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Karl Heinz Brisch: Kindergartenalter

Rezensiert von Dr. Hans Hopf, 05.06.2015

Cover Karl Heinz Brisch: Kindergartenalter ISBN 978-3-608-94830-1

Karl Heinz Brisch: Kindergartenalter. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2015. 216 Seiten. ISBN 978-3-608-94830-1. 23,95 EUR.

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Thema

Bindung ist ein emotionales Band, das zwei Menschen über Raum und Zeit sehr spezifisch miteinander verbindet. In jedem kleinen Kind ist biologisch angelegt, dass es sich eine Bindungsperson sucht, die es schützt, pflegt, bei der es sich geborgen fühlt und die es in eine große, oftmals kalte Welt begleitet. Das wesentliche Entwicklungsziel soll darum eine sichere Bindung sein. Dieses Buches möchte dabei helfen, die Bindung zwischen Kindergartenkind und weiteren Bezugspersonen zu stärken.

Autor

Karl Heinz Brisch, Dr. med. habil, ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychoanalytiker für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Er leitet eine Abteilung für Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie. Mittlerweile ist er wohl der bekannteste Bindungsforscher in Deutschland und hat eine Vielzahl von Artikeln und Büchern publiziert.

Entstehungshintergrund

Mit seinem Buch ‚Bindungsstörungen‘, inzwischen ist es in der 13. Auflage erschienen, hat Brisch die Psychoanalyse gleichsam mit der Bindungstheorie wieder versöhnt und diese zu einem wesentlichen Bestandteil des psychodynamischen Denkens gemacht. Mittlerweile werden Bindungsverhalten und Bindungsstörungen von fast allen psychodynamisch arbeitenden Psychotherapeuten beachtet, reflektiert und in ihre therapeutische Arbeit einbezogen. Im Mittelpunkt dieses Buches steht bindungsbasierte Beratung und Therapie, im Folgenden kurz ‚Bindungspsychotherapie‘ genannt. Diese ist keine eigenständige Therapiemethode. Brisch geht es vielmehr darum, generell eine bindungsorientierte Sichtweise in Diagnostik und Behandlung aufzunehmen. Das Buch ist darum für alle Psychotherapeuten wichtig, weil Bindungspsychotherapie mit sehr unterschiedlichen Therapieschulen und Methoden kombiniert und in sie integriert werden kann.

Aufbau

  1. Im ersten Teil beschreibt Brisch fünf Phasen der Bindungspsychotherapie, wie sie von allen Therapieformen übernommen werden könnten. In diesem Buch geht er vor allem auf spezielle Grundlagen von Eltern mit Kindern im Kindergartenalter ein. Ein wichtiger Abschnitt ist in diesem Zusammenhang die transgenerationale Weitergabe von elterlichen Erfahrungen an Kindergartenkinder.
  2. Im zweiten Teil geht der Autor auf die Bindungsentwicklung im Kindergartenalter ein und beschreibt sowohl die gesunde Entwicklung als auch die Bindungsstörungen.
  3. Der größte und auch wichtigste, ist Teil drei: Hier werden vierzehn Behandlungsbeispiele mit den unterschiedlichsten Störungsbildern beschrieben, von exzessiven Wutanfällen bis zur Geschwisterrivalität.
  4. In Teil vier beschreibt der Autor seine von ihm entwickelte Feinfühligkeits- und Empathieschulung im Kindergarten, kurz „B.A.S.E“ genannt. Sie verfolgt das Ziel einer sekundären Prävention von aggressiven und ängstlichen Verhaltensstörungen bei Kindergartenkindern, um eine bessere Feinfühligkeit und Empathiefähigkeit zu erreichen.
  5. Teil fünf enthält eine Zusammenfassung und einen Ausblick.

Ausgewählte Inhalte

Im Folgenden will ich einige mir besonders bedeutsame Bereiche herausgreifen.

Eine sichere Bindung ist das stabile Fundament jeder Persönlichkeit. Bis zum Erreichen des Kindergartenalters sollte ein Kind eine sichere Bindung zumindest zu einer Person entwickelt haben. Etwa 60 – 65 % aller Kinder entwickeln im ersten Lebensjahr eine sichere Bindung zu ihrer Mutter, an den Vater binden sich etwa 55 % sicher. Dies macht deutlich, dass Väter weniger psychisch präsent sind als Mütter, was nicht nur mit deren häufigeren räumlichen Abwesenheiten zu tun hat. Kinder mit einer sicheren Bindung können die positiven Erfahrungen einer sicheren Bindung z.B. zu ihrer Mutter, auf die Kindergartenerzieherin übertragen. Voraussetzungen sind Eingewöhnungsphasen, in denen die Mutter anfänglich anwesend ist und dass die Trennungen zunächst kleinschrittig sind. Anders ist das natürlich bei Kindern mit bindungsvermeidenden und bindungsambivalenten unsicheren Bindungsentwicklungen und deren Verhaltensweisen im Kindergarten. Ihre Eingewöhnung in den Kindergarten ist meist langwierig und schwierig, denn diese Kinder haben keine innere emotional sichere Bindungsrepräsentation entwickelt. In diesem Zusammenhang weist Brisch darauf hin, dass Erzieherinnen eng mit dem Jugendamt kooperieren sollten, wenn schwerwiegende Bindungsstörungen auftreten, die vor dem Hintergrund von großem Stress bis hin zu Gewalt, Vernachlässigung und Misshandlung entstanden sein können. Wichtig für Erzieherinnen ist auch die Kenntnis des desorganisierten Bindungsmusters mit seinen widersprüchlichen Botschaften. Die Bindungspersonen dieser Kinder haben sich unvorhersehbar, widersprüchlich, manchmal feinfühlig, manchmal gewalttätig und drohend verhalten. Solche Kinder werden nicht selten als Chaoten stigmatisiert. Häufig bekommen sie die Verdachtsdiagnose ADHS, später oft eine Medikation mit Methylphenidat.

Wie schon erwähnt, werden in Teil drei verschiedene Behandlungsbeispiele von Kindergartenkindern und ihren Eltern dargestellt und diskutiert. Dabei wird verständlich, wie Bindungsstörungen an der Entstehung der unterschiedlichsten Störungsbilder beteiligt sein können. Deutlich wird hierbei auch, dass die Bindungspersonen, in der Regel den Eltern, immer an der Entstehung von Störungen mitbeteiligt sind und in die Behandlung einbezogen werden müssen. Mit den Fallbeispielen will Brisch zeigen, wann und wo Bindungsperspektiven eine Rolle spielen und wie sie wirksam gemacht werden können.

Wie ist das beispielsweise bei exzessiven Wutanfällen? Beginnen Kinder mit der Autonomieentwicklung, so müssen sie in ihrem Drang und ihrer Neugier auch eingeschränkt werden. Die Frustration darüber bringen sie über Wutanfälle zum Ausdruck. Das Mitfühlen der Eltern, das Verbalisieren der Wut, hilft dem Kind, sich verstanden zu fühlen: „Die Wut wird ihm gespiegelt, wahrgenommen und wird auch gemeinsam mit ihm in einer schützenden, haltenden Bindungsbeziehung ausgehalten“ (S.62). Kommen Kinder in den Kindergarten, so können sie Wutanfälle zumeist schon selbst regulieren. In den Gruppen müssen sich Kinder mit vielen anderen Kindern auseinandersetzen, sie brauchen Kompromissbereitschaft und Empathie, um sich einzufühlen. Jetzt gehen Kinder in der Regel nicht mehr davon aus, dass ihre Bedürfnisse, Gefühle und Intentionen mit denen ihrer Spielkameraden identisch sind, denn sicher gebundene Kinder besitzen eine ausgeprägte und deutlich entwickelte – so genannte - „Mentalisierungsfähigkeit“. Sie können zwischen eigenen Gefühlen und denen der anderen Kinder unterscheiden. Die zuvor erwähnten bindungsdesorganisierten Kinder können sich in die Gefühle, Gedanken und Handlungsabsichten anderer überhaupt nicht hineinversetzen, was zu massiven Schwierigkeiten führen wird. Solche Kinder haben nur geringe oder gar keine Frustrationstoleranz. An einem Behandlungs-Beispiel wird verdeutlicht, welche Probleme dazu führen können: Etwa Väter, die sich entziehen, Mütter, die selbst vernachlässigt worden sind und körperliche Gewalt erlitten haben. Die eigenen negativen Bindungserfahrungen der Eltern können durch das Verhalten ihrer Kinder „getriggert“ werden und wie „Gespenster aus der Vergangenheit“ wieder auftauchen (S. 205). In allen vierzehn Behandlungsbeispielen werden darum sowohl gemeinsame Entwicklungsstörungen als auch unterschiedliche Ursachen erkennbar.

Diskussion

Während der ersten Lebensjahre ist die Bindungsentwicklung sehr störanfällig und durch viele Stressoren zu irritieren. In Folge kann Angst bei den Eltern entstehen, die bekanntlich ein sehr schlechter Beistand ist. Leserin und Leser erfahren in diesem Buch das Wichtigste über Bindung, Bindungsstörungen und ihre Behandlung von Kindern im Kindergartenalter. Am Beispiel verschiedener Störungsbilder wird zudem verdeutlicht, wie gestörte Bindung entscheidend zu deren Entstehung beitragen kann. Vor allem gelingt es Brisch, auf alle Ängste von Eltern einzugehen und aufzuzeigen, dass auch Fehlentwicklungen aufgefangen werden können, wenn rechtzeitig Beratung oder Therapie erfolgen.

Fazit

Das Buch ist in einer klaren, einfachen Sprache verfasst und verdient dennoch zu Recht die Bezeichnung ‚Fachbuch‘. Es gelingt Brisch durchgängig, auch schwierige psychologische Zusammenhänge darzustellen. Ich kenne nur wenige Bücher, die in Kürze so viele praktische Gedanken hinsichtlich einer Verbesserung des Bindungsverhaltens vermitteln, und die von den Beziehungspersonen und gleichzeitig von allen pädagogisch und therapeutisch arbeitenden Fachleuten übernommen werden können. Für Fachleute liefert dieses Buch eine Einführung in Bindungspsychotherapie, für Erzieher und Eltern eine überzeugende Darstellung von Störungsbildern. Es ist darum allen, die mit Eltern und Kindergartenkindern arbeiten und auf ihrem Entwicklungsweg begleiten, uneingeschränkt zu empfehlen.

Rezension von
Dr. Hans Hopf
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Zitiervorschlag
Hans Hopf. Rezension vom 05.06.2015 zu: Karl Heinz Brisch: Kindergartenalter. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2015. ISBN 978-3-608-94830-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18942.php, Datum des Zugriffs 10.09.2024.


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