Michael Gehler: Modellfall für Deutschland?
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 23.07.2015

Michael Gehler: Modellfall für Deutschland? Die Österreichlösung mit Staatsvertrag und Neutralität 1945 - 1955. Studienverlag (Innsbruck, Wien, München, Bozen) 2015. 1382 Seiten. ISBN 978-3-7065-4062-9. D: 129,00 EUR, A: 49,00 EUR, CH: 84,00 sFr.
„Modellfall“, „Muster“ oder „Majorat“? Der Österreichische Staatsvertrag und die deutsch-österreichischen Beziehungen
Einer, der noch ins Archiv geht und Quellen sprechen lässt – diese eigentlich für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, in besonderer Weise für Historiker geltende Selbstverständlichkeit, steht nicht zufällig unter den Vorbemerkungen einer umfassenden Studie zur Frage, ob die österreichische, politische Lösung von 1955 als ein Präzedenz- oder Modellfall für Deutschland diskutiert wurde, und wenn ja, mit welcher Intensität und Wirkkraft. Die Arbeiten des Historikers vom Institut für Geschichte der Universität Hildesheim, Jean Monnet-Chair und Direktor des Instituts für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien, Michael Gehler, wurden bei Socialnet schon mehrfach gewürdigt: Michael Gehler / Silvio Vietta, Hrsg., Europa – Europäisierung – Europäistik, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/9268.php; Michael Gehler, Hrsg; Die Macht der Städte, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/10743.php u.a. Auf dem Lesetisch des Rezensenten liegt ein weiteres Gehlersches Werk: Andrea Brait / Michael Gehler, Hg., Grenzöffnung 1989. Innen- und Aussenperspektiven und die Folgen für Österreich, Böhlau-Verlag, Wien 2014, 544 S.
Gehler verweist darauf, dass sich Historiker seit rund sechs Jahrzehnten mit der Entstehungs-, Rechts-, Verfassungsgeschichte, den gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen und Positionskämpfen, den innen- und außenpolitischen Erwartungshaltungen und Einflüssen befassen, die sich in den Fragen artikulieren:
- War Österreich bzw. Deutschland ein Modell für den jeweils anderen Staat?
- Welches Abhängigkeitsverhältnis und Zusammenspiel bestanden diesbezüglich?
- Nicht nur wann und wie, sondern auch warum wurden – wenn dann von welchen Akteuren – solche Vorstellungen angedacht, erwogen und verfolgt, aber auch abgelehnt und verworfen?
In diesem Diskurs hebt Gehler in besonderer Weise „den Altmeister dieser Materie und Doyen der neueren österreichischen Rechts- und Verfassungsgeschichte“, Gerald Stourzh, hervor, auf dessen Arbeiten er sich auch in besonderer Weise bezieht. Mit seiner Arbeit jedoch weist Gehler darauf hin, dass Stourzh´ Auffassung, das „Modell Österreich“ habe zu keiner Zeit eine ernsthafte Relevanz für die deutsche Politik gehabt, nicht richtig sei; vielmehr zeigen die Quellenauswertungen, dass führende deutsche und österreichische Außenamtsbeamte, Diplomaten, Geheim- und Nachrichtendienste, Journalisten und Politiker mit vielfältigen, offiziellen und offiziösen Aktivitäten die „Modellfrage“ stellten, Konzepte und Programme entwickelten, ob und ggf. wie die durch den österreichischen Staatsvertrag geschaffene Neutralität des Landes auch für Deutschland gelten könnte. Mit seiner umfangreichen Studie will Gehler keine neue Darstellung des Staatsvertrages leisten; vielmehr ist sein Ziel, „eine Reihe neuer Aspekte und Dimensionen der inneren und äußeren Staatsvertragspolitik im Lichte US-amerikanischer, britischer, deutsch-österreichischer, französischer und Schweizer Perspektiven…und eine chronologisch und systematisch angelegte westliche Perzeptionsgeschichte der sowjetischen Deutschland- und Österreichpolitik vornehmlich der 1950er Jahre sowie der Vieldeutigkeiten der Themenkomplexe ‚Stalin-Noten‘ und ‚Modellfall‘“ aufzuzeigen.“
Aufbau und Inhalt
Der Autor gliedert die Studie in sechs Kapitel.
- Im ersten stellt er die unterschiedlichen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen „bei wechselseitiger Verbundenheit“ in „Österreich und Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg“ in den Jahren 1945 bis 1952 dar.
- Im zweiten Kapitel zeigt er mit einer Fülle von Quellenmaterialien die Interdependenzen auf, aus denen die „Vorentscheidungen in der deutschen Frage“ getroffen wurden, bei denen „statt eines gelungenen Staatsvertrages ein missratener Kurzvertrag für Österreich“ heraus kam.
- Das dritte Kapitel setzt sich mit 1953 als dem „Jahr internationaler Veränderungen … in der Deutschland- und Österreichfrage“ auseinander.
- Im vierten Kapitel wird die „fehlgeschlagene Emanzipation von Deutschland 1954“ anhand der gescheiterten Berliner Außenministerkonferenz diskutiert, und es werden neue Initiativen avisiert.
- Mit dem fünften Kapitel stellt Gehler „das Entscheidungsjahr der Deutschland- und Österreichpolitik 1955“ dar.
- Und im sechsten Kapitel unternimmt der Autor eine „Zusammenfassung und Ausblick auf die folgenden Jahrzehnte“.
Für die Handhabung der fundierten, teilweise auch erstmals veröffentlichten Quellenmaterialien, SW-Abbildungen, Skizzen und Karikaturen stellt der Autor ein sechsseitiges Abkürzungsverzeichnis zur Verfügung. 12 Seiten sind erforderlich, um im Archiv- und Quellenverzeichnis die Fundorte der deutschen, österreichischen, französischen, britischen, schweizerischen und US-amerikanischen Archive, Institute und Nachlässe aufzuführen. 31 Seiten sind für das Literaturverzeichnis notwendig. Auf 77 Seiten bietet Gehler eine „Chronologie zur Geschichte Deutschlands und Österreichs 1943/45 – 1955“ an. Und ein 11seitiges Personenregister erleichtert den Lesern eine spezielle Suche.
Die deutsch-österreichische Geschichte ist nicht zu verstehen, ohne die Beachtung der kriegerischen Entwicklungen vor der Referenzzeit; etwa dass bei den napoleonischen Kriegen Österreicher und Deutsche sowohl Verbündete als auch Gegner waren, dass im preußisch-österreichischen Krieg und der Schlacht bei Königgrätz die österreichischen Truppen geschlagen wurden; und natürlich nicht zu vergessen die österreichischen Gefühle und Einstellungen, wie sie sich beim „ambivalenten Anschluss“ im Nationalsozialismus vollzogen. Sie bei der Analyse der deutschen und österreichischen Bestrebungen nach Souveränität nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg zu bedenken, wie auch die unterschiedlichen Politiken der Siegermächte gegenüber den beiden Ländern im Blick zu haben, gehört zu den Schlüsselfragen, die der Autor dezidiert darstellt und in den kontroversen Positionen von Ost-West-Bindung und Neutralitätsvisionen mit einer Reihe von neuen Beweismaterialien aufzeigt. Sie verweisen auf politische Strategien, wie gleichzeitig auf Zufälligkeiten und innerstaatliche wie außenpolitische Machtdemonstrationen, die sich in den Dokumenten wiederfinden und Kuriositäten aufweisen, wie etwa die Schilderung des Auftretens und Agierens des österreichischen Gesandten bei den Marshall-Plan-Verhandlungen, der sich verordnet hatte, „auf sanften Pfoten (zu) gehen“ und sich nicht in den Vordergrund zu stellen. Sie zeigen aber auch die bereits 1949/50 einsetzenden deutsch-österreichischen Kontakte zur Normalisierung und Erweiterung der Handelsbeziehungen auf. Auf deutscher Seite zelebrierte dabei die Regierung Adenauers in Bonn, und in Österreich die Ballhausplatz-Regierung in Wien eine Politik, die sowohl Elemente der Geringschätzung (Deutschland) und „Zurückweisung“ (Österreich) beinhaltete. Die Unterschiede in der Souveränitätspolitik der beiden Länder jedoch sind für diese Zeitspanne gravierend: Während in Österreich bereits seit Ende 1945 eine gesamtösterreichische Zentralregierung bestand, verhinderte die Teilung Deutschlands solche Bestrebungen. Die „Verkrampfungen“ begannen sich erst langsam aufzulösen durch die Anfang der 1950er Jahre beginnenden ersten europäischen Visionen und Europakonzepte.
Die interdependenten Einschätzungen und Analysen, wie sie im historischen Diskurs bei der Frage nach der Zielsetzung und Bedeutung des 1952 vor allem durch die (neue) Deutschlandpolitik der Sowjetunion in Gang gekommenen intensiven Notenwechsels zwischen den Sowjets und den Westmächten vorgenommen werden, pendeln zwischen „Bluff“, „Störmanöver“ und „Ernsthaftigkeit“. Gehler zeigt in aller Deutlichkeit im zweiten Kapitel die Zusammenhänge auf, wie sie sich bei den Verhandlungen zum österreichischen („Kurz-“) Staatsvertrages ergaben. Es waren die unterschiedlichen, politischen und strategischen Interessen, die von den Siegermächten in dieser Zeit zwischen dem Abschluss eines Staatsvertrages mit Österreich und der Deutschlandfrage ins Spiel gebracht wurden, die den so genannten „Kurzvertrag“ ins Kreuzfeuer der Auseinandersetzungen sowohl in Österreich, als auch in Deutschland und zwischen den Siegermächten brachten. Die Kontroversen werden deutlich in einem Flugblatt, mit dem die kommunistische Propaganda 1952 gegenüber stellt: „Was bedeutet für Oesterreich Staatsvertrag / Kurzvertrag“: „Staatsvertrag = Wirkliche Unabhängigkeit, demokratisches Lebe, wirkliche Freiheit… Kurzvertrag = Freie Hand für die Amerikaner. Rückkehr zur ‚Dollfuß-Straße‘, Einziehung der Oesterreicher in die Europaarmee…“. Gehlers Fazit: „So begab sich spätestens seit 1952 im politischen Handeln ein unterschiedliches, zielgerichtetes Beschreiten getrennter Wege, die Österreich und die Bundesrepublik gehen sollten: Neutralität, Einheit und Westorientierung einerseits; NATO, Westintegration und Teilung Deutschlands andererseits“.
Im dritten Kapitel wird das Jahr 1953 als „ein Jahr internationaler Veränderungen in der Deutschland- und Österreichfrage“ thematisiert. Stalins Tod am 5. März 1953, wie auch die Bemühungen der Amerikaner und Europäer, bei der Nachkriegsregelung in Europa die Westintegration zu stärken, zeigten politische Entwicklungen, die einerseits gewisse Verständigungs- und Annäherungsprozesse zwischen den Blöcken andeuteten, andererseits aber auch massive Konflikte und die Ausweitung des „Kalten Krieges“ bewirkten. Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR und die Zementierung der Teilung Deutschlands brachten auch diplomatische Lösungsvorschläge ins Spiel, dem Österreich-Diskurs folgend, auch für Deutschland einen Neutralitätsstatus anzustreben. Solche Überlegungen, auch propagiert durch österreichische Politiker und Diplomaten, hatten allerdings angesichts der eindeutigen Westorientierung und der „Politik der Stärke“ durch die Adenauer-Regierung, keine Chance. Aus der Sichtung der historischen Quellenmaterialien ergib sich für Gehler die Analyse: „Die Niederschlagung des 17. Juni war vor allem auch für Adenauer dienlich, weil er sich in seiner bisherigen Politik bestätigt sehen und angesichts der sowjetischen Repressionen in der DDR im Zuge der eskalierenden Unruhen und der Unterstützung der SED intern jedenfalls von Gesprächen auf Vier-Mächte-Ebene abraten konnte, wenngleich er aus taktischen Gründen solche öffentlich forderte“.
1954 kennzeichnet sich einerseits durch das innen- und außenpolitische Bemühen Österreichs, die eigenen Interessen im internationalen Pokerspiel nicht allzu sehr mit der Lösung der Deutschlandfrage zu verbinden und die Eigenständigkeit ihrer Politik zu betonen. Dazu schien sich eine Möglichkeit bei der Berliner Außenminister-Konferenz vom 25. Januar bis 18. Februar 1954 zu bieten, bei der die vier Außenminister der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges über Maßnahmen zur Minderung der Spannungen in den internationalen Beziehungen, über die deutsche und die österreichische Frage diskutierten; dabei war Österreich, nicht zuletzt durch die Bemühungen bei den Vereinten Nationen, als gleichberechtigter Verhandlungspartner zugelassen worden, während der bundesrepublikanischen Seite lediglich ein Beobachterstatus zustand. Die dabei ganz unterschiedlichen Einschätzungen der Österreicher wie der Deutschen zum Erfolg oder Misserfolg der Konferenz, werden durch die zum Teil erstmals in diesem Zusammenhang veröffentlichten Quellenmaterialien und Situationsschilderungen sichtbar gemacht und vermitteln ein teilweise neues Bild von den Euphorien und Ängsten auf österreichischer wie deutscher Seite. So waren durch das Scheitern der Verhandlungen bei den Konferenzen in Berlin und später in Wien die Befürchtungen nicht auszuschließen, dass, nach dem Beispiel der „Berlin-Blockade“ auch eine „Wien-Blockade“ befürchtet werden müsse.
Das fünfte Kapitel wird von Gehler als das „Entscheidungsjahr der Deutschland- und Österreichpolitik 1955“ getitelt. Die bisherigen historischen Analysen geben noch keine eindeutige Antwort darauf, „ob Moskau am Beispiel Österreichs im Frühjahr 1955 ein Muster für Deutschland schaffen wollte“. Die vom Autor gut dokumentierten „Lockrufe“ einerseits, wie auch die „Warnrufe“ andererseits, die diplomatischen Bemühungen und die nach dem Prinzip der Echternacher Springprozession sich vollziehenden Verhandlungen, lassen keine eindeutige Antwort zu, jedoch die Vermutung: „Die Einsicht in die Schwierigkeit und Unmöglichkeit, mit den Westmächten ein dem Kreml genehmes Arrangement in der Deutschlandfrage zu finden, schloss auch Moskaus Österreich-‚Modellfall‘ – Absichten für Deutschland für 1955 und die weitere Zukunft nicht aus“. Die unterschiedlichen, politischen Positionen zur Frage, ob die „Österreich-Lösung“ auch eine für Deutschland sein könne, etwa die anfangs dezidiert zustimmende Frankreichs, der Sowjetunion, der DDR, der USA, von Großbritannien, nicht zuletzt der skeptischen bis ablehnenden bundesrepublikanischen (offiziellen) Einstellungen, der Gründung des Warschauer Paktes und damit der Verschärfung des Ost-West-Konflikts, werden in insgesamt 70 Unterkapiteln dokumentiert und kommentiert. Der Zwiespalt der „immerwährenden Neutralität“, wie er sich im Memorandum vom 15. April 1955 (nach dem Schweizer Muster) darstellte, zeigte sich bald; spätestens nach den Bemühungen der Österreicher, (west-)orientierten Zusammenschlüssen und Verträgen, wie etwa dem „Gemeinsamen Markt“ (EWG) oder der Montanunion beizutreten, aber auch bei Initiativen zur Lösung der „Südtirol-Frage“ im Sinne der österreichischen Interessen.
„Hat die sowjetische Führung 1955 mit Hilfe des – wie auch immer gearteten – ‚Österreich-Beispiels‘ ein neutrales und vereintes Deutschland angestrebt?“ – „War ein solches auch realisierbar?“ – „Inwieweit war die in Mitteleuropa geschaffene Nachkriegskonstellation in den Jahren von 1945 bis 1955 und besonders im letztgenannten Jahr unveränderbar oder doch noch revidierbar?“; diese Fragen und das umfangreiche, historische Bemühen des Autors, darauf eine adäquate, beweisfähige Antwort zu finden, hat die bis dahin 1.110 Seiten umfassende Studie gestellt und darauf mit Quellenmaterialien und Analysen Antworten gesucht. Im sechsten Kapitel fasst Michael Gehler auf 129 Seiten seine Ergebnisse zusammen: „Diese Studie hat gezeigt, dass die herkömmliche, teils von politischen Abwehrreflexen und Feststellungen gekennzeichnete, teils auch von ideologischen Vorurteilen nicht freie, nämlich kategorische Ablehnung und strikte Zurückweisung vom ‚Modellfall‘ Österreich für Deutschland in einer wissenschaftlichen Abhandlung ausgewogener, detaillierter und differenzierter darzustellen ist“. Dass dabei die genaue Nachschau nach den Imponderabilien, den persönlichen wie politischen Positionen der in diesem Prozess der Macht- und Meinungsbildung Beteiligten, und nicht zuletzt die geostrategischen Entwicklungen im Ost-West-Konflikt ein Schlüssel für dieses vielfach verriegelte, verklebte, unbrauchbar gemachte, immer wieder neuen Restaurierungsversuchen ausgesetzte Schloss sein könnte, verdeutlicht Gehler mit seiner klugen, faszinierend, für Historiker und geübte Historienleser wertvollen Studie.
Aus den vielen, passend zu der jeweiligen Thematisierung ausgewählten Karikaturen sollen exemplarisch zwei erwähnt werden, die wesentliche Stränge der bundesrepublikanischen und österreichischen Politiken in der Zeit der Entstehungsgeschichte des österreichischen Staatsvertrags und der politischen Strategien in den beiden Ländern im Umfeld der geostrategischen Entwicklungen verdeutlichen können: Da ist zum einen das Bild, das der DDR-Karikaturist Arndt gezeichnet hat und das am 3. 2. 1955 in „Neues Deutschland“ erschienen ist. Es zeigt die Reaktion Adenauers und damit charakterisierend die bundesrepublikanische Haltung zu den Vorschlägen der Sowjetunion zur Deutschlandpolitik, nämlich den auf einer Schallplatte abgespielten, immer wiederholten Satz: „Nichts Neues. Nichts Neues. Nichts Neues“. Sie verdeutlicht die Politik, die sich in der Parole: „Keine Experimente“ artikulierte (und erst viel später durch Willy Brandts Aufruf „Mehr Demokratie wagen!“ eine neue Wendung erhielt). Die zweite Karikatur, die auch als Titelbild verwendet wurde, erschien in den Zeitungen Daily Mirror und L´Express im Januar/Februar 1955 und ist mit „Wiener Walzer“ umschrieben: Der damalige sowjetische Außenminister Wjatscheslaw Michailowitsch Molotow tanzt einen flotten Walzer mit dem österreichischen Bundeskanzler Julius Raab, während im Hintergrund der deutsche Bundeskanzler Adenauer neidisch zuschaut. Michael Gehler charakterisiert die Situation so: „Adenauers Glaube basierte auf einer fundamentalen Fehlannahme. Die Einheit Deutschlands und damit auch die Einheit Europas war nicht nur mit dem Westen und schon gar nicht lediglich mit Frankreich und Großbritannien zu schaffen…“.
Fazit
Die anfangs gestellte Frage, ob der österreichische Staatsvertrag ein „Modellfall“ auch für eine andere Politik in Deutschland hätte sein können, beantwortet Gehler mit einer Einschätzung der konkreten Situationen und europäischen Entwicklungen in der Zeit von 1945 bis 1955. Dabei fokussiert er seine Analyse auf die politischen Einstellungen der im Prozess der (realistischen) Bewältigung einer interessen- und ideologieorientierten Nachkriegsordnung beteiligten Akteure; zuvorderst dem ersten deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer, den er als einen „zutiefst (negativ) geprägte(n) Mensch(en“ charakterisierte, der ein „tiefes Misstrauen gegenüber seinen eigenen Landsleuten (hegte), die er für politisch unreif hielt und ihnen daher nicht recht über den Weg traute“; gleichzeitig ihm aber auch bescheinigte, „dass der Begründer der Bonner Republik mit seiner Politik der Westintegration die Basis schuf, die zu den grundlegenden Rahmenbedingungen (Grundgesetz) und Voraussetzungen (NATO- und EWG-Mitgliedschaft) für die deutsche Einheit wurde“.
Michael Gehlers Vermutung, dass „ein neutralisiertes Gesamtdeutschland ( …) den westeuropäischen Integrationsprozess wahrscheinlich gefährdet, wenn nicht gesprengt (hätte)“, dürfte deshalb richtig sein. Und die Einschätzung - „Das genau war eine der Absichten Moskaus und daher auch der Modellfall im Grunde ernst gemeint“ – eine zutreffende Diagnose sein. Man darf auf die Reaktionen von Historikern und Zeitgenossen gespannt sein, die Gehlers Fragen zur Relevanz der „Österreichlösung mit Staatsvertrag und Neutralität“ und seiner Bestandsaufnahme der geschichtlichen und politischen Ereignisse in den Jahren 1945 bis 1955 zustimmen, oder eine völlig andere Interpretation vornehmen. In jedem Fall sollten sie sich, wie Gehler das in vorbildhafter Weise und jahrelanger, intensiver Forschungsarbeit getan hat, in die Archive begeben, zukünftig auch in diejenigen, die bisher für die historische Forschung noch verschlossen sind!
Die Forschungsarbeit sollte in den öffentlichen Büchereien, den Bibliotheken der Volkshochschulen, Hochschulen und in den Handapparaten von Europapolitikern zur Verfügung stehen.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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