Philip Pettit: Gerechte Freiheit
Rezensiert von Prof. Dr. Wilfried Hosemann, 12.01.2016

Philip Pettit: Gerechte Freiheit. Ein moralischer Kompass für eine komplexe Welt. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2015. 307 Seiten. ISBN 978-3-518-58622-8. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 40,90 sFr.
Thema
Soll der Staat für Bedürftige sorgen und wenn ja, für wen alles? Welche staatlichen und sozialen Aufgaben können von privaten Organisationen übernommen werden? Sollen reiche Staaten verpflichtet werden den Armen und Unterdrückten auch in anderen Ländern zu helfen? Die Leitfrage des Buches ist, gibt es einen Bezugspunkt, eine argumentativ begründbare Perspektive diese Fragen zu bearbeiten?
Petitt plädiert dafür nicht zu resignieren, sondern „… einen moralischen Kompass an der Vorstellung von Freiheit auszurichten, an einem ökumenischen Wert, dessen politische Relevanz wohl kaum jemand bestreiten wird“ (11). Es geht ihm um ein Freiheitsverständnis, dass moralische Orientierung in einer hochkomplexen Welt bietet.
Autor
Der Autor ist Philosoph und Politikwissenschaftler, Mitglied der American Academy of Arts and Sciences und als L.S. Rockefeller University Professor of Politics and Human Values an der Princeton University tätig.
Aufbau
Das Buch ist zwischen dem Prolog und dem Epilog gegliedert in die Teile
- Die Idee der Freiheit und
- Die Institutionen der Freiheit.
Im Anhang wird sehr lesefreundlich auf 20 Seiten ein Überblick über die Argumentation geboten.
Zum Prolog
Petitt will bei all den Klagen über die Zustände und die unfairen Regelungen in der Welt nicht stehen bleiben. Er möchte ein anspruchsvolles aber plausibles Ideal benennen, mit dem der soziale und politische Fortschritt in Gesellschaften nachvollziehbar beschrieben werden kann.
Dieses Ideal heißt Freiheit als Nichtbeherrschung. Petitt behauptet, die gesellschaftlichen Grundkategorien: soziale Gerechtigkeit, politische Gerechtigkeit und internationale Gerechtigkeit „… im Grunde genommen als Fragen danach behandeln zu können, wie sich die Verfügung über Freiheit als Nichtbeherrschung am besten fördern lässt“ (16).
Mit diesem Focus, dem republikanischen Ideal der Freiheit, so ist er überzeugt, lässt sich auch der Gegensatz überwinden zwischen denen, die eine individualistische Perspektive vertreten und denen, die einen radikal umverteilenden Staat fordern. Petitt interessiert, mit welchen sozialen Regeln die Freiheit als Nichtbeherrschung wahrscheinlicher wird (17), z.B. weil wir bestimmen können, in welcher Rechts- und Wirtschaftsordnung es möglich ist, das eigene Leben eher so zu führen, dass andere nicht über die Macht verfügen, sich in die eigenen Entscheidungen einzumischen.
Das Ideal der Freiheit hat schulenübergreifend eine hohe Anziehungskraft. Freiheit als Nichtbeherrschung bietet als politische Philosophie grundlegende Orientierung und eine vereinheitlichende Perspektive. Der Autor will daher zunächst dieses Verständnis von Freiheit Punkt für Punkt erläutern (Teil 1) und sich dann konkreteren Themen zuwenden (Teil 2).
Zu Teil 1
Kapitel 1: Vergangenheit und Gegenwart der Freiheit. Freiheit erfordert, dass es keinen Aufseher oder Gewährenden gibt, selbst wenn dieser einen großen Spielraum lässt („man am langen Zügel gehen kann“). Schon in Rom wurde die Forderung nach einem Status von Freiheit formuliert, der einen vor privater (dominium) und staatlicher Macht (imperium) schützt. Diese Auffassung kennzeichnete auch das republikanische Denken im 17. Jahrhundert. Der Niedergang dieser Idee kam im frühen 19. Jahrhundert mit der Vorstellung, für Freiheit sei das Fehlen tatsächlicher Einmischung hinreichend. Dieser Auffassung zufolge reicht es als Aufgabe des Staates dafür zu sorgen, Individuen vor offener Gewalt zu schützen und die Möglichkeit von Verträgen zu gewähren – …„wobei die Vertragsbedingungen keine Rolle spielen“ (251). Bei J.S. Mill wird ein Verfassungsliberalismus entwickelt, der zu einer liberalen Auffassung von Freiheit als Nichteinmischung passt. In der republikanischen Tradition bedeutet demgegenüber: „…dass Freiheit Macht gegen Einmischung voraussetzt und keineswegs bloß das Fehlen von Einmischung“ (252).
Kapitel 2: Freiheit mit Tiefe Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, um bei einer Wahl über Freiheit verfügen zu können? Petitt nennt drei Bedingungen:
- Man muss über Raum und Ressourcen verfügen, um wählen zu können wie man will.
- Diese Bedingungen müssen erfüllt sein, unabhängig davon welche Option man vorzieht.
- Entscheidend ist, dass man unabhängig von den Präferenzen, die andere vorgeben, über Raum und Ressourcen verfügt, die für die Wahl notwendig ist.
Man muss die Fähigkeit behalten, zu wählen wie man will – andere sollten darüber keine Kontrolle haben. Einmischung (natürlich in unterschiedlichen Graden) kann „…auch von den strukturellen Eigenschaften der Kultur, Wirtschaft oder Verfassung herrühren, unter denen man lebt“ (255).
Kapitel 3: Freiheit mit Breite. Nach republikanischer Auffassung, die der Autor entschlossen vertritt; muss die freie Person in ihren Wahlmöglichkeiten so geschützt werden, dass sie ihre Grundfreiheiten geltend machen kann ohne von außen beherrscht zu werden. Man muss sich mit anderen auf Augenhöhe befinden (98). Dazu sind sowohl staatliche Gesetze wie auch eine Rückhalt verschaffende subjektive Anerkennung erforderlich. Die zentralen Kategorien sind bekannt: … „Freiheit der Rede, der Religionsausübung, der Vereinigung und des Eigentums zum Beispiel sowie die Freiheit, die Arbeit und den Wohnort zu wechseln zu wechseln und Freizeit nach Belieben zu nutzen“ (258).
Zu Teil 2 Die Institutionen der Freiheit
Kapitel 4: Freiheit und Gerechtigkeit. Die Fragen der Gerechtigkeit betreffen die Verhältnisse der Bürger untereinander (die horizontalen) und die der Bürger zum Staat (die demokratischen Beziehungen). Der Staat hat die Bürger als Gleiche zu behandeln und um das zu gewährleisten, eine entsprechende materielle und institutionelle Infrastruktur vorzuhalten. Der republikanische Ansatz betont: „…dass der Staat unverzichtbar dafür ist, eine angemessene zivile und wirtschaftliche Ordnung aufrechtzuerhalten“ (259). Ein klarer Gegensatz zu libertaristischen Ideen, wonach diese Ordnungen vor und unabhängig vom Staat bestehen und dieser eher unter dem Aspekt der Hemmnis interpretiert wird. Petitt sieht den Staat in der Verpflichtung dafür zu sorgen, dass Menschen davor abgeschirmt werden, dass andere die Möglichkeiten und Notwendigkeiten sehen sich in ihre Grundfreiheiten einzumischen. Welches Niveau soll der Staat hierbei anstreben? „… ein Niveau, das den Menschen nach den anspruchvollsten landesüblichen Kriterien ermöglicht, einander in die Augen zu schauen, ohne Anlass zu Furcht oder Ergebenheit zu haben, die eine sich einmischende Macht hervorrufen könnte“ (260).
Kapitel 5: Freiheit und Demokratie. Ebenso wie der Staat vor privater Macht zu schützen hat, gehört es zu den Kernideen republikanischer Gerechtigkeit, dass die „Bürger gleichmäßig an der Kontrolle des Staates beteiligt sind“ (260). Die Folge ist eine autorisierte Einmischung des Staates in die Verhältnisse der Bürger. Das Wahlrecht für alle, gibt den Menschen aber nicht die gleichmäßig geteilte Kontrolle über den Staat, daher sind wahlunabhängige Institutionen erforderlich. Ziel ist es, die gemeinschaftsgültigen Standards in allen Aspekten des öffentlichen Lebens und der Politik zu stärken, so dass der Einfluss vom Volk ausgeht und u.a. ermöglicht wird, die Macht verschiedener Eliten einzudämmen, die Regierungsmacht im Dienst ihrer Privatinteressen ausbeuten oder usurpieren (265).
Kapitel 6: Freiheit und Souveränität. So wie im republikanischen Gerechtigkeitsprinzip der Einzelne nicht beherrscht werden soll, gilt es im Verhältnis der Völker unter einander einen Zustand anzustreben, bei dem Völker nicht von internationalen Körperschaften, von anderen Staaten, multinationalen Konzernen oder internationalen Organisationen (265). Jeder repräsentative Staat sollte über eine Tiefe und Breite Souveränität verfügen. Ein Schutz der souveränen Freiheiten der Staaten ist aber an die Bedingung geknüpft, dass keine Freiheiten zugelassen werden, „…die gegen die Freiheit der Bürger dieser Staaten verstoßen würden“ (266). Im Endergebnis ist die Theorie einer internationale Ordnung, die sich an Freiheit als Nichtbeherrschung orientiert, in höchstem Maße herausfordernd – es ist aber lohnend, weiter zu denken als über den wechselseitigen Verzicht auf Einmischung.
Zum Epilog
Wenn wir uns den großen Ungewissheiten und Herausforderungen stellen wollen, müssen wir Formen für unsere Entscheidungen finden. Nach Petitts Überzeugung brauchen wir neben solider empirischer Forschung, institutionellen Vorbildern aber auch ein Ideal, an dem sich die fortlaufende Suche nach besseren politischen Lösungen ausrichten kann (245). Die republikanische Philosophie der Freiheit als Nichtbeherrschung bietet für die Felder soziale Gerechtigkeit, politische Demokratie und globalisierte Souveränität eine einheitliche, handlungsorientierte Perspektive an. Sie stellt harte, demokratische Arbeit dar (247).
Fazit
Freiheit als Nichtbeherrschung zu fassen ist eine starke Herausforderung. Petitt trägt Seite für Seite Argumente dafür vor. Die Unterscheidung zwischen Freiheit als Nichteinmischung und Freiheit als Nichtbeherrschung bezeichnet einen qualitativen Sprung. Ein Unterschied, der höchst folgenreich ist und zu massiven Kontroversen führt. Wer die Idee der Freiheit prinzipiell mit der Freiheit der Marktteilnehmer in eine enge Verbindung bringt oder sogar gleichsetzt, wird Petitt in seiner Argumentation nicht folgen können. Das klärt. Freiheit muss weiter gedacht werden, als eine Rechtfertigung für persönliche Selbstbestimmung, Interessensdurchsetzung oder als eine Begründung für Marktordnungen.
Petitts Ansatz einer gerechten Freiheit als moralischen Kompass für eine komplexe Welt zeigt, dass man Komplexität anerkennen kann, ohne orientierungslos zu werden - ein herausragendes Angebot.
Rezension von
Prof. Dr. Wilfried Hosemann
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