Abhijit Banerjee, Esther Duflo: Poor Economics
Rezensiert von Prof. Dr. Uwe Helmert, 01.10.2015
Abhijit Banerjee, Esther Duflo: Poor Economics. Plädoyer für ein neues Verständnis von Armut. btb Verlag (München) 2015. 384 Seiten. ISBN 978-3-442-74975-1. D: 11,99 EUR, A: 12,40 EUR, CH: 17,90 sFr.
Thema
Alle Konzepte für den Kampf gegen Hunger und Armut können nicht greifen, wenn sie auf falschen Annahmen beruhen. Die beiden AutorInnen reisen in arme Länder und untersuchen mithilfe von Zufallsexperimenten und Kontrollgruppen, eigentlich einer naturwissenschaftlichen Methode, was gegen Hunger, Armut und Misswirtschaft wirklich hilft und was nicht. Ihre Studien decken reihenweise Widersprüche auf und sorgen international für Kontroversen.
Autor und Autorin
- Abhijit V. Banerjee, geboren 1961 in Kalkutta, ist Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und berät die Weltbank und die indische Regierung
- Esther Duflo, geboren 1972 in Paris, ist Professorin für Ökonomie am MIT
Aufbau ...
Das Buch ist in die folgenden zehn Kapitel untergliedert:
- Einmal mehr nachdenken
- Eine Milliarde hungernder Menschen
- Gute Chancen auf mehr Gesundheit
- Von Schulen und Klassen
- Pak Sudarnos Großfamilie
- Barfüßige Hedgefonds-Manager
- Männer aus Kabul und Eunuchen aus Indien
- Sparen – Stein für Stein
- Widerwillige Unternehmer
- Politik im Großen und im Kleinen
… und ausgewählte Inhalte
Zu Kapitel 2
Für viele im Westen ist Armut gleichbedeutend mit Hunger. Festgeschrieben ist die Assoziation zwischen Armut und Hunger beispielsweise in den ersten der Millenniums-Entwicklungsziele der Vereinigten Nationen: „Extreme Armut und Hunger beseitigen“. Oft weigern sich die Armen aber, die wunderbaren Pläne, die wir für sie ausgedacht haben, umzusetzen. Ein Erklärung für ihre Essgewohnheiten ist, dass den Armen andere Dinge im Leben wichtiger sind als das Essen. Bekanntermaßen geben Arme in Entwicklungsländern relativ viel Geld für Hochzeiten, Mitgift und Tauffeiern aus, wahrscheinlich aus dem Bedürfnis heraus, weil sie vor anderen das Gesicht wahren wollen. Jeder weiß, wie kostspielig indische Hochzeiten sind. Die sozialen Normen, wie viel man für ein Begräbnis ausgeben muss, stammen in Südafrika aus einer Zeit, als die meisten Toten entweder Kleinkinder oder Greise waren.
Der soziale Druck ist aber nicht der einzige Grund für die Entscheidung, Geld für etwas anderes als essen auszugeben. Die AutorInnen trafen in einem abgelegenen marokkanischen Dorf einen Bewohner und fragten ihn, was er tun würde, wenn er mehr Geld hätte. Er sagte, er würde mehr Nahrungsmittel kaufen. Dann wurde er gefragt, was er tun würde, wenn er noch mehr Geld hätte. Er sagte, er würde besser schmeckende Nahrungsmittel kaufen. Die AutorInnen hatten großes Mitleid mit ihm und seiner Familie, bis sie in dem Raum, in dem sie saßen, einen Fernseher, einen DVD-Spieler und eine Satellitenantenne entdeckten. Er wurde gefragt, warum er all diese Dinge gekauft habe, wenn er glaubte, seine Familie habe nicht genug zu essen. Da lachte er und sagte: „Ach, Fernsehen ist wichtiger als Essen“. Nachdem die AutorInnen einige Zeit in dem marokkanischen Dorf gelebt hatten, verstanden sie, warum er so dachte: Das Leben in einem solchen Dorf kann sehr langweilig sein.
Das menschliche Bedürfnis nach ein paar Vergnügungen könnte erklären, warum die Ausgaben für Nahrungsmittel in Indien zurückgegangen sind. Fernsehgeräte erreichen heute die abgeschiedensten Weltgegenden. Mobiltelefone funktionieren beinahe überall, und an internationalen Standards gemessen sind die Tarife spottbillig. Das könnte auch erklären, warum Länder mit einer großen Binnenwirtschaft, wie Indien und Mexiko, wo viele Konsumgüter billig verkauft werden, oft auch Länder sind, in denen man wenig Geld für Nahrungsmittel ausgibt.
Zu Kapitel 3
Im Gesundheitsbereich begegnet uns Vielversprechendes, aber auch tiefe Frustation. Man hat den Eindruck, dass die Chancen vielerorts nicht schlecht stehen: Von Impfstoffen bis hin zu Malarianetzen reichen die Vorbeugungsmaßnahmen, die für wenig Geld viele Leben retten – aber kaum jemand nutzt sie. Staatliche Gesundheitshelfer, die in den meisten Ländern für die Basisgesundheitsversorgung sorgen sollen, werden oft für dieses Versagen verantwortlich gemacht. Ein Beispiel: Im Winter 2005 nahmen die AutorInnen in Udaipur, eine Stadt im Westen Indiens, an einer lebhaften Diskussion mit staatlichen Krankenschwestern teil. Sie waren ziemlich aufgebracht, weil sie an einem Projekt mitmachen sollten, dass die Krankenschwestern dazu bewegen sollte, öfter zur Arbeit zu kommen. Im Verlaufe der Diskussion geriet eine von ihnen so außer sich, dass sie mit der Wahrheit herausrückte: Ihre Arbeit sei sowieso völlig sinnlos, verkündete sie. Wenn ein Kind mit Durchfall zu ihnen käme, hätten sie der Mutter nichts weiter zu bieten als ein Päckchen WHO-Trinklösung (oral rehydration solution, ORS), eine Mischung aus Kochsalz, Kaliumchlorid und einem Antazidum, die in Wasser aufgelöst und dem Kind verabreicht werden muss. Die meisten Mütter glauben jedoch nicht, dass diese Trinklösung den Kindern hilft. Sie wollen eine „richtige Behandlung“, und das ist für sie ein Antibiotikum oder eine Infusion. Eine Mutter, die sie nur mit einem Päckchen Trinklösung aus dem Gesundheitszentrum wegschickten, käme garantiert nie wieder. Jedes Jahr sehen die Krankenschwestern unzählige Kinder,die an Durchfallerkrankungen stürben, aber sie fühlten sich unsagbar hilflos. Die Armen in Udaipur scheinen sich in jeder Hinsicht für die teuere Alternative zu entscheiden: Teure Heilbehandlung statt preiswerter Vorsorge, privat zu zahlende Doktoren statt kostenloser staatlicher Krankenschwestern und Ärzte.
Die missbräuchliche Anwendung von Antibiotika erhöht die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten resistenter Bakterienstämme. Dies gilt ganz besonders, wenn die Ärzte – um ihrem Patient Geld zu sparen – die Behandlung nicht so lange durchführen wie eigentlich erforderlich. In allen Entwicklungsländern beobachten wir derzeit eine Anstieg der Antibiotikaresistenzen. Falsche Dosierungen und schlechte Befolgung der ärztlichen Anwendungen seitens der Patienten haben in mehreren afrikanischen Ländern zum Auftreten von Malariaerregern geführt, die gegen die gängigen Malariamittel resistent sind, was einem Desaster für das Gesundheitswesen gleichkommt.
Insgesamt scheinen die Armen im Hinblick auf die Gesundheit mit denselben Problemen zu kämpfen, wie alle anderen auch: Informationsmangel, schwache Überzeugungen und dazu ein Hang zum Aufschieben. Unser ganz großer Vorteil in den reicheren Ländern sind all die Dinge, die wir für selbstverständlich halten. Wir bekommen Trinkwasser über Rohrleitungen direkt in Haus geliefert, keiner muss daran denken, morgens Chlor in den Wasserbehälter zu schütten. Das Abwasser verschwindet einfach, meistens wissen wir gar nicht, wie und wohin. Wir können uns im Großen und Ganzen darauf verlassen, dass unsere Ärzte das Menschenmögliche tun und dass unser Gesundheitssystem die richtigen Ratschläge für uns bereithält. Wir müssen unsere Kinder impfen lassen (zumindest in den USA), sonst weigern sich die öffentlichen Schulen, sie aufzunehmen. Wir sollten anerkennen, dass niemand weise und geduldig genug ist (und allwissend schon gar nicht), um voll verantwortlich die richtigen Entscheidungen für seine Gesundheit zu treffen. Die Menschen in den reichen Ländern leben in einer Umgebung voller unsichtbarer Anstöße von außen. Aus diesem Grund sollte es das vordringlichste Ziel einer Gesundheitspolitik in armen Ländern sein, Vorsorgemaßnahmen so leicht erreichbar wie möglich zu machen; gleichzeitig muss die Qualität der Heilbehandlungen verbessert werden. Sinnvoll ist es, die Vorsorgeleistungen – wann immer möglich – als Standardlösung einzurichten. Man sollte Chlorspender in der Nähe von Brunnen aufstellen. Eltern sollten für die Impfung ihrer Kinder belohnt werden, Kinder sollten in den Schulen kostenlos Wurmmittel und Nahrungsergänzungen erhalten und der Staat sollte in die Verbesserung der Wasserversorgung und der sanitären Einrichtungen investieren.
Das klingt insgesamt ziemlich bevormundend und ist es in gewisser Weise sicher auch. Aber man macht es sich mit Sicherheit zu leicht, wenn man von heimischen Sofa aus, mit den Bequemlichkeiten einer funktionierenden Wasser- und Gesundheitsversorgung im Rücken, über das Übel der Entmündigung und die Notwendigkeit, Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, philosophiert. Profitieren wir im reichen Westen nicht ständig von den Vorteilen einer Bevormundung, die so allgegenwärtig ist, dass wir sie kaum bemerken? Sie sorgt nicht nur dafür, dass wir besser auf uns achtgeben, als wir es täten, wenn wir jede einzelne Entscheidung selbst treffen müssten, sie befreit uns auch davon, ständig über diese Dinge nachdenken zu müssen: dadurch erhalten wir geistigen Freiraum, in dem wir uns auf andere Aspekte des Lebens konzentrieren können. Wir schulden jedem, auch jedem Armen, eine verständliche Erklärung, warum Impfen wichtig ist und weshalb Antibiotika über eine ganz bestimmte Zeit hin genommen werden müssen. Aber wir müssen auch einsehen, dass Information nicht alles ist. Das gilt für die Armen ebenso wie für uns.
Zu Kapitel 10
Es gibt keine Patentlösung: Wirtschaftswissenschaftler und andere Experten können offensichtlich wenig Substanzielles dazu sagen, warum manche Länder sich positiv entwickeln und andere nicht. Scheinbar hoffnungslose Fälle wie Bangladesch und Kambodscha blühen wundersamer Weise auf, während frühere Aushängeschilder wie die Elfenbeinküste absinken. Rückblickend lässt sich dagegen immer eine Erklärung finden, warum in welchem Land welche Entwicklung eingetreten ist. Ehrlicherweise müssen wir aber zugeben, dass wir meistens nicht in der Lage sind, vorherzusagen, wo es zu einem Aufschwung kommen wird, bzw. zu erklären, warum die Dinge plötzlich aus dem Ruder laufen. Da Wirtschaftswachstum nur mit vereinten Kräften von Körper und Geist zu machen ist, erscheint es plausibel, dass, nachdem die Initialzündung gegeben ist, die Dinge erst dann richtig ins Laufen kommen, wenn Männer und Frauen ordentlich ausgebildet, gut ernährt und gesund sind, wenn sich Bürger sicher und zuversichtlich genug fühlen, um in ihre Kinder zu investieren und sie ziehen lassen, damit sie die neuen Jobs in der Stadt annehmen. Wenn man dagegen zulässt, dass sich Elend und Verzweiflung ausbreiten, dass Wut und Gewalt die Oberhand gewinnen, dann findet die Initialzündung vielleicht nie statt. Eine funktionierende Sozialpolitik, die desillusionierte Menschen davon abhält, alles hinzuwerfen, könnte ein wichtiger Schritt sein, damit ein Land diesen unbestimmten Zeitpunkt nicht verpasst.
Obwohl wir kein Wundermittel oder eine Patentlösung zur Beseitigung der Armut besitzen, kennen wir doch eine ganze Reihe von Maßnahmen, mit denen sich das Leben der Armen verbessern lässt. Fünf zentrale Aspekte spielen dabei eine Rolle:
- Armen fehlen oft wichtige Informationen und sie glauben Dinge, die nicht richtig sind. Sie zweifeln am Nutzen von Impfungen, sie halten das, was man in den ersten Schuljahren lernt, für unwichtig, sie wissen nicht, wie viel und welchen Dünger sie verwenden müssen, sie wissen nicht, wie schnell man sich mit HIV ansteckt, und sie haben keine Vorstellung davon, was ihre Politiker machen. Wir kennen viele Beispiele, wie mit ein wenig Information viel verändert werden kann. Aber nicht jede Informationskampagne ist erfolgreich. Damit sie funktioniert, muss eine solche Kampagne mehrere Bedingungen erfüllen: Sie muss etwas Neues mitteilen, sie muss einfach formuliert und interessant verpackt sein (etwa Film, Theater, eine Fernsehsendung oder ein gut gemachter Bericht). Die Information muss aus einer vertrauenswürdigen Quelle kommen. Eine logische Folge dieser Auffassung ist, dass Regierungen massiv an Vertrauen verlieren, wenn sie irreführende, verwirrende oder falsche Verlautbarungen abgeben.
- Arme müssen sich um zu viele Bereiche ihres Lebens selbst kümmern. Je reicher man ist, desto mehr mehr Entscheidungen werden einem abgenommen.
- Es gibt nachvollziehbare Gründe, warum manche Märkte den Armen nicht offen stehen. Manchmal führen Innovationen dazu, dass sich ein Markt für Arme entwickeln kann, wo vorher keiner war. Das trifft auf die Mikrokredite zu, die es Millionen armer Menschen ermöglicht, Kleinkredite zu bezahlbaren Raten aufzunehmen.
- Arme Länder sind nicht allein deshalb zum Scheitern verurteilt, weil sie arm sind oder weil sie auf eine unselige Vergangenheit zurückblicken. Viele Versäumnisse der Vergangenheit haben aber weniger mit einer großen Verschwörung der um ihre Pfründe besorgten Eliten zu tun als mit vermeidbaren Schwächen in den Details der Maßnahmen und den allgegenwärtigen „Drei I“: Ideologie (zementierte Vorstellungen), Ignoranz (Unwissenheit) und Inertia (Trägheit).
- Und schließlich sind da noch die Erwartungen, was wer zu leisten vermag und was nicht. Nur allzu oft verwandeln sich diese aber in sich selbst erfüllende Prophezeiungen. Das wichtigste an Erwartungen ist, dass Erfolg oft zum Selbstläufer wird. Sobald sich eine Situation verbessert, wirkt sich die Verbesserung auf Überzeugungen und Verhalten aus.
Trotz dieser fünf Eckpunkte sind wir weit davon entfernt, alles zu wissen, was man wissen könnte und sollte. In gewisser Weise ist dieses Buch nur die Aufforderung, genauer hinzusehen.Wenn man das träge, schematische Denken aufgeben, das jedes Problem auf die gleichen allgemeinen Prinzipien reduziert, wenn wir den Armen richtig zuhören und uns bemühen, die Logik ihrer Entscheidung zu verstehen, dann werden wir nicht nur in der Lage sein, effektive Maßnahmen zu entwickeln, sondern auch besser verstehen, warum die Armen so leben, wie sie leben. So mit Geduld und Verständnis gewappnet, können wir Armutsfallen entdecken, wo wirklich welche sind, und herausfinden, welche Werkzeuge wir einsetzen müssen, um den Armen aus diesen Fallen herauszuhelfen.
Diskussion
Den AutorInnen ist es sehr gut gelungen, durch ihre vielfältigen persönlichen Erkundungen und Diskussionen vor Ort zu veranschaulichen, wie wichtig es ist, mit den von extremer Armut Betroffenen in vielen Ländern zu sprechen, um zu verhindern, dass weiterhin weitab geplante Kapangnen zur Bekämpfung von Armut und Hunger in den ärmsten Ländern der Welt in einer Top-Down-Strategie lanciert werden, die sich sehr oft als relativ wirkungslos oder sogar kontraproduktiv erwiesen haben.
Zielgruppen
Zielgruppen sind Ökonomen und Akteure in der Entwicklungshilfepolitik und LeserInnen, die Interesse an einem neues Verständnis der Armut in der Welt haben.
Fazit
Das Buch ist ein Plädoyer für ein neues Verständnis von Armut.
Alle Konzepte für den Kampf gegen Hunger und Armut in der Welt können nicht greifen, wenn sie auf falschen Annahmen beruhen. Die beiden AutorInnen reisten in arme Länder und untersuchen mithilfe von Zufallsexperimenten und Kontrollgruppen, was gegen Hunger, Armut und Misswirtschaft wirklich hilft und was nicht. Ihre Studien decken reihenweise Widersprüche auf und sorgen international für Kontroversen.
Rezension von
Prof. Dr. Uwe Helmert
Sozialepidemiologe
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Zitiervorschlag
Uwe Helmert. Rezension vom 01.10.2015 zu:
Abhijit Banerjee, Esther Duflo: Poor Economics. Plädoyer für ein neues Verständnis von Armut. btb Verlag
(München) 2015.
ISBN 978-3-442-74975-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18934.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
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