Gernot Böhme (Hrsg.): Pflegenotstand. Der humane Rest
Rezensiert von Matthias Brünett, 17.06.2015

Gernot Böhme (Hrsg.): Pflegenotstand. Der humane Rest. Aisthesis (Bielefeld) 2014. 156 Seiten. ISBN 978-3-8498-1009-2. D: 19,80 EUR, A: 20,35 EUR, CH: 25,80 sFr.
Thema und Entstehungshintergrund
Wie es der Titel des Buches nahelegt, geht es um den Pflegenotstand. Die Besonderheit des durchaus provokant anmutenden Titelzusatzes „der humane Rest“ ist dem Umstand geschuldet, dass der Sammelband die vorherrschende Auffassung, der Pflegenotstand resultiere als Fachkräftemangel im Wesentlichen aus dem demografischen Wandel, kritisch hinterfragen will. Die Formulierung des humanen Rests meint dabei einen Mangel an menschlicher Zuwendung, der, der Grundthese des Bandes folgend, „das eigentliche Problem des Pflegenotstandes“ darstelle.
Bei der rezensierten Publikation handelt es sich um einen Tagungsband einer Tagung des Instituts für Praxis der Philosophie e.V. im Herbst 2012 in Darmstadt. Der Herausgeber Gernot Böhme ist Vorsitzender und Direktor des Instituts.
Herausgeber und AutorInnen
Der Herausgeber Gernot Böhme war bis zu seiner Emeritierung 2002 Professor für Philosophie an der TU Darmstadt.
Im Band finden sich Beiträge unter anderem von Klaus Dörner und Thomas Gerlinger, weiterhin von Marianne Brieskorn-Zinke und Gabriele Kleiner, beide Professorinnen an der Evangelischen Hochschule Darmstadt, sowie von Ute Gahlings, Professorin für Philosophie an der TU Darmstadt, Sabine Köhler und Petra Rogge, beide wissenschaftliche Mitarbeiterinnen am Institut für Praxis der Philosophie (IPPh) in Darmstadt, und schließlich Sabine Weidert, u.a. Pflegeexpertin, die auch leibphilosophische Fragen bearbeitet.
Aufbau und Inhalt
Auf rund 150 Seiten finden sich zehn Beiträge von neun Autorinnen und Autoren.
Im Vorwort skizziert Gernot Böhme den Hintergrund, vor dem die Publikation einzuordnen ist. Dabei macht er deutlich, dass er davon ausgeht, dass Pflegebedürftigkeit nicht etwa ein Zwischenstadium suboptimalen Funktionierens ist, „sondern sich in die condition humaine einer lebenslänglichen Angewiesenheit und der Unterstützung durch andere Menschen einordnet“ (S. 9). Dabei bleibe aber dieses Angewiesensein auf Unterstützung unerfüllt, eben als jener „humane Rest“ einer unmenschlicher gewordenen Pflege übrig, der im Buchtitel treffend angesprochen ist. Weiter argumentiert Böhme, dass es bislang trotz aller berechtigten Professionalisierungsbemühungen der Pflege selbst und immer neuer politischer Maßnahmen zu Verbesserung der pflegerischen Versorgung nicht gelungen sei, diese humane Lücke zu schließen und deshalb das Buch sein Augenmerk auch auf die zu stärkende informelle Pflege richte.
Im Kapitel 1 („Der Stand der Dinge“) berichtet Thomas Gerlinger in seinem Beitrag über „Pflegebedarf und Pflegepotenziale in Deutschland“ (S. 15 ff.). Dabei geht er im Bereich der professionellen Pflege besonders auf die mit dem Beruf assoziierten Belastungen, wie schweres Heben, Schicht-, Nacht- und Wochenend-/Feiertagsarbeit ein. Danach folgt eine Schilderung von Mängeln der pflegerischen Versorgungsqualität in der Altenpflege, zu der Gerlinger hauptsächlich den MDS-Prüfbericht von 2012 rezipiert. Abschließend formuliert er Handlungsempfehlungen, die neben besserer Prävention und Rehabilitation auch eine bessere Bezahlung professioneller Pflegekräfte und die Stärkung der informellen Pflege beinhalten.
Das Kapitel 2 beinhaltet zwei Beiträge „Zur Philosophie der Pflege“.
Ute Gahlings beschreibt eine „Ethik der Fürsorge“ und argumentiert, „dass die aktuelle Schieflage in der Betreuung kranker Menschen ein moralisches Problem ist“ (S. 33). In einem ersten Schritt analysiert die Autorin dazu die oft unterstellte begriffliche Enge der „Fürsorge“ gegenüber dem englischen Begriff „Care“. Letzterer biete zwar den Vorteil, sowohl Selbst- als auch Fürsorge in sich zu vereinen; der Begriff der Fürsorge sei aber ebenso reichhaltig hinsichtlich der tätigen Bemühung sowohl im privaten Umsorgen als auch hinsichtlich staatlicher Fürsorge und deshalb Care nicht zwingend zu bevorzugen. Nach einem kurzen Abriss über die Geschichte der Ethik geht sie auf Implikationen der Fürsorge und Bedürftigkeit bei Heidegger und Wilhelm Kamlahs sowie innerhalb der ethics of care (z.B. Joan Tronto) ein.
Im folgenden Beitrag macht Marianne Brieskorn-Zinke unter dem Titel „Von der Krankenschwester zum Gesundheitsfachberuf“ „Anmerkungen zur Veränderung eines Berufsbildes“. Dazu geht sie zunächst auf die Charakteristika der Pflege als Ausbildungsberuf damals und heute ein. Danach schildert sie die durchaus bemerkenswerten Veränderungen innerhalb der Pflege im Zuge ihrer (beginnenden) Akademisierung auf dem Weg zur Profession. Zu Recht weist die Autorin abschließend aber darauf hin, dass ein angemessener Einsatz akademisch (weiter-)qualifizierter Pflegefachkräfte der Praxis immer noch Probleme bereitet.
Im Kapitel 3 finden sich insgesamt vier „Berichte aus der Arbeit: Zur Lage der Pflegebedürftigen und der Pflegenden“ (S. 65 ff.).
Im ersten Beitrag berichtet Gernot Böhme über das Pilotprojekt „Präoperative Patientenfürsorge“, das vom IPPh in Kooperation mit der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie am Elisabethenstift Darmstadt durchgeführt wurde. Dabei wurden insgesamt 20 Patienten in der Regel am Vortag und dem Tag der OP selbst betreut. Das Projekt umfasste die Dokumentation und Auswertung dieser Betreuung. Diese Betreuung erstreckte sich auf den schon erwähnten „humanen Rest“, meint also Betreuung im Sinne „eingehender persönlicher, gerade nicht auf technisch[e] Versorgung eingeschränkter Pflege“ (S. 70).
Im zweiten Beitrag berichtet Sabine Köhler von ihren Erfahrungen als Krankenschwester „Auf der Drogenstation“. Dabei geht sie einleitend auf das Wesen von Suchterkrankungen und die Situation Suchterkrankter ein. Im zweiten Teil ihres Beitrages referiert die Autorin Grundlagen der (Beziehungs-)Pflege bei Suchterkrankungen und illustriert diese anhand ihrer Erfahrungen auf der Drogenstation.
Im dritten Beitrag geht Sabine Weidert unter dem Fokus „wie Pflegende die Not am eigenen Leibe spüren“ auf den Pflegenotstand ein. Dabei fokussiert sie sich auf leibliche Wahrnehmungen der Pflegenden.
Beim vierten Beitrag von Gernot Böhme handelt es sich um ein Protokoll eines Round-Table-Gespräches von Pflegebetroffenen, das Teil der IPPh-Tagung war.
Im Kapitel 4 finden sich zwei Beiträge zu zukunftsweisenden Ansätzen.
Im ersten Beitrag nimmt Klaus Dörner in zehn Argumenten Stellung zu seiner These, dass „Nachbarschaft […] die Lebendigkeit des Sozialraum[s]“ ist. Dazu berichtet er über die Erfahrungen seiner Feldforschungen in den letzten 10 Jahren zur Bedeutung dieses dritten Sozialraumes. Selbigen sieht er als „Kitt der Gesamtgesellschaft“ (S. 123) (vgl. auch Dörner 2010).
Im zweiten Beitrag berichtet Gabriele Kleiner („Selbstbestimmt im Alltag – Integriert im Gemeinwesen?“) über eine von ihr durchgeführte „Untersuchung zur Lebensqualität von Menschen mit Demenz in ambulant betreuten Wohngemeinschaften“ (S. 125 ff.). Gegenstand dieser Untersuchung sind zwei Wohngemeinschaften in Darmstadt. Dabei beleuchtete sie die subjektive Sicht der Betroffenen – in erster Linie der Menschen mit Demenz und ihrer Angehörigen, aber auch bspw. der Mitarbeiterinnen – aus einer phänomenologischen Perspektive mittels qualitativer Interviews und Gruppendiskussionen. Kurz zusammengefasst umreißt die Autorin die Ergebnisse ihrer Arbeit.
Der Anhang beinhaltet „Notizen eines Pflegepatienten“ („Ich wohne noch! Oder?“). Petra Rogge schildert hier das dreimalige Sterben eines Pflegepatienten, den sie über Jahre begleitet hatte. Diese Notizen sind das sehr lesenswerte „literarisierte Resultat“ (S. 150) der Aufzeichnungen aus dieser Zeit. Die drei Tode, von denen die Autorin hier berichtet, sind das Zum-Patient-werden, Einzug und Leben im Pflegeheim und schließlich die Zeit als „amtsrichterlich beschlossener rechtlich Betreuter“ (S. 149). Besonders eindrücklich ist dabei die Gegenüberstellung der subjektiven Sicht des Patienten (was er als „Lebensorganisation“ bezeichnet) und die Wahrnehmung beispielsweise der Pflegenden im Pflegeheim („Verwahrlosung“, „zugerümpelt“). Sehr treffend wird hier dem Leser eine Aufforderung zum Nachdenken über den humanen Rest nicht nur des Pflegenotstandes, sondern auch der Pflege selbst vermittelt.
Fazit
Die Perspektive des Buches, den Pflegenotstand nicht nur als sozialpolitisches Problem zu begreifen, macht es zu einer empfehlenswerten Lektüre. Zwar gerieten die einzelnen Beiträge teilweise zu knapp, diese Beurteilung entstammt aber der Perspektive des Rezensenten als Wissenschaftler und damit einhergehende Erwartungen an einen Band, der von Gernot Böhme herausgegeben wurde, die leider nur bedingt erfüllt wurden. Geschuldet ist dies sicherlich dem Umstand, dass es sich bei der in der Publikation dokumentierten Tagung offenbar um eine Veranstaltung für Betroffene und interessierte Laien gehandelt hatte.
Positiv hervorzuheben ist, dass der rezensierte Band einen Beitrag dazu leistet, die öffentliche Diskussion um Pflege, den Pflegenotstand und den demografischen Wandel (um nur einige zu nennen) um eine wertvolle und wichtige Perspektive zu ergänzen. Zu empfehlen ist das Buch daher all jenen, die die von Mainstream-Diskussionen transportierten Sichtweisen irritieren lassen und einen anderen Blick auf (nicht nur) das Problem des Pflegenotstandes werfen möchten. Wissenschaftler/innen, die sich mit der Thematik beschäftigen, werden (je nach diskursiver Position) nur wenig Neues finden.
Literatur
Dörner, Klaus (2010): Leben und sterben wo ich hingehöre. Dritter Sozialraum und neues Hilfesystem. 5. Auflage. Neumünster: Paranus.
Rezension von
Matthias Brünett
MSc. Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Deutsches Institut für angewandte Pflegeforschung (DIP), Köln
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