und verzichtet auf umfangreiche wissenschaftshistorische Darlegungen sowie die Wiedergabe komplexer neurophysiologischer Modelle von Stress und ADHS. Die im Buch enthaltenen Arbeitsblätter sind hilfreich. In Form und Inhalt kann das Buch sowohl als eine gute Einführung in die gedankliche Auseinandersetzung mit Stress als auch zur Grundlage diesbezüglicher Erwägungen im Rahmen einer Therapie dienen.
Was das Buch nicht leistet und mutmaßlich auch im Sinne seine Autorinnen nicht leisten soll, ist eine Einführung in die ADHS, ihre Symptomatik, ihre Diagnose und Behandlung. Die von Horlitz und Schütz zusammengestellten Tipps beziehen sich erklärtermaßen auf die Bewältigung von Stress im Lebensalltag. Sie sind kein Therapieleitfaden für die Behandlung der ADHS, da sie nur ein sehr eingeschränktes Interventionsfeld betreffen und zentrale Aspekte des Lebens mit der Störung, aber auch seiner Adressierung (u.a. familiäre Häufung, neurophysiologische Bedingungen, Entwicklungsaspekte, Medikation und Selbsthilfe) nicht berücksichtigen.
Positiv hervorzuheben ist der Aufbau des ersten Teils als Dialog zwischen der Patientin des Fallbeispiels und ihrem Therapeuten. Dabei hebt sich insbesondere das Fallbeispiel selbst erfreulich von den Darstellungen sowohl in die ADHS anerkennenden als auch ihr kritisch gegenüberstehenden Fachbüchern und Ratgebern ab. Die kurze Geschichte der Anny zeigt eine Frau (obwohl die Symptomatik der ADHS vor allem mit Jungen und Männern in Verbindung gebracht wird), die sowohl in ihrer Schulausbildung als auch beruflichen Tätigkeit erfolgreich war und noch ist (in Abgrenzung vom Klischee des beruflichen wie sozialen Außenseiters, als welcher der ADHS-Erwachsene oft präsentiert wird, sich nicht wenige Betroffene jedoch auch selbst inszenieren), jedoch einen subjektiven Leidensdruck empfindet, der mehr ist als eine verschobene oder projizierte Symptomatik des Leidens an falschen Lebensbedingungen. Selbst die Kinder von Anny sind entgegen der konventionellen Wahrnehmung der ADHS besetzt, ist doch der ältere Sohn ein erfolgreicher Schüler, die jüngere Tochter hingegen von der ADHS betroffen.
Die positiven Aspekte des Buches lassen daher die wenigen, zum Teil auch dem Konzept des Werkes geschuldeten Nachteile in den Hintergrund treten. „ADHS: Himmelweit und unter Druck“ ist kein ADHS-Ratgeber und bietet nur eine zwar korrekte, jedoch rudimentäre Darstellung der ADHS-Symptomatik und ihrer Folgen. Vieles wird nur angerissen, nicht jedoch ausgeführt. Das macht das Buch zu einem handlichen Ratgeber für interessierte Laien, die etwas über Stress und Stressbewältigung erfahren wollen, nicht nur für ADHS-Betroffene. Ungeachtet des 6. Kapitels, dass eine „ADH-Spezifik“ versucht, ist es letztlich ein Self-Improvement-Werk für alle, die sich dafür interessieren, wie sie die Stressoren ihres Alltags reduzieren, vor allem aber besser auf diese reagieren können. Insgesamt ein empfehlenswertes Buch.
Rezension von
Dr. Johannes Streif
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