Greater Vancouver Regional Steering Committee on Homelessness (Hrsg.): Results of the 2014 Homeless Count [...]
Rezensiert von Prof. Dr. Carl Heese, 16.07.2015
Greater Vancouver Regional Steering Committee on Homelessness (Hrsg.): Results of the 2014 Homeless Count in the Metro Vancouver Region.
Eigenverlag
2014.
57 Seiten.
Zu beziehen über http://vancouver.ca/files/cov/results-of-the-2014-metro-vancouver-homeless-count-july-31-2014.pdf.
Thema und Entstehungshintergrund
In Deutschland liegen zum Ausmaß der Obdachlosigkeit überwiegend Schätzungen vor. Eine Ausnahme stellt hier die Stadt Hamburg da, die 1996 begonnen hat, regelmäßige Befragungen bei Obdachlosen durchzuführen. Sie finden alle 6 Jahre statt, zuletzt 2009, und beziehen sich auf die Obdachlosen in den verschiedenen Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe. Demgegenüber haben Zählungen der Obdachlosen einer Region in Kanada und den USA eine längere Tradition. Neben Vancouver finden Zählungen beispielsweise auch in Toronto statt oder in Seattle, dort sogar jährlich.
Die Region Vancouver führt ihre Erhebungen seit 2002 alle drei Jahre durch.Im Unterschied zu Hamburg stützt sich die Zählung nicht nur auf Einrichtungen, sondern sucht die Probanden in ihren Lebenswelten auf der Straße, in Parks und unter Brücken auf.Der Bericht der Steuerungsgruppe bezieht sich auf die aktuelle Zählung von 2014 und analysiert die Ergebnisse im Querschnitt und im Blick auf die Entwicklung gegenüber den Voruntersuchungen. Die größten Gemeinden der Region, die City of Vancouver und die City of Surrey, haben auch ambitionierte Programme für die Obdachlosenhilfe aufgelegt, deren Wirkung durch die Zählung teilweise evaluiert werden soll. Die Zählung ist dadurch in eine datengetriebene interventionsorientierte Sozialpolitik integriert.
Aufbau
Der Bericht startet mit einer sehr verdichteten zusammenfassenden Darstellung. Sie ist auch, als Informations-Broschüre aufbereitet, auf der Internet-Repräsentanz von Metro Vancouver zu finden. Die weiteren Teile sehen dann so aus:
- Einleitung. Sie erläutert den Zweck der Zählung, klärt begriffliche und allgemeine organisatorische Grundlagen.
- Methodologie und Durchführung der Zählung.
- Quantitative Ergebnisse zur Obdachlosigkeit in der Region Vancouver.
- Das demografische Profil der erfassten Obdachlosigkeit.
- Formen der Inanspruchnahme von Einrichtungen und Diensten.
- Obdachlosigkeit in Teilgruppen der Untersuchung.
- Obdachlosigkeit in einzelnen Teilen der Metropolregion.
- Schlussfolgerungen und Empfehlungen
- Anhänge
- A: Schätzung der Jahresprävalenz
- B und C: Einrichtungen nach Region, Hilfeleistung und Kapazität
- D und F: Befragungsformen für Einrichtungen und ‚auf der Straße‘
- G: Statistische Verteilung der Freiwilligen nach Regionen
- H: Statistik der Obdachlosen in und außerhalb von Einrichtungen nach Regionen
Inhalt
Die Steuerungsgruppe berichtet über ihre Erhebung der Punktprävalenz für Obdachlosigkeit in der Metroregion Vancouver vom 11. zum 12. März 2014. Als Ziele dieser Regionalstudie werden die Ermittlung der Anzahl der Wohnungslosen sowie ihre demografische Beschreibung und die Beobachtung von längsschnittlichen Entwicklungen in dieser Bevölkerungsgruppe genannt. Obdachlosigkeit wird dabei definiert als Zustand ohne Mietvertrag und ohne eine Bleibe, die länger als 30 Tage bewohnt werden kann. Das schließt Personen, die auf der Straße leben, ebenso ein, wie Bewohner von Notunterkünften und Notfalleinrichtungen, Personen ohne feste Adresse, die vorübergehend im Krankenhaus oder im Gefängnis sind, oder bei Bekannten und Verwandten unterkommen („Couch-Surfer“). Für die Erhebung wird dabei grundsätzlich unterschieden zwischen Obdachlosen, die auf der Straße leben, und Wohnungslosen, die in Angeboten der sozialen Dienste untergekommen sind. Für die beiden Gruppen werden verschiedene Strategien zur Zählung sowie leicht unterschiedliche Befragungsformen verwendet. Die Autoren sind sich darüber im Klaren, dass ihre Zählung nur den sichtbaren Teil der Obdachlosigkeit erfasst. Sie gehen von einem Eisbergmodell aus, bei dem ein größerer, aber verborgener Teil des Phänomens nicht erfasst wird. Unter der Sichtbarkeitslinie finden sich unter anderem Couch-Surfer, die sich der Zählung entziehen, Menschen in Substandardwohnungen oder in überbelegten Wohnräumen.
In die Zählung sind beinahe alle Gemeinden der Metroregion Vancouver einbezogen, in der Region wohnen 2,5 Mio. Einwohner auf knapp 3000 km2 (zum Vergleich: Berlin hat nicht einmal 1000 km2).
Zur Erleichterung des Einstiegs wurden Bonbons und Zigaretten, bei Jugendlichen Freifahrscheine eingesetzt. Diese Geschenke wurden als Türöffner vor dem Interview verteilt, um keine Anreize zu einer mehrfachen Teilnahme an der Zählung zu setzen.
Die Zählung in den Einrichtungen wurde durch das Personal dort unterstützt, die Zählung auf der Straße wurde von Teams von je zwei Freiwilligen vorgenommen, die in einem zugewiesenen Abschnitt Personen ansprachen, die sie als obdachlos einschätzten. Für die Einweisung der Zähler wurden 16 Veranstaltungen zu je 2,5 h durchgeführt. Insgesamt wurden 915 freiwillige Helfer für die Studie rekrutiert. Für die Datensammlung, zur lokalen Vorbereitung und zur Unterstützung wurden in allen teilnehmenden Gemeinden Koordinatoren benannt. Sie erstellten auch Karten von bekannten Aufenthaltsorten von Wohnungslosen, mit welchen die Helfer ausgestattet wurden.
Insgesamt wurden 2777 Personen gezählt und um eine Teilnahme an der Befragung gebeten. Die Response-Rate für die Befragung betrug 59% in den Unterkünften (2011: 51%; 2008: 84%), auf der Straße verweigerten über 300 angesprochene Personen die Teilnahme und wurden dann nicht in die Zählung integriert, weil nicht auszuschließen war, ob sie bereits in den Unterkünften an der Zählung teilgenommen hatten. Das globale Ergebnis der Zählung zeigt eine in etwa konstante Zahl der Obdachlosen seit 2008, dabei ist aber die Zahl der in Hilfsangeboten vorübergehend Untergebrachten („sheltered“) von einem auf zwei Drittel gestiegen. Darin liegt ein für die Sozialpolitik in Vancouver affirmatives Ergebnis der Untersuchung, auch wenn hier noch methodologische Fragen bleiben, die am Ende des Berichts angesprochen werden.
Die Auswertung zeigt dann verschiedene Aspekte der Obdachlosigkeit. Es werden differenzierte Altersanalysen vorgestellt, welche die Rate der Jugendlichen mit und ohne Begleitung von Erwachsenen zeigt, sowie einen zunehmenden Anteil an Senioren (über 55 Jahren). Weitere Gruppenauswertungen stellen dann beispielsweise die Situation von obdachlosen Einwanderern vor, die innerhalb der letzten fünf Jahre nach Kanada gekommen sind; Angehörige der Ureinwohner von British Columbia und ehemalige Militärangehörigen sind im Vergleich zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung stark überproportional vertreten. Als weitere Randgruppe der Gesellschaft wurden auch Transgender ermittelt, deren Anteil aber im Promillebereich liegt.
Die soziale Situation der Befragten wird nach Partnerschaften, Freundschaften, weiteren Angehörigen oder auch Haustieren aufgeschlüsselt. Es werden die Barrieren beschrieben, die eine an Durchschnittsverhältnissen angepasste Wohnsituation verhindern. Ein Abschnitt beschreibt, wie die Befragten zu Geld kommen, ein anderer ihre gesundheitliche Selbsteinschätzung. Dazu finden sich Angaben zur Dauer und Episodenhaftigkeit der Obdachlosigkeit und der Inanspruchnahme von verschiedenen Einrichtungen. Die Verteilung der Befragten über die Metroregion ist sehr inhomogen. Über die Hälfte der Befragten in den verschiedenen Altersgruppen hält sich im Stadtgebiet von Vancouver auf, in dem nur ein Viertel der Einwohner der Region zuhause ist. Schließlich werden auch Wanderungsbewegungen nachgezeichnet, ein Großteil davon findet innerhalb der Metroregion statt.
Der Bericht endet mit einigen Empfehlungen zu weiteren Untersuchungen. So bleibe noch unklar, warum die Krankheitsrate bei den Befragten in der aktuellen Zählung höher ausgeprägt ist, warum sich die Aufenthaltsdauer in den Unterkünften verkürzt habe, und ob der höhere relative Anteil an Obdachlosen in Unterkünften auf eine geringere Rate neuer Obdachlosigkeit oder auf eine bessere Vermittlung in Unterkünften zurückzuführen ist.
Diskussion
Der Bericht schildert in einer recht knappen Form eine Fülle von Aspekten zur Obdachlosigkeit in einer Region, die in Deutschland ungefähr den Regionen Nürnberg oder München vergleichbar ist. Es wird ein plastisches Panorama der Situation der Obdachlosigkeit entwickelt und im Detail werden soziale Schicksale von Randgruppen beleuchtet, die zum sozialen Ausschluss und Obdachlosigkeit führen. Methodologisches wird dabei sehr leserfreundlich aufbereitet und für die auch befragungstechnisch interessierten Leser im Anhang zusätzlich breiter dargestellt. Es findet sich eine große Anzahl interessanter Details – zum kultursensiblen Vorgehen, zur Rolle der Witterung, dem Aspekt der Sicherheit der Zähler oder der benötigten Zahl an Helfern für ein so großes Gebiet (ursprünglich wurde mit 600 Freiwilligen geplant, in der Nachbefragung der Zähler zeigte es sich, dass der Bedarf noch weit höher als 915 Helfer eingeschätzt werden muss). Trotzdem bleiben bei der Kürze der Darstellung auch viele Einzelheiten offen, etwa bei der Anwerbung der Ehrenamtlichen, ihrer Schulung und der genauere Durchführung der Zählung, über die man gerne Näheres erführe.
Für die Situation in Deutschland lässt sich aus der Studie Vieles lernen. Zuvorderst wäre eine Straßenzählung auch hierzulande ein dringendes Desiderat. Der Ansatz mit der Hilfe von Freiwilligen ist dabei nicht nur sehr kostengünstig – im Projektentwurf wurden die Kosten mit überschaubaren 194 T CAD beziffert –, er nimmt auch ein zivilgesellschaftliches Verständnis in Anspruch und festigt es zugleich. Die Breite einer solchen Aktion fördert die differenziertere öffentliche Wahrnehmung der sozialen Randgruppe der Obdachlosen und stellt über die regionalstatistische Erfassung hinaus einen sozialen Lernprozess dar. Das Beispiel aus Vancouver zeigt zudem, dass Randgruppen wie Einwanderer und Veteranen, bei denen Deutschland wahrscheinlich ‚hinterherhinkt‘, eigens Beachtung finden sollten, und es lohnte sich wohl auch, nach Außenseitern wie Transgender zu fragen, um dem sehr heterogenen Personenkreis wohnungsloser Menschen gerecht zu werden.
Der Bericht ist fachlich und zugleich allgemein informativ konzipiert. Insgesamt stellt er ein eindrucksvolles Dokument eines würdevollen Umgangs mit Menschen in Obdachlosigkeit dar, dem hierzulande nachzufolgen wäre.
Fazit
Der Bericht bietet einen spannenden und sehr gut lesbaren Einblick in eine Regionalstudie zur Obdachlosigkeit in Vancouver. Er ist inhaltlich und methodisch sehr anregend und kann für deutsche Verhältnisse als Vorbild dienen, denn für eine fachgerechte Hilfeplanung sind verlässliche epidemiologische Zahlen unabdingbar.
Rezension von
Prof. Dr. Carl Heese
Professur für Rehabilitation an der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
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Es gibt 35 Rezensionen von Carl Heese.
Zitiervorschlag
Carl Heese. Rezension vom 16.07.2015 zu:
Greater Vancouver Regional Steering Committee on Homelessness (Hrsg.): Results of the 2014 Homeless Count in the Metro Vancouver Region. Eigenverlag
() 2014.
Zu beziehen über http://vancouver.ca/files/cov/results-of-the-2014-metro-vancouver-homeless-count-july-31-2014.pdf.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19000.php, Datum des Zugriffs 16.01.2025.
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