Julia Friedrichs: Wir Erben
Rezensiert von Laura Sturzeis, 01.09.2015

Julia Friedrichs: Wir Erben. Was Geld mit Menschen macht. Berlin Verlag (Berlin) 2015. 2. Auflage. 319 Seiten. ISBN 978-3-8270-1209-8. D: 19,99 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 28,90 sFr.
Thema
In ihrem neuen Buch macht Julia Friedrichs die Erbengesellschaft zum Thema. In zahlreichen Interviews mit Erben, durch die Lektüre einschlägiger Studien und Bücher, durch das Wühlen in politischen Programmen und den Interviews mit PolitikerInnen zeichnet die Autorin ein Bild der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft, in der der Leistungsgedanke, aber auch das so wichtige Prinzip der Freiheit immer mehr unter die Räder gerät. Die zentrale Frage, die Friedrichs dabei beschäftigt, ist jene, was das Erben mit den Erben macht. Wie gehen die Erben damit um, dass sie mit ihrer Erwerbsarbeit nie das Niveau an Wohlstand erarbeiten können, das ihren Eltern noch beschieden war und nun losgelöst von ihrer eigenen Leistung auf sie übergeht? Wie verändert sich das Leben – der Freundeskreis, die Einstellung zur eigenen Arbeit, der Lebensstil – durch das Erbe?
Autorin
Julia Friedrichs ist freie Autorin und arbeitete u.a. für den WDR und die Zeit. Für ihre Reportagen erhielt sie 2007 den Axel-Springer-Preis für junge Journalisten und den Ludwig-Erhard-Förderpreis, 2010 den Nachwuchspreis des deutsch-französischen Journalistenpreises und 2013 eine Nominierung für den deutschen Reporterpreis.
Aufbau und Inhalt
In einem Eingangskapitel erläutert die Autorin ihre Motivation, sich näher mit dem Erben und zugleich dem Sterben auseinanderzusetzen. Gleichlautend wie der Titel dieses Kapitels, nämlich „Staunen“, war es ebendieses Staunen darüber, wie sich der langjährige Bekannten- und Freundeskreis aufgrund gemachter (und eben nicht gemachter) Erbschaften spaltete. Und zwar in jene, die sich plötzlich Eigentumswohnungen leisten konnten in Berliner Stadtvierteln, die dies aufgrund von Gentrifizierungsprozessen den NormalverdienerInnen nicht mehr erlaubten, und solche, die mit ihrem Verdienst gerade mal so über die Runden kommen.
So wurde die Idee geboren ein Buch über das Erben zu schreiben. Doch Julia Friedrichs wollte ein Buch schreiben, bei dem es nicht nur um Zahlen und Daten ging, sondern um die Menschen dahinter: die Erben. „Will man der Wirklichkeit gerecht werden, musste man versuchen, ein Mosaik zu legen – zusammengesetzt aus Hunderten Steinchen, geformt aus Dutzenden Geschichten, Wahrheiten und Widersprüchen.“ (S. 27)
So ein Steinchen ist beispielsweise Lars, dessen Geschichte die Autorin im ersten Kapitel passenderweise mit „Fucking hell – wir haben einfach nur Glück“ tituliert. Denn Lars (41 Jahre, Komponist, verheiratet, 3 Kinder) hat das Glück, dass sein Vater ihm noch zu Lebzeiten Geld geschenkt hat, von dem er und seine Frau (Musiklehrerin) sich eine Eigentumswohnung in Berlin (165 m², ~ 500.000 EUR) leisten konnten. Durch die eigenen Einkommen hätten die beiden – wie auch die meisten ihrer FreundInnen – das nicht geschafft. Das vorgezogene Erbe hat jedoch auch in Lars Freundeskreis zu Rissen geführt. Auch hier verläuft der Graben zwischen jenen, die sich dank Eltern die Sicherheit eigener vier Wände problemlos leisten können und anderen, bei denen das Einkommen gerade so für den Alltag reicht. Jene, denen die Eltern unter die Arme greifen können, werden „gehalten von einem schützenden Netz“ (S. 31). Die Gewissheit, die dieses Netz Lars gegeben hat, war sowohl verantwortlich für seine Jobwahl (freiberuflicher Komponist) als auch seine Entscheidung für Kinder.
Das zweite Steinchen ist Beate (Wissenschaftlerin, verheiratet, 2 Söhne), deren (Erb-)Geschichte Kapitel 2 „Zweifel“ gewidmet ist. Seit ihrem 18. Geburtstag verfügt sie mit über 500.000 EUR mehr Geld, als Viele sich im Leben erarbeiten werden können. Auch sie wurde von den Eltern beschenkt. Doch das (unverdiente) Geschenk bedrückt Beate. Denn am liebsten wären ihr Erbschaftssteuern, die jedoch in Deutschland nur 0,7 % des Steueraufkommens stellen, oder sonstige Vermögenssteuern, bei denen jedoch in Deutschland auch nur 2 % des BIP eingenommen werden (in Großbritannien und Frankreich sind es immerhin 4 %). „Die Wissenschaftlerin Beate zahlt den Spitzensteuersatz, maximal 42 Cent pro erarbeitetem Euro. Die Kapitalanlegerin Beate zahlt auf jeden Euro Zinsen, den ihr Vermögen ihr beschert, 25 Cent Steuern. Und die Erbin Beate zahlte bislang nichts.“ (S. 64) Die Lebenserhaltungskosten können Beate und ihr Mann von ihren Einkommen bestreiten. Über die Weggabe des Geldes hat sie schon öfters nachgedacht. Doch den letzten Schritt brachte sie nie übers Herz. Denn auf das Sicherheitsnetz zu verzichten, scheint ihr letztlich doch zu leichtfertig.
Auch einige Erblasser fühlen sich unwohl beim Gedanken, so viel Geld zu vererben. So wie Götz Werner, der Gründer der Drogeriemarktkette dm, der aus diesem Grund sein Vermögen in eine Stiftung einbrachte (Kapitel 13 „Du kriegst nichts! In Liebe, Dein Papa!“). Um seine Kinder vor dem Fluch des Reichtums zu schützen, der beispielsweise die Rockefeller-Erben mit aller Härte traf, transferierte er das Vermögen in eine Stiftung. So gehöre das Unternehmen, laut Werner, nun sich selbst (S. 243). Dass der Sohn in der dm-Geschäftsführung sitzt, lässt sich dann aber nur schwer mit dem Leistungsprinzip vereinen, das Götz Werner eisern hochhält. Dennoch ist es in seinen Augen kein Widerspruch, denn auch er musste die erforderlichen Management-Qualifikationen nachweisen und sich „bei der Geschäftsleitung bewerben.“ Friedrichs fragt sich zurecht, „ob irgendeinen Smith tatsächlich mit Mitte dreißig die Geschäftsleitung eines Großunternehmens angesprochen hätte, um ihn direkt mit an die Spitze zu holen“ (S. 245). Trotz überragender Leistungen wäre das wohl kaum passiert.
Weitere Mosaiksteinchen, mit denen die Autorin ein umfassendes Bild vom Erben in Deutschland zeichnen will, sind bekannten Unternehmern bzw. Unternehmerfamilien, wie Wolfgang Grupp (siehe auch: Gastmann 2014, Rezension: www.socialnet.de/rezensionen/17733.php) oder der Familie Neckermann gewidmet. Jene Unternehmerfamilien, die wirtschaftliche Macht über Generationen ballen konnten, nähren zunehmend die Befürchtung vor der Rückkehr des ‚feudalistischen Kapitalismus‘. Als weitere Repräsentanten solcher Herrscherfamilien innerhalb des aufkommenden Feudalkapitalismus werden die bekannten Familien Reimann (Kukident, Clearasil), Oetker, Springer, Merckle, Rossmann, Henkel oder auch Mohn ins Feld geführt (S. 95 f.). Doch mit einem goldenen Löffel im Mund geboren zu werden, bringt nicht nur Gutes mit sich. Den Schattenseiten des Erbens und wie die Erben damit umgehen, geht Friedrichs in einigen weiteren Kapiteln nach. Durch die Geschichte Leas (Kapitel 6 „Nahkampf“) erhält der/die LeserIn Einblick in die Welt der Erbstreitigkeiten. Seit Jahren wird nämlich in Leas Familie um das Erbe des berühmten Großvaters gestritten, der als Künstler zu Lebzeiten einen Batzen an Ruhm und Geld anhäufte. Anfänglich noch als Glück verkannt, entpuppte sich der Erbanteil Leas zunehmend als Danaergeschenk. Denn aufgrund von Uneinigkeiten sind die einzigen Nutznießer bis dato Anwälte und Nachlassverwalter, die seit Jahren den unbeendeten Erbschaftsfall betreuen. Für Hans (Kapitel 7 „ Zu viel“) führte der Pflegefall und spätere Tod der Mutter zugleich zum Bruch mit dem eigenen Bruder, der mit einiger List einen Weg zur Umgehung des Testaments fand und damit seinen Bruder um viel Geld brachte.
Aus analytischer Sicht ist das spannendste Kapitel der „Erbengesellschaft“ gewidmet (Kapitel 14). Hier zeichnet die Autorin mit Verweis auf Thomas Pikettys „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ jene Entwicklung nach, auf die ihre zahlreichen Interviews ebenfalls hindeuteten. Während in der Moderne (v.a. nach dem 2. Weltkrieg) der Weg zu Wohlstand bzw. Reichtum über das Arbeit(seinkommen) und einen sparsamen Lebensstil möglich war, so ist das gegenwärtig immer seltener der Fall. Vielmehr nähern sich die Zustände jenen des Ancien Régime an, als Erben den einzigen Weg zu Reichtum darstellte. „Vor allem für die Kohorte, die zwischen 1970 und 1980 geboren wurde- und die die ersten Erbschaften und Schenkungen in den Jahren 2000 bis 2010 empfing, hat das ererbte Vermögen eine Wichtigkeit, die wir seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr erlebt haben“ (S. 251) zitiert Friedrichs Piketty. „Die Erbengesellschaft des 21. Jahrhunderts wird nicht die alte Feudalgesellschaft sein, aber auch nicht mehr die recht nivellierte Mittelschichtsgesellschaft der Nachkriegsjahre.“ (S. 257) Hier schließt sich zudem der Kreis von den Thesen der Vermögens-/Reichtums- und Ungleichheitsforscher, sowie deren Berichte zu den eigenen Erlebnissen der Autorin um die Geschehnisse aus ihrem Freundes- und Bekanntenkreis.
Fazit
Julia Friedrichs hat mit „Wir Erben“ erneut ein flott geschriebenes und eingängiges Buch zu einem hochaktuellen Thema verfasst. Damit stellt sie, wie schon in „Gestatten Elite“ (2008) unter Beweis, dass sie ihre Finger am Puls der Zeit und seinen aktuellen gesellschaftspolitischen Problemen hat. Hervorzuheben ist vor allem der Anspruch individuelle Probleme mit strukturellen Schieflagen so zu verknüpfen, dass daraus auch eine politische Forderung resultiert. Auch wenn dies – und das ist einer der wenigen Mängel, die diesem Buch vorzuwerfen sind – nicht konsequent durchgezogen wird. Das liegt vermutlich daran, dass die Autorin ihren ProtagonistInnen möglichst gerecht werden will und daher allzu fordernde Töne unterlässt. Wenn man bedenkt, wie mühsam sich die Kontaktanbahnung rund um das tabuisierte Thema Erben für Friedrichs gestaltete, ist der manchmal etwas mildere Ton durchaus nachvollziehbar. Insgesamt ist die Lektüre jedoch für jedeN interessierteN LeserIn uneingeschränkt zu empfehlen.
Rezension von
Laura Sturzeis
Sozioökonomin und Programmkoordinatorin des Masterstudiums Sozioökonomie an der Wirtschaftsuniversität Wien
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Zitiervorschlag
Laura Sturzeis. Rezension vom 01.09.2015 zu:
Julia Friedrichs: Wir Erben. Was Geld mit Menschen macht. Berlin Verlag
(Berlin) 2015. 2. Auflage.
ISBN 978-3-8270-1209-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/18970.php, Datum des Zugriffs 09.06.2023.
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