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Friederike Wapler: Kinderrechte und Kindeswohl

Rezensiert von Prof. Dr. jur. Julia Zinsmeister, 21.10.2015

Cover Friederike Wapler: Kinderrechte und Kindeswohl ISBN 978-3-16-153375-4

Friederike Wapler: Kinderrechte und Kindeswohl. Eine Untersuchung zum Status des Kindes im Öffentlichen Recht. Mohr Siebeck (Tübingen) 2015. 631 Seiten. ISBN 978-3-16-153375-4. 119,00 EUR.

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Thema

Über das Wohl und die Rechte von Kindern und Jugendlichen und die Möglichkeit ihres effektiven Schutzes vor Vernachlässigung, Misshandlung, sexuellem Missbrauch und anderen Gefahren wird gegenwärtig viel gesprochen und geschrieben. In der Gesetzgebung und Verwaltung wurden in den vergangenen Jahren erhebliche Anstrengungen unternommen, den Rechten von Kindern und Jugendlichen mehr Geltung zu verschaffen und Kindeswohlgefährdungen effektiver zu begegnen. Doch was genau unter den Kinderrechten, dem Kindeswohl und dessen Gefährdung zu verstehen ist, blieb dabei oft vage. Welche Bedeutung haben das Recht auf Selbstbestimmung für ein dreijähriges Kind oder eine 15jährige Jugendliche? Verleiht es ihnen autonome Entscheidungsmacht oder eher einen Anspruch auf Schutz und Hilfe? Lässt sich das Wohl eines Kindes positiv bestimmen? In welchem Verhältnis stehen Kinderrechte zum Kindeswohl?

Diesen und anderen Fragen geht Friederike Wapler in ihrer fast 600 Seiten umspannenden, äußerst lesenwerten Untersuchung mit dem Titel „Kinderrechte und Kindeswohl“ aus öffentlich-rechtlicher und rechtsphilosophischer Perspektive nach. Unter Rückgriff auf die historische und soziologische Kindheitsforschung und zentrale Theorien der Pädagogik entwickelt sie ihre Theorie von der Entwicklung der kindlichen Selbstbestimmungsfähigkeit, die Minderjährigen einen Anspruch verleiht, an der Entscheidung über ihre eigenen Angelegenheiten in jede Lebensalter angemessen beteiligt und in ihren individuellen Belangen berücksichtigt zu werden.

Autorin

Privatdozentin Dr. Friederike Wapler zählt zu den profiliertesten deutschsprachigen Forscherinnen und Forschern auf dem Gebiet der Kinderrechte und des Kindeswohls. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften in Göttingen und Granada (Spanien) und ihrem Rechtsreferendariat lehrte und forschte sie ab 2003 am Lehrstuhl für Rechts- und Sozialphilosophie der Universität Göttingen und promovierte sich 2007 mit dem Thema "Werte und das Recht. Individualistische und kollektivistische Deutungen des Wertbegriffs im Neukantianismus." In „Kinderrechte und Kindeswohl“ handelt es sich um ihre 2013 eingereichte Habilitationsschrift.

Nach einer Vertretungsprofessur für Öffentliches Recht an der Universität Bayreuth übernahm sie 2014 die Entlastungsprofessur für Öffentliches Recht an der Goethe-Universität Frankfurt. Sie ist Mitautorin des SGB VIII-Kommentars von Reinhard Wiesner und hat sich als Geschäftsführerin der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen (2001-2003) und in einer Reihe von Aufsätzen und Expertisen mit spezifischen Fragen der Kinderrechte und des Kindeswohls auseinander gesetzt.

Aufbau

Das Buch umfasst vier Teile.

Zum 1. Teil

Wapler beginnt den ersten Teil ihrer Untersuchung mit einer einleitenden Darstellung der Bedeutung der Begriffe des Kindeswohls im Öffentlichen Recht und der Rechtsphilosophie und arbeitet die verschiedene Dimensionen des Begriffs der Kindheit heraus (Kapitel 1).

Es folgt eine rechtgeschichtlichen Betrachtung der Entwicklung der Begriffe des Kindeswohls und der Kinderrechte in Deutschland seit der Geburtsstunde des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) 1900 bis in die Gegenwart. Dabei zeigt sie bereits das Spannungsverhältnis von Schutzbedürfnis und Autonomiebestreben der Kinder und Jugendlichen auf, innerhalb dem sich Kinderrechte bewegen (Kap.2).

Zum 2. Teil

Der zweite Teil der Untersuchung beleuchtet den Status des Kindes im Verfassungsrecht, im Internationalen und Europäischen Recht und die einfachrechtliche Ausgestaltung der Kinderrechte im Familienrecht und dem Kinder- und Jugendhilferecht (Kap.3-5). Dabei konzentriert sich die Verfasserin zunächst auf zentrale Aspekte, insbesondere die Verteilung der Verantwortlichkeiten für die Förderung und den Schutz von Kindern zwischen Eltern und Staat, die rechtliche Definition und Ausgestaltung der Eltern-Kind-Beziehung und der staatlichen Förderpflicht und ihrer Ausgestaltung im Kinder – und Jugendhilferecht.

In der Auswertung der Literatur und Rechtsprechung zeigt Wapler anschaulich auf, dass bereits in den Regelungen zur elterlichen Sorge der Gebrauch des Begriffs „Kindeswohl“ disparat ist, dient er doch an einigen Stellen der Formulierung von Mindeststandards, an anderen Stellen eher der Beschreibung eines erzieherischen Optimums. Die unterschiedlichen Formulierungen, so die Verfasserin, folgen keiner erkennbaren Systematik, „eher gaukeln sie eine Differenziertheit vor, die in der Praxis nicht umgesetzt werden kann“ (S.283). Hier sei der Gesetzgeber gefordert. Zugleich macht sie auf Unterschiede zwischen dem Familienrecht und dem Kinder- und Jugendhilferecht aufmerksam: im Familienrecht wird das Wohl des Kindes vor allem mit seinen Interessen, im Kinder- und Jugendhilferecht hingegen stärker mit seinen Rechten begründet. Auch im Kinder- und Jugendhilferecht wird aber mit unterschiedlichen Kindeswohlstandards gearbeitet, je nachdem ob Eingriffe legitimiert oder andere Entscheidungen über Kindesbelange begründet werden sollen. Damit stellt sich die Frage nach dem grundlegenden Verhältnis zwischen Kindeswohl und Kinderrechten. Die bisherigen Erklärungsmodelle geben keine befriedigende Antwort auf die Frage, wie sich Kinderrechte und eine dem Kindeswohl entsprechende Erziehung in dem diese Lebensphase verwirklichen lassen. Wer bestimmt, was dem Wohl des einzelnen Kindes entspricht? Bilden dabei sein aktuelles Wohlbefinden, sein Wunsch und Wille, seine künftigen Verwirklichungschancen oder die abstrakte Vorstellungen von einem guten Leben den Maßstab? Lässt sich das Kindeswohl unter Rückgriff auf die Grundrechte des Kindes präzisieren?

Zum 3. Teil

Diesen Fragen geht Wapler im dritten, rechtsphilosophischen Teil ihrer Untersuchung nach.

Hierzu setzt sie im sechsten Kapitel den Begriff des Kindeswohls zunächst in Beziehung zu dem allgemeinen Begriff des individuellen Wohls, um sich dann in einem zweiten Schritt den besonderen Lebenslagen von Kindern und dem Status des Kindeseins im Verhältnis zum Erwachsensein zuzuwenden (7.Kap.). Der Begriff des Wohls führt in das philosophische Nachdenken darüber, welche Bedingungen ein Mensch braucht, um ein gutes oder gelingendes Leben zu führen. Am Anfang dieser Überlegung steht natürlich die Frage, worin das „Gute“ besteht.

Wapler erläutert hier anschaulich die verschiedenen Kategorien von Interessen und setzt sie in Beziehung zu den Rechten und Freiheiten einer Person (S.313). Sie skizziert subjektive und objektive Theorien zur Bestimmung des Wohls und arbeitet den besonderen Stellenwert der Selbstbestimmung heraus. Ausgangspunkt des Selbstbestimmungsrechts bildet die Fähigkeit und Möglichkeit des Menschen zur Entwicklung (eines Mindestmaß) an personaler Autonomie. Die Fähigkeit zum autonomen Handeln muss ein Mensch im Laufe seines Lebens aber erst entwickeln.

Damit stellt sich die Frage nach der Rechtfertigung paternalistischen Eingriffe der Eltern und des Staates in die Handlungsfreiheit von Minderjährigen (S.359). Wapler beleuchtet hierzu das Verhältnis von Paternalismus, Fürsorge und Care und diskutiert Rechtfertigungsgründe für paternalistische Entscheidungen. Gegenüber einer autonomiefähigen Person hält sie diese nur unter zwei Bedingungen für zulässig: wenn die Willensbildung einer Person auf einer falschen Tatsachengrundlage beruht, sie also über die entscheidungserheblichen Tatsachen nicht oder falsch informiert ist oder wenn es wichtige Rechtsgüter der Person (z.B. ihr Leben oder ihre Freiheit) vor unbedachter Selbstschädigung zu schützen gilt. In allen anderen Fällen ist der Wille einer autonomiefähigen Person zu respektieren, so lange er nicht zur Schädigung von Dritten führt oder vernünftige Gemeinwohlgründe entgegenstehen.

Die Lebensphase Kindheit, so Wapler, kennzeichne die paternalistische Grundsituation des Kindes, in der „jedenfalls unterstellt wird, dass es ihm aufgrund des jungen Lebensalters an Autonomiefähigkeit mangelt“ (S.394). Menschen, die nicht über die für Entscheidungen erforderliche Autonomiefähigkeit verfügen, sind tatsächlich auf stellvertretendes Handeln anderer angewiesen. Ihre Stellvertreter*innen müssen aber zum Wohl der Vertretenen handeln. Doch wie lässt sich ermitteln, was im Einzelfall dem Wohl eines anderen Menschen entspricht? Im der rechtlichen Betreuung erwachsener Menschen wird hierzu meist ein abgestuftes Vorgehen empfohlen (S.384). Anders als bei demenziell erkrankten Menschen kann man bei Kindern und bei Erwachsenen mit intellektueller Beeinträchtigung allerdings auf der ersten Stufe nicht auf eine Patientenverfügung oder einen anderweitig formulierten früheren autonomen Willen der Person zurückgreifen, um zu ermitteln, wie sich die Person in der jetzigen Situation entscheiden würde, wenn sie selbst entscheiden könnte (S.449). Kennzeichnend für die Kindheit ist nach Auffassung von Wapler auch, dass es zu den zentralen Entwicklungsaufgaben eines Menschen in dieser Phase gehört, autonomiefähig zu werden. Der Vergleich der Situation eines Neugeborenen mit der einer fast volljährigen Person verdeutliche, welche enorme Dynamik und Veränderung mit dieser Entwicklung einhergehe (S.390). Die entscheidende Frage im Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern sei nicht, ob Kinder generell autonom sind oder nicht, sondern in welchem Lebensbereichen und zu welchen Zeiten ihre eigenen Entscheidungen respektiert werden und in welchen Lebensbereichen und zu welchen Zeiten sie auch die volle Verantwortung für ihre Entscheidungen und Handlungen tragen (S.419). Wapler entwirft hierzu ein dynamisches Modell des Kindeswohls. Welche Entscheidung in einer konkreten Situation dem Kindeswohl entspricht, lasse sich, so die Verfasserin, immer nur im Zusammenwirken von Erwachsenen und Kindern ermitteln. Denn neben seinen Belangen müsse auch Wunsch und Wille des Kindes stets Berücksichtigung finden, je nach Grad seiner Einsichts- und Steuerungsfähigkeit entweder konsultativ oder dezisiv. Im Spannungsfeld zwischen kindlichen Schutzbedürfnis und Freiheitsdrang läge es zudem in der Verantwortung der Eltern und Erziehungspersonen, den Minderjährigen immer wieder neue, geschützte Freiheitsräume zu eröffnen, in der sie sich als Handelnde und Entscheidende erleben und erproben können, ohne dass ihnen zugleich die gesamte Verantwortung für ihr Handeln auferlegt wird. Diese (Grau-)zone zwischen kindlicher Abhängigkeit und Autonomie bezeichnet Wapler als „Autonomie unter Vorbehalt“ oder „Als-Ob-Autonomie“ (S.440).

Kindheit ist für Wapler des Weiteren auch untrennbar mit der Frage verbunden, wie das Kind als erwachsener Mensch sein wird oder werden könnte. Bei der Ermittlung seines Wohls genüge es daher nicht, sich an den gegenwärtigen Belangen des Kindes zu orientieren, sondern es gelte vielmehr, ihm die unverzichtbaren Bedingungen für ein selbstbestimmtes Leben als erwachsener Mensch zu sichern, damit das Kind diese Kompetenz überhaupt erst entwickeln und später für sich nutzen kann (S.449). Im Anschluss an Feinberg formuliert Wapler das Recht von Kindern auf eine offene Zukunft (S.411): Ihnen sollen reale Zukunftsoptionen eröffnet und es ihnen ermöglicht werden, einen anderen Lebensplan zu verfolgen als ihre Eltern, sie sollen sich also, wenn sie dies wollen, aus ihrem Herkunftsmilieu lösen können. Dies, schreibt Wapler, gehe aber nur über Bildung, die so organisiert ein muss, dass die Kinder mit dem Leben außerhalb ihrer Herkunftsfamilie in Kontakt kommen (S.452).

Im achten und neunten Kapitel wendet sich Wapler den Fragen zu, ob sich die von ihr formulierten unverzichtbaren Bedingungen für das Kindeswohl als Grundrechte des Kindes formulieren lassen und wer für die Gewährleistung des Wohls und die Einhaltung der Kinderrechte verantwortlich ist, die Eltern oder der Staat?

Die Frage nach den Grundrechten des Kindes mag angesichts ihrer konkreten Ausformulierung in der UN-Kinderrechtskonvention überraschen. Doch ist keineswegs geklärt, welche individuellen Rechte Kinder unmittelbar aus der Konvention ableiten können, da mit der darin verankerten Gewährleistungspflicht der unterzeichnenden Staaten nicht notwendig ein subjektives Recht des Kindes auf das staatliche Handeln korrespondiert. Zudem stellt sich die Frage, wie Kinder, so lange sie nicht oder nur eingeschränkt autonomiefähig sind, ihre Rechte verwirklichen können. Geht mit ihren Rechten zugleich die Pflicht ihrer Personensorgeberechtigten einher, die Kinderrechte treuhänderisch wahrzunehmen? In der Diskussion stellt Wapler die Willenstheorie, die unter einem Recht eine geschützte Wahlmöglichkeit versteht („protectet choice“) der Interessentheorie gegenüber, die unter einem Recht nicht nur das Freiheitsrecht, sondern auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit versteht und als Interesse, dass dem Wohl des Individuums dient (S.460). Hierzu zählt auch das Interesse des Individuums, selbst über seine persönlichen Belange zu entscheiden. Beide Theorien, argumentiert die Verfasserin, lassen sich jedoch verbinden, wenn Kinderrechte nicht ausschließlich als Abwehrrechte verstanden, sondern auch als Schutz- und Gewährleistungsrechte formuliert bzw. interpretiert werden – was zwar (noch) nicht der herrschenden Lehre im deutschen Verfassungsrecht, wohl aber der völkerrechtlich anerkannten Interpretation der Menschenrechte als Pflichtentrias („Eid´sche Formel“) entspricht. Wapler kommt so zu dem Ergebnis, dass Kinderrechte nicht jedes Interesse von Kindern erfassen, sondern nur ihre wichtigen Belange, das sind solche, ohne die Kinder nicht gut aufwachsen können (S.463). Damit werde auch der Zusammenhang zwischen Kindeswohl- und Kinderrechten deutlich: Die Grund- und Menschenrechte der Kinder umfassten die notwendigen Bedingungen des Kindeswohls. Die moralische Verantwortung der Erwachsenen für ihre Kinder reiche allerdings weit über die Sicherung dieser Grund- und Menschenrechte hinaus. Eine wichtige Funktion der Grund- und Menschenrechte besteht darin, dass sie einerseits die Pflicht der Erwachsenen zu paternalistischem Handeln begründen, ihm aber zugleich Grenzen setzen (S.464). Denn paternalistisches Handeln ist rechtfertigungsbedürftig und ob es gerechtfertigt ist, hängt davon ab, ob und inwieweit Kinder schon zu selbstbestimmten Entscheidungen in der Lage sind.

Damit wendet sich Wapler im neunten Kapitel der Frage zu, wer für das Wohl des Kindes und die Wahrung und Verwirklichung seiner Rechte verantwortlich ist: die Familie oder der Staat? Nach liberalem Verständnis stehen Familie und Staat in einem Subsidiaritätsverhältnis, in welchem dem Staat Zurückhaltung auferlegt ist und er erst zum Schutz des Kindes tätig werden kann und darf, wenn die Belange des Kindes in einer Weise verletzt werden, die ethisch nicht mehr akzeptabel ist und seinen Schutz durch die Gemeinschaft erforderlich erscheinen lassen. Diesem Verständnis folgt Wapler und kritisiert damit Giesingers Ansatz als zu weitgehend, der eine staatliche Handlungspflicht bereits dann bejaht, wenn Eltern nicht umfassend für das kindliche Wohl sorgen. [1] Wapler führt in die Diskussion des Verhältnisses von Familie und Staat in der Verantwortung für Kinder eine dritte Aufgabe des Staates ein: Die Funktion des Staates als Streitschlichter im Familienkonflikt (S.481).

Dies führt Wapler zu ihrem letzten Punkt: Dem Thema Pluralismus und Toleranz in der Erziehung, die in der Philosophie vor allem am Beispiel der Amish-Entscheidung des US-Supreme Court von 1972 diskutiert wird: Eine Amish-Familie wollte ihre Kinder nach dem achten Schuljahr zwei Jahre vor dem Ende der staatlichen Schulpflicht aus der Schule nehmen, um sie in den gemeinschaftseigenen Betrieben eine handwerkliche Ausbildung absolvieren zu lassen. Sie wollten verhindern, dass die Schule die Kinder durch ihre weltlichen Einflüssen der Amish Gemeinde entfremden und damit langfristig der Bestand der Gemeinschaft gefährdet wird. Wapler zieht die Grenze des Eingreifens des Staates bei den unverzichtbaren Bedingungen des Kindeswohls: Hierzu zähle nicht nur der Schutz der gegenwärtigen Belange des Kindes, sondern auch ihr Recht auf eine offene Zukunft (ein Gedanke, der sich übrigens auch in Ian McEwans lesenswertem Roman „Kindeswohl“ wiederfindet [2]). Die Entscheidung der erwachsenen Mitglieder einer religiösen Gemeinschaft, sich den Regeln einer religiösen Gemeinschaft zu unterwerfen, sei zu respektieren, ihre Entscheidung, auch ihre Kinder entsprechend den Normen und Werten der Gemeinschaft zu erziehen, nur solange, als sie ihren Kindern noch die Freiheit zugestehen, sich (später) auch gegen ein Leben in dieser Gemeinschaft zu entscheiden. Dazu brauchen die Kinder aber ein Mindestmaß an Bildung und an Kenntnis alternativer Lebensentwürfe. Eltern dürften darum die politische Gemeinschaft, in der sie leben, nicht völlig aus der Erziehung ihrer Kinder ausblenden (S.486).

Zum 4. Teil

Im vierten und letzten Teil ihrer Untersuchung überträgt Wapler ihre rechtsphilosophischen Erkenntnisse zu den Konturen des Kindeswohls, seinem Verhältnis zu den Kinderrechten und zur Verantwortung der Eltern und des Staates in das geltende Recht und bezieht damit Stellung zu aktuellen rechtspolitischen Fragen, insbesondere zu den Vorschlägen der SPD und Bündnis 90/Grüne, die Kinderrechte oder das Kindeswohlprinzip im Grundgesetz auszuformulieren (S.498). Sie prüft den Gewährleistungsgehalt der Grundrechte, z.B. die Frage, ob sich aus dem Grundgesetz ein Recht von Kindern und Jugendlichen auf Bildung (S.510) und Entwicklung (S.512) ableiten lässt. Sie beleuchtet das verfassungsrechtliche Eltern-Kind-Verhältnis (S.514) und die Interventionsschwelle bei Kindeswohlgefährdungen und weist zutreffend darauf hin, dass eine wesentliche Herausforderung des staatlichen Wächteramtes darin besteht, dass die staatlichen Organe überhaupt erst einmal von einer Kindeswohlgefährdung erfahren müssen, eine flächendeckende Ausforschung und Überwachung von Familien aber gegen Art.6 Abs.1 und Art.2 S.1 GG verstieße. Sie entwickelt Vorschläge, wie die staatlichen Kompetenzen zur Gefahrerforschung in § 157 FamFG klarer formuliert werden könnte (S.520) und positioniert sich kritisch zu den Screening-Verfahren im Rahmen der Teilnahme an Früherkennungsuntersuchungen (S.524). Im nachfolgenden Kapitel formuliert sie allgemeine Grundsätze für das Recht von Kindern und Jugendlichen, an ihren eigenen Angelegenheiten beteiligt zu werden (S.530):

  1. Der Kindeswille ist zu berücksichtigen, sobald er erkennbar ist.
  2. Der Wille des Kindes ist ausschlaggebend (dezisiv), wenn er selbstbestimmt und informiert ist. Dritte dürfen sich dann nicht über ihn hinweg setzen.
  3. In allen anderen Fällen ist der Wille des Kindes konsultativ zu berücksichtigen.

Sie erörtert diese Bedingungen dann am Beispiel der Einwilligung des Kindes in medizinische Behandlungen und kritisiert, dass die gesetzlichen Regelungen zum Schutz der Patientenautonomie der dynamischen Autonomieentwicklung von Kindern nicht angemessen Rechnung tragen, die Kriterien für die Einwilligungsfähigkeit nicht klar geregelt sind und die Regelungen daher nicht dem Bestimmtheitsgebot entsprechen.

Sie positioniert sich zu den verschiedenen, in der Literatur diskutierten Reformvorschlägen und folgt letztlich dem Vorschlag von Rothärmel et al, [3] die auch bei eingeschränkt selbstbestimmungsfähigen Kindern Informations- und Anhörungsrechte bejahen (S.539). Wapler nimmt auch zur religiös motivierten Vorhautbeschneidung von Jungen und der dahinter stehenden grundlegenden Frage Stellung, ob der Vorrang des Elternrechts sich auch auf medizinisch nicht indizierte Eingriffe wie z.B. das operative Anlegen von „Segelohren“ zu rein kosmetischen Zwecken erstreckt oder solche Eingriffe als Kindeswohlgefährdungen zu qualifizieren sind, die den Staat ermächtigen, die Rechte der Eltern zum Schutz der Kinder einzuschränken.

Sie bezieht Stellung zu der Forderung nach einer Absenkung des Wahlalters und einem Familienwahlrecht (S.550) und erörtert weitere Partizipationsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche (S.551). Sie setzt sich mit Inhalt und Umfang des Jugendhilfeanspruchs und der Legitimation einer Schulpflicht auseinander (Schulverweiger-Fälle, Unterrichtsbefreiuung aus religiösen Gründen) und streift das Recht auf Chancengleichheit und die Pflicht des Staates zur inklusiven Ausgestaltung des Bildungssystems. Als Prüfstein für eine Politik, die die Kinderrechte wahrt und sich am Wohl der Kinder orientiert, bezeichnet Wapler den staatlichen Umgang mit Kindern ohne deutsche Staatsangehörigkeit und erörtert darum eingehend deren (unzureichende) Rechtssituation. Anstatt eines Fazits fasst sie ihre Arbeit in fünf wesentlichen Erkenntnissen über das Kind im Recht zusammen.

Diskussion

Der tiefgreifende Wandel, dem Familie und Kindererziehung in den letzten Jahrzehnten unterworfen waren, hat einerseits zu einem stärkeren Bewusstsein für die kindliche Vulnerabilität und Schutzbedürftigkeit, andererseits aber auch zur Wahrnehmung der Kinder als Rechtssubjekte und zur Stärkung ihres Rechts auf Partizipation geführt. Das tradierte Fürsorgeparadigma erweist sich darum nicht mehr als geeignet, dem Begriff des Kindeswohls Inhalt und Kontur zu geben. Folge ist, dass der Begriff des Kindeswohls und der Kinderrechte im Gesetz und in der Praxis unsystematische Verwendung findet. Während im angloamerikanischen Raum seit den 1970er Jahren Kinderrechte und das Kindeswohl ihren festen Platz im (Rechts-)philosophischen Diskurs haben, wurde in Deutschland das Verhältnis zwischen Wohl, Recht und Interessen des Kindes in den vergangenen Jahren kaum grundlegend reflektiert. Die deutsche Philosophie, stellte Giesinger 2007 fest, hat die Kinder lange Zeit vergessen. [4] Mit „Kinderrechte und Kindeswohl“ schließt Friederike Wapler diese Lücke und bereitet äußerst strukturiert die deutschsprachigen Diskussion um den rechtlichen und ethischen Status von Kindern und Jugendlichen in der Gesellschaft auf. Sie entwirft ein dynamisches Modell zur Deutung des Kindeswohls, welches dazu dient, das Kind gleichermaßen als Schutzobjekt wie auch als Rechtssubjekt zu begreifen und der wechselseitigen Bedingtheit von Autonomie und Schutzbedürftigkeit angemessen Rechnung zu tragen. Zugleich unterzieht Wapler das Verhältnis von Familie und Staat in Bezug auf die Förderung und den Schutz des Kindes einer grundlegenden Reflexion. Es gelingt ihr hervorragend, an den angloamerikanischen Diskurs anzuknüpfen und ihn auf den deutschen Rechtsraum und seine pädagogischen Traditionen zu übertragen. Sie führt verständlich, anschaulich und unter Verwendung zahlreicher Beispiele in die philosophische Theorie ein und formuliert präzise ihre Ergebnisse und die sich hieraus ergebenden Anforderungen an die Praxis.

Fazit

Bei „Kinderrechte und Kindeswohl“ handelt es sich um ein neues Standardwerk, das viel Diskussionsstoff bietet und erheblich zur wissenschaftlichen Fundierung der Diskussion um Kinderrechte, Kindeswohl und Kindesschutz und zu mehr Handlungssicherheit in der familiengerichtlichen und jugendhilferechtlichen Praxis beitragen wird.


[1] Johannes Giesinger (2007): Autonomie und Verletzlichkeit. Der moralische Status von Kindern und die die Rechtfertigung von Erziehung. Bielefeld: transcript.

[2] Ian McEwan (2015): Kindeswohl. Deutsche Übersetzung von Werner Schmitz. Zürich: Diogenes.

[3] Sonja Rothärmel; Dippold, Ines et al. (2006): Patientenaufklärung, Informationsbedürfnis und Informationspraxis in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht.

[4] Johannes Giesinger (2007), Fn.1

Rezension von
Prof. Dr. jur. Julia Zinsmeister
Institut für Soziales Recht TH Köln Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften
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Es gibt 2 Rezensionen von Julia Zinsmeister.

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Zitiervorschlag
Julia Zinsmeister. Rezension vom 21.10.2015 zu: Friederike Wapler: Kinderrechte und Kindeswohl. Eine Untersuchung zum Status des Kindes im Öffentlichen Recht. Mohr Siebeck (Tübingen) 2015. ISBN 978-3-16-153375-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18961.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.


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