Andrea Brait, Michael Gehler (Hrsg.): Grenzöffnung 1989 (... Folgen für Österreich)
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 28.07.2015

Andrea Brait, Michael Gehler (Hrsg.): Grenzöffnung 1989. Innen- und Außenperspektiven und die Folgen für Österreich. Böhlau Verlag (Wien Köln Weimar) 2014. 544 Seiten. ISBN 978-3-205-79496-7. D: 79,00 EUR, A: 79,00 EUR, CH: 105,00 sFr.
1989 – Chiffre oder Charta?
Historiker, Kultur- und Politikwissenschaftler sprechen von 1989 als dem Jahr, in dem sich politische und gesellschaftliche Ereignisse vollzogen, die die bis dahin über Jahrzehnte hinweg geltende bipolare Weltordnung (scheinbar) beendeten und den im Ost-West-Konflikt und im „Kalten Krieg“ geschaffenen „Eisernen Vorhang“ und die „Mauer“ zum Einstürzen brachten. In zahlreichen historischen und politischen Analysen wird bereits von einer Epoche vor und einer Epoche nach 1989 und sogar von einem „Mythos 1989“ (Martin Jankowski) gesprochen; was bedeutet, dass die lokal- und globalpolitischen Einschätzungen über die Lage der Welt einer Zäsur unterzogen werden. Die Frage allerdings lässt sich bisher nicht beantworten, ob „Kalter Krieg vor 1989 Kalter Krieg nach 1989 bleibt“, oder ob der „Mauerfall ‚Friedens‘-Fall“, im tatsächlich mehrdeutigem Sinn ist.
Entstehungshintergrund und Herausgeberteam
Nun kann man entweder eine apodiktische oder eine deduktive Antwort versuchen und dabei entweder positiv-hoffend, oder negativ-pessimistisch argumentieren. Wenn es darum geht, nahe geschichtliche, politische und gesellschaftliche Ereignisse darauf hin zu prüfen, wie intensiv oder oberflächlich, aktiv oder passiv, bewusst oder unbewusst, richtig oder falsch sie im individuellen und öffentlichen Bewusstsein der Menschen verankert sind, werden bei den wissenschaftlichen Analysen und Berichten Forschungskonzepte und -methoden herangezogen, die ein objektives Bild ermöglichen sollen. Die globalpolitischen Ereignisse des Jahres 1989, vor allem die Auflösung des Ost-West-Konflikts mit dem Fall der Mauer und Grenzsicherungsanlagen zwischen dem West- und Ostblock in Europa, gehören dazu. Die Folgen dieser Veränderungsprozesse, wie die Wiedervereinigung Deutschlands, der Loslösung der bisherigen Satellitenstaaten von der Sowjetunion, zeigen sich in erster Linie in den direkt beteiligten Ländern, wie auch bei den globalen Aktivitäten und Hoffnungen, dass sich nunmehr daraus tatsächlich so etwas wie eine Weltfriedensordnung ergeben möge. Wenig im Fokus der öffentlichen, politischen, gesellschaftlichen und forschungswissenschaftlichen Aufmerksamkeit jedoch sind die Aktivitäten, Möglichkeiten und Wirkungen, wie sie sich für die Länder ergeben, die in die Trouble des Ost-West-Konflikts nicht eindeutig vermischt waren, oder sich aufgrund ihres staatspolitischen neutralen Status nicht direkt beteiligt fühlten, wie z. B. Österreich, das durch den Staatsvertrag von 1955 als neutraler Staat gilt und immer wieder auch versuchte, ähnlich wie die Schweiz und die so genannten blockfreien Staaten, innen- und außenpolitisch unabhängig von den bipolaren Blöcken zu agieren (vgl. dazu: Michael Gehler, Modellfall für Deutschland? Die Österreichlösung mit Staatsvertrag und Neutralität, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/19032.php). Wurden ihre Möglichkeiten und ihre strategische Bedeutung unter- oder überschätzt? Waren sie in diesem überraschenden und sich schnell vollziehenden Prozess überfordert? Welche Konzepte lagen vor? Wie vollzog sich die Meinungsbildung? Welche Informationen und Visionen wurden von wem verbreitet? Die Analyse der Ereignisse zum Ende der bipolaren Weltordnung stellt für Historiker eine besondere Herausforderung dar; und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen liegen aufgrund der zeitlichen Nähe noch keine systematisierten und geordneten Quellenmaterialien, Dokumente und Berichte vor, auf die eine historisch-politische Analyse gesichert zurückgreifen könnte; zum anderen aber bietet die zeitliche Nähe auch die Chance, Berichte und Erfahrungen von Zeitzeugen einzubeziehen.
Der Zukunftsfonds der Republik Österreich ( http://www.zukunftsfonds-austria.at/ ) hat 2010 das Projekt „Österreich und seine Nachbarn. Kontinuitäten, Brüche, Neuansätze, Veränderungen der Identität seit 1989“ mit dem Ziel initiiert, eine „umfassende Darstellung und Beurteilung der (angenommenen) Transformation im Gefolge der Zäsur des Jahres 1989“ vorzunehmen. Ein sechsköpfiges, wissenschaftliches Team unter der Leitung von Michael Gehler und den Mitgliedern Andrea Brait, Marcus Gonschor, Oliver Kühschelm, Andreas Pudlat und Andreas Schimmelpfennig führte in rund zweijähriger Arbeit eine Untersuchung über „Offene Grenzen, neue Barrieren und gewandelte Identitäten. Österreich, seine Nachbarn und die Transformationsprozesse in Politik, Wirtschaft und Kultur seit 1989“ durch, die auch eine österreichweite, repräsentative Meinungsumfrage vom Juli 2011, und eine im November 2012 in Salzburg veranstaltete interdisziplinäre Tagung zum Thema „Grenzöffnung – Grenzen im Kopf – Grenzüberwindung“ einschloss. Die Ergebnisse werden in dem von der Lektorin am Institut für Geschichte der Universität Wien, Andrea Brait, und dem Leiter des Instituts für Geschichte der Universität Hildesheim, Jean Monnet Chair ad personam für vergleichende europäische Zeitgeschichte und Geschichte der europäischen Integration und Direktor des Instituts für Neuzeit und Zeitgeschichtsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Michael Gehler, als Sammelband vorgelegt. 20 Autorinnen und Autoren thematisieren interdisziplinär die historische und aktuelle Entwicklung.
Aufbau und Inhalt
Der Band wird in sechs Kapitel gegliedert:
- „Wirtschaftliche Ost-Kontakte“,
- „Diplomatie und Einzelakteure“,
- „Grenzen im Wandel“,
- „Erweiterung Europas“,
- „Österreichs Politik aus Sicht der Nachbarn“ und
- „Kultur- und identitätspolitische Folgen der Umbrüche“
Andrea Brait und Michael Gehler führen in die Themenstellungen ein und präsentieren die Ergebnisse der repräsentativen Umfrage. Die differenzierten Aussagen zu den 18 inhaltlichen Fragen ergeben eine Fülle von Einschätzungen der (österreichischen) Bevölkerung zum Fall des Eisernen Vorhangs 1989, interessanterweise mit größerer Intensität und Engagement als etwa zum EU-Beitritt des Landes 1995. Der Wirtschafts- und Sozialhistoriker von der Universität Wien, Ernst Bruckmüller, steuert mit den zweiten Beitrag zum Einführungskapitel eine sensible, scheinbar bisher im wissenschaftlichen, historischen Diskurs wenig diskutierte Fragestellung bei. „Prag ist weiter weg als New York“ titelt er seinen Beitrag, in dem er Anmerkungen zum österreichischen Antislawismus macht. Dabei fragt er nach den geschichtlichen Ursprüngen von der Ablehnung und Stereotypisierung von Fremden und Fremdem, zeigt auf, wie Vorurteile gegen das Slawentum sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg weiter entwickelten und bis heute wirksam sind; und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen als dumpfe Vorurteile und rassistische Einstellungen, die kein besonderes Nachdenken erfordern oder auch möglich machen, sondern tradiert werden; zum anderen aber auch als „geronnene Bilder“, die von gesellschaftlichen Meinungsbildern und Ideologen bewusst gesteuert und verbreitet werden. Sein Lösungsvorschlag: Die Verantwortung für Entstehen und Wirkungen von Vorurteilen liegt nicht bei den Stereotypen selbst, sondern bei den gesellschaftlichen Akteuren, die sie schaffen und einsetzen, aber auch relativieren und abbauen können.
Fritz Breuss von der Wirtschaftsuniversität in Wien thematisiert die „Auswirkungen der Ostöffnung 1989 auf Österreichs Wirtschaft“. Er stellt, im Gegensatz zu den Schweizer Aktivitäten einer ökonomischen Orientierung hin zu weltweiten Globalisierungsbemühungen, für die österreichische Wirtschaft eine stärkere Konzentrierung in Richtung der Staaten Mittel- und Osteuropas (MOEL) fest. Die sich dabei vollziehenden wirtschaftlichen Chancen und Risiken bei diesem Prozess des Osthandels hin zur Ostöffnung und der Europäischen Erweiterung werden dezidiert aufgewiesen und mit der Vision eines „Donau-Europa“ konkretisiert. Er registriert für die österreichische Wirtschaft einen „Wachstums-Turbo“ und einen „Wachstumsbonus“, stellt fest, dass „die Osterweiterung … ( ) für die österreichische Volkswirtschaft insgesamt ein großer Erfolg (war), nicht aber für alle Beteiligten“.
Der Volkswirtschaftler vom Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien, Oliver Kühschelm, informiert mit seinem Beitrag „Den ‚Osten‘ öffnen“ über die Arbeitsweise und Bedeutung des 1947 gegründeten Donaueuropäischen Instituts. Diese als Verbindungsglied zwischen ökonomischen und politischen Interessen agierende „Zentralstelle zur Erforschung und praktischen Behandlung aller mit dem Donauproblem in Zusammenhang stehenden Fragen, insbesondere auf wirtschafts- und verkehrpolitischem Gebiet“ wirkte sowohl als Kontakt- und Vermittlungsmöglichkeit zwischen den politischen Blöcken, als auch, bis heute, als „Organization für International Economic Relations“ (OIER) als internationales Netzwerk. Zielsetzungen und Irrwege, bis hin zu abstrusen Repliken und nationalen Sehnsüchten nach einer „Habsburgermonarchie“, werden in dem Beitrag sach- und quellenkundig aufgezeigt „als Teil des Dispositivs der West-Ost-Beziehungen im weiteren und des Osthandels im engeren Sinn“.
Das zweite Kapitel „Diplomatie und Einzelakteure“ eröffnet Michael Gehler mit seinem Beitrag „Bonn – Budapest – Wien“, in dem er in besonderer Weise auf das – scheinbar bisher im historischen und dokumentarischen Diskurs wenig beachtete und gewürdigte „deutsch-österreichisch-ungarische Zusammenspiel als Katalysator für die Erosion des SED-Regimes 1989/90“ eingeht. Dabei hebt er die Bedeutung der österreichischen Akteure bei den (vor-)revolutionären Geschehnissen in Mittel- und Osteuropa hervor und dokumentiert die längst vor den Wandelereignissen stattgefundenen und sorgsam und behutsam gepflegten österreichisch-ungarischen Kontakte und Verhandlungen, die zur Lockerung und schließlich faktisch erzwungenen Ausreisebestimmungen von DDR-Bewohnern von Ungarn nach Österreich und zur Weiterreise in die Bundesrepublik führten; eine aus der Sicht und Verpflichtung des österreichischen Unabhängigkeitsvertrages heikle Position (siehe dazu: Michael Gehler, Modellfall für Deutschland?, a.a.o.). So zeigte sich, trotz des innenpolitischen Dissenses in Österreich wegen der (allzu schnellen?) Auflösung des DDR-Regimes, dass „das österreichisch-ungarische Vorspiel im Sommer 1989 ( ) … wesentlich für die Rasanz der Entwicklung im Herbst 1989 in Deutschland (war)“.
Der (Hildesheimer) Historiker Marcus Gonschor unternimmt mit seinem Beitrag „Die USA und der Umbruch in Mittel- und Osteuropa 1989/90“ eine Analyse der autobiographischen Darstellungen von Ronald Reagan, Helmut Kohl und George H. W. Bush zu den revolutionären Ereignissen. Dabei konzentriert er sich mit seinen Textinterpretationen einerseits auf „die Wichtigkeit des gegenseitigen persönlichen Verhältnisses der Staatsmänner für die Gestaltung des politischen Prozesses“, und andererseits auf „die Rolle der USA auf dem Weg zur deutschen Einheit im Kontext der Umbrüche in Mittel- und Osteuropa“. Interessant und bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, „dass die Akteure Bush und Kohl rückblickend zumeist für sich ‚die Rolle des eigentlichen Vaters des Erfolgs‘ beanspruchen“, wenn sie auch in unterschiedlicher Deutlichkeit die Verdienste der anderen betonen.
Der Wiener Historiker und Abteilungsleiter im (österreichischen) Bundeskanzleramt / Bundespressedienst und Geschäftsführer des Karl von Vogelsang-Instituts zur Erforschung der Geschichte der christlichen Demokratie in Österreich, Helmut Wohnout, setzt sich mit dem Beitrag „Vom Durchschneiden des Eisernen Vorhangs bis zur Anerkennung Sloweniens und Kroatiens“ mit der Rolle und dem Wirken des österreichischen Außenministers Alois Mock in der Zeit der europäischen Umbrüche 1989 – 1992 auseinander. Dabei differenziert er zum einen zwischen den vielfach überschätzten Möglichkeiten und Wirkungen Österreichs bei den Auflösungsprozessen Jugoslawiens und den seiner Ansicht nach vernachlässigten Geschichtserzählungen über die Bedeutung des damaligen österreichischen Außenministers, wie auch seines ungarischen Partners Gyula Horn; und er vermutet, „dass Österreich im Koordinatensystem der deutschen Politik doch nicht jene Rolle zukommt, wie das manche in der Alpenrepublik zu vermeinen glauben“.
Der wissenschaftliche Mitarbeiter am Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Maximilian Graf, reflektiert mit „Österreich und das ‚Verschwinden‘ der DDR 1989/90“ über ostdeutsche Perspektiven mit Blick auf die historischen Langzeitentwicklungen. Angesichts der spätestens seit der diplomatischen Anerkennung der DDR durch Österreich im Jahr 1972 sorgsam gepflegten und ausgebauten Beziehungen zwischen beiden Ländern – immerhin war es der damalige österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky, der als erster westlicher Regierungschef 1978 die DDR besuchte, und der ostdeutsche Staats- und Parteichef Erich Honecker 1980 den Besuch erwiderte – sind die eher zögerlichen und abwartenden Haltungen der offiziellen österreichischen Politik zur (anfänglichen) deutschen Wiedervereinigung zu betrachten. Die Auswertung der Quellen der in Wien etablierten Grundorganisation der SED fördert eine Reihe von bisher im historischen Diskurs eher weniger beachteten politischen Positionen und Reaktionen sowohl der Österreichischen als auch der DDR-Seite zutage.
Im dritten Kapitel „Grenzen im Wandel“ beginnt die Bamberger Ethnologin, Kunstgeschichtlerin und Romanistin Juliane Holzheimer mit dem Beitrag „Grenzen der Grenzüberschreitung“, indem sie eine Analyse ihrer lebensgeschichtlichen Interviews mit DDR-Flüchtlingen aus dem Jahr 1989 vornimmt. In der aus den Feldforschungen zu ihrer Magisterarbeit „Du bist hier verkehrt“ entstandenen „Erinnerungsinterviews“ filtert die Autorin mit einem dreifach notierten Grenzbegriff der Flucht als persönliche Lebensgeschichte, als Narration und von Erinnerungswahrnehmungen und -fokussierungen Erzähl- und Erinnerungsgrenzen heraus. Sie plädiert „für einen Perspektivenwechsel innerhalb des deutsch-deutschen, innergesellschaftlichen Erinnerungskonflikts“, bei dem es darum geht, die überkommene, dominante (westdeutsche) Einschätzung vom „DDR-Flüchtling“ aufzulösen und einen eigenen Erinnerungsdiskurs zuzulassen, der „zu einer Betrachtung der DDR als einer Lebens- statt einer Systemwelt“ führen kann.
Der wissenschaftliche Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Universität Hildesheim, Andreas Pudlat, nimmt sich mit den Beitrag „Kriminalitätsbekämpfung in Zeiten offener Grenzen“ die Situation von Österreichs Grenzräumen als kriminalstrategische Spannungsfelder vor. Er beginnt mit den Problemstellungen von Österreichs Grenzen während des Kalten Krieges, den dabei auftretenden Konfliktsituationen und den Herausbildungen von offiziellen und offiziösen Positionen und spannt den Bogen hin zu den nach dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union sich entwickelten polizeilichen und Grenzsicherungsordnungen des Schengen-Prozesses, mit den bekannten Grenz-Einstellungen sowohl in der offiziellen Politik, als auch in den Köpfen der Menschen. Die zunehmenden Migranten- und Kriminalitätszahlen führen schließlich zur Verfestigung von Vorurteilen gegenüber dem „Osten“. Sie als (zunehmende) wertkartographische Denkmuster wahrzunehmen und zu verändern, bedarf es einer intensiven Betrachtung und Erforschung der „(Kriminalitäts-)Ängste in der österreichischen Bevölkerung… (als) Ausdruck eines kriminalstrategischen Spannungsfeldes zwischen objektiver Lage, subjektiver Wahrnehmung und politischem Opportunismus“.
Die Heidelberger Historikerin Angela Siebold nimmt mit ihrem Beitrag „Österreich im ‚grenzenlosen Europa‘ nach 1989“ die polnischen und deutschen Diskussionen um den österreichischen Schengen-Beitritt auf. Dabei unternimmt sie keine österreichische Nabel(Innen-)schau, sondern fragt nach den Wahrnehmungen der europäischen Nachbarn zur Lage und Politik des Landes zwischen Kaltem Krieg, Grenzöffnung, Schengen-Aufnahme und Schengener Osterweiterung. Es ist die Lage Österreichs als Transit- und Migrationsraum, die sich im medialen, ethnisch und europäisch wahrgenommenen Aufmerksamkeitspegel spiegelt und sich in der Spannweite von Einschätzungen wie – „Österreich ist der größte Profiteur der EU-Erweiterung“, und „Bremser der europäischen Einigungspolitik“ – bewegt.
Das vierte Kapitel „Erweiterung Europa“ eröffnet der wissenschaftliche Mitarbeiter beim Institut für Politikwissenschaft der Universität Duisburg-Essen, Oliver Schwarz, mit seinem Beitrag „Die Erweiterung der Europäischen Union“. Er diskutiert dabei die politischen Rahmenbedingungen der EU-Politik und thematisiert die Entwicklungen und Perspektivenwechsel, wie sie sich als „Wandel eines außenpolitischen Überinstruments“ darstellen. Dabei setzt er sich mit dem Grundtenor auseinander, der sich in der europäischen (Ost)Erweiterungspolitik als „konditionale Krönung“ etabliert hat und in verschiedenen Ausprägungen und Zielverschiebungen als Bestandteil einer konsequenten und nicht relativierbaren„Immer-Weiter-Vollendung“ (‚Acquis communautaire) darstellt. Dass dabei je nationale und regionale Überlegungen und flankierende Überbrückungsmaßnahmen ins Spiel kommen, verdeutlicht die Problematik der weitergehenden Erweiterungsrunden.
Der Politikwissenschaftler und Leiter des Fachbereichs Internationale Sicherheit am Institut für Strategie und Sicherheitspolitik der Landesverteidigungsakademie in Wien, Günther Hauser, reflektiert mit seinem Beitrag „Das Jahr 1989 aus österreichischer und internationaler sicherheitspolitischer Perspektive“. Die im Spannungsfeld von Neutralitätspolitik, EU-Mitgliedschaft und Migrationspolitik entstandenen Grenzschutz- und Sicherheitsmaßnahmen erforderten eine sensible, glaubwürdige und gleichzeitig effektive Außen- und Sicherheitspolitik, die insbesondere eine Neuinterpretation des staatlichen Neutralitätsdenkens notwendig machte.
Der Baseler Politikwissenschaftler Georg Kreis ist uns bekannt durch seine zahlreichen europakritischen und -kulturellen Arbeiten (Georg Kreis, Hrsg., Europa und die Welt. Nachdenken über den Eurozentrismus, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14519.php; sowie: ders., Babylon Europa. Zur europäischen Sprachlandschaft, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/13319.php). Sein Beitrag „Österreichs europapolitischer Aufbruch 1987 – 1995 aus der Sicht der schweizerischen Nachbarn“ thematisiert die öffentlichen, medialen Wahrnehmungen der politischen Entwicklung des Nachbarn, wie sie sich in der Neuen Zürcher Zeitung darstellte. Dabei registriert der Autor sowohl mahnende und selbstbewusste Fingerzeige des neutralen Nachbarn Schweiz in Richtung des neutralen Nachbarn Österreich, als auch durchaus neidische Aufmerksamkeit ob der beobachteten ökonomischen Entwicklung, die sich für Österreich durch den EU-Beitritt und das wirtschaftspolitische Wirken vor allem in Richtung Osteuropas.
Im fünften Kapitel „Österreichs Politik aus Sicht der Nachbarn“ riskiert der Politikwissenschaftler vom Institut für Internationale Studien der Karls-Universität in Prag und vom Masaryk-Institut der Tschechischen Akademie der Wissenschaften, Miroslav Kun?tát, mit seinem Beitrag „Die Tschechoslowakei und Österreich vor dem Umbruch 1989/90“ einen nüchternen Blick auf die tschechoslowakisch-österreichischen Beziehungen und die offizielle tschechoslowakische Außenwahrnehmung. Es waren vor allem die vielfältigen, offiziell und offiziös gewachsenen (vor allem wirtschaftlichen, aber auch ideologischen) Kontakte und Begegnungen, die „trotz der fortdauernden Bipolarität im internationalen Umfeld … eine spürbar zunehmende Multiliteralisierung wichtiger Themenbereiche wie Sicherheit, Wirtschaft, Umwelt, Bürger- und Menschenrechte“ entstehen ließen, gleichzeitig aber auch latente, historisch mitgeschleppte Vorurteile und Stereotypenbildungen nicht vollständig verhinderten.
Der Rechts- und Politikwissenschaftler Simon Gruber ist Referent für politische Fragen an der österreichischen Botschaft in Bratislava und Lehrbeauftragter an der Bratislava International School of Liberal Arts, skizziert mit seiner Metapher „So nah und doch so fern“ die slowakischen Wahrnehmungen der Beziehungen zu Österreich 1989 und in der Folgezeit. Die Aufhebung der Visumspflicht für slowakische Bürger zum Besuch im Nachbarland am 4. Dezember 1989 hat in den folgenden Tagen zu einer wahren Völkerwanderung nach Österreich geführt; mehr als eine Viertelmillion Tschechoslowaken machten sich zu Kurzbesuchen auf den Weg nach Wien auf, und sie erweiterten und verbesserten damit die persönlichen und offiziellen Beziehungen zwischen Österreich und der seit 1993 unabhängigen Slowakei, brachten allerdings auch Ernüchterungen und Enttäuschungen zutage.
Lázló J. Kiss vom Institut für Internationale Studien an der Corvinus-Universität in Budapest und wissenschaftlicher Direktor des Ungarischen Instituts für Auswärtige Angelegenheiten, vergleicht mit seinem Beitrag „Politik und Wahrnehmung“ Ungarns Außenpolitik mit der von Österreich in den Umbruchsjahren von 1988 bis 1991. Er erkennt im „Außenbild der österreichischen Politik teils auch das Selbstbild der ungarischen Politik und (im) Außenbild der ungarischen Politik teils auch das Selbstbild der österreichischen Politik“. In dieser Gemengelage entwickelten sich sowohl die österreichischen Hoffnungen auf den schließlich vollzogenen EU-Beitritt, als auch die euphorischen wie widerständigen Visionen in Ungarn, der „kleinen Grenzöffnung“ am 27. Juni 1989 in der Nähe der Stadt Sopron (Ödenburg) durch die Außenminister von Österreich und Ungarn, Gyula Horn und Alois Mock, die „große Grenzöffnung von oben“ hin zur europäischen Einigung folgen zu lassen.
Im sechsten (Schluss-)Kapitel „Kultur- und identitätspolitische Folgen der Umbrüche“ reflektiert die Literaturwissenschaftlerin und Historikern Felicitas Söhner vom Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universität Ulm über semantische Diskurse und historische Verantwortung zum „Umbruch von 1989“. Es sind Begrifflichkeiten, Benennungen und Charakterisierungen bei politischen Veränderungsprozessen, die Meinungen bilden und Geschichtsbewusstsein beeinflussen (und steuern). Sie setzt sich dabei mit den Termini auseinander, wie sie sich medial und als Politikspeach zeigen und als kontroverse Deutungen etablieren; etwa der Frage, ob die Umbruchsituationen von 1989 sich als „Revolution“ darstellen. Die Autorin verweist dabei auf die Aufgaben und Herausforderungen von Historikern, den Prozess des Politik- und Geschichtsverständnisses durch unabhängige Theorien und Fakten professionell zu begleiten und im gesellschaftlichen Bewusstsein deutlich zu machen, dass es kein Automatismus ist, der Wandlungsprozesse und Perspektivenwechsel gelingen lässt: „Denn nur indem Berührungsängste zwischen den Nationen abgebaut werden, kann eine effektive plurale und multiperspektivische Aufarbeitung stattfinden“.
Andreas Schimmelpfennig, der an verschiedenen Universitäten in Ungarn, Weißrussland und Litauen tätig war und derzeit an der Universität Hildesheim zum Thema „Die Sicht der Anderen. Kulturelle Divergenzen als Basis außenpolitischer Interpretation“ promoviert, setzt sich mit seinem Beitrag „1989 und die österreichische Identität der nationalen Minderheiten“ mit den rechtlichen und gesellschaftlichen Situationen von Minderheiten – den „Kärtner Slowenen“, „Steirischen Slowenen“, „Burgenländischen Kroaten“, „Roma“, „Slowaken“, „Tschechen“ und „Ungarn“ – auseinander. Dabei zeigt sich, dass sich einerseits die Zahl der Volksgruppen seit 1989 in Österreich erhöht hat, andererseits sich die staatlichen und gesellschaftlichen Maßnahmen zur Integration der Minderheiten im Land sowohl ihre rechtlichen Stellungen verbessert, aber auch, etwa für die Sinti und Roma, wenig positive Veränderungen bewirkt haben.
Der Salzburger Historiker und Geschichtsdidaktiker Christoph Kühberger schaut mit seinem Beitrag „1989 im österreichischen Geschichtsunterricht“ auf Elemente, Wahrnehmungen und Erlebtes, um sie als alltagsgeschichtliche Quellen für Information, Unterricht und Lehre einsetzen zu können. Er analysiert die in den Unterrichtsmaterialien angebotenen Bilder und Texte zu 1989 und stellt fest, dass „durch das Isolieren der nationalen Geschichte und das Ignorieren größerer weltweiter Veränderungen und deren Rückwirkungen auf Österreich ( ) ein nationalstaatlich verengter Blick auf die Vergangenheit (entsteht), der von größeren transnationalen Periodisierungen … absieht und stattdessen ein vielleicht liebloses, aber sicher egozentrisches Flickwerk der Zeitgeschichte präsentiert“. Er plädiert dafür, bei der Auswahl der Zeichen und Symbole eher darauf zu achten, „welches typische Lebensgefühl einer bestimmten ‚Epoche‘ die Ikone eingefangen hat und welche Positionen, Haltungen und Überzeugungen selbst im Heute noch damit verbunden werden“.
Den Schlusspunkt setzt Andrea Brait mit ihrem Beitrag „Zur Konstruktion eines europäischen „Gedächtnisortes“ (vgl. dazu auch die drei Bände „Europäische Erinnerungsorte“ von Pim den Boer / Heinz Duchhardt / Georg Kreis / Wolfgang Schmale, Hrsg., www.socialnet.de/rezensionen/13336.php). Die eminent wichtige Frage: „Was sind Gedächtnisorte?“ und wie lassen sie sich als freiheitlich-demokratische Erinnerungskultur im kollektiven, gesellschaftlichen Identitätsbewusstsein etablieren und stabilisieren, ist sicherlich noch nicht, nach den rund 25 Jahren nach 1989, kann nicht (mehr) ethnisch und national orientiert beantwortet werden, sondern sie bedarf der transnationalen Perspektive.
Fazit
Das dem Sammelband beigeordnete Abkürzungsverzeichnis, die Auswahlbibliografie, das Personenregister und die in der beigefügten CD abgebildeten Quellenmaterialien sollen „als Impulsgeber für weitere Grundlagenforschung fungieren“. Die differenzierten, interdisziplinären Beiträge zu einem bisher in dieser Form noch nicht publizierten Forschungsfeld sind ohne Zweifel Grundlage dafür, „verschiedene Veränderungen, die sich infolge von ‚1989‘ für Österreich ergaben, vergleichend darzustellen“. Dass die Autorinnen und Autoren dabei die „Innenperspektiven“ mit den europäischen und globalen „Außenperspektiven“ verbinden, macht den Forschungsband zu einem Grundlagenwerk über die politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und diplomatischen Entwicklungen und zur historischen Bedeutung der Grenzöffnung des Jahres 1989. Das Buch darf in den öffentlichen und Universitätsbibliotheken nicht fehlen!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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