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Eva Reichert-Garschhammer, Christa Kieferle et al. (Hrsg.): Inklusion und Partizipation

Rezensiert von Prof. Dr. Albrecht Rohrmann, 12.10.2015

Cover Eva Reichert-Garschhammer, Christa Kieferle et al. (Hrsg.): Inklusion und Partizipation ISBN 978-3-525-70173-7

Eva Reichert-Garschhammer, Christa Kieferle, Monika Wertfein, Fabienne Becker-Stoll (Hrsg.): Inklusion und Partizipation - Vielfalt als Chance und Anspruch. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2015. 288 Seiten. ISBN 978-3-525-70173-7. D: 39,99 EUR, A: 41,20 EUR, CH: 50,90 sFr.

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Thema

Der Terminus der ‚Inklusion‘ steht in der UN-Konvention zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen fast immer in einem unmittelbaren Zusammenhang zu Partizipation. In der deutschen Übersetzung wird der englische Begriff ‚participation‘ durchweg mit Teilhabe wiedergegeben, wodurch der Aspekt der sozialen Einbindung betont und der Aspekt der Beteiligung und Mitbestimmung in den Hintergrund gerät. Daher macht ein Titel neugierig, der das Begriffspaar Inklusion und Partizipation aufnimmt. Der Titel verrät allerdings nicht, dass der Band diese Themenstellung auf Kindertageseinrichtungen fokussiert. Die Herausgeberinnen formulieren in ihrer Einführung zu dem Sammelband den Anspruch einer einmaligen Zusammenstellung von Beiträgen, die aufzeigen, „wie das Leitbild Inklusion durch Partizipation in der frühpädagogischen und in der kommunalen Bildungspraxis Eingang finden kann, um allen Kindern gleichermaßen soziale Teilhabe, Mitsprache und bestmögliche Bildungschancen zu garantieren“ (S. 12).

Entstehungshintergrund

Die Herausgeberinnen sind alle am Staatsinstitut für Frühpädagogik (IFP) in München tätig. Es handelt sich dabei um eine wissenschaftliche Einrichtung und zugleich eine nachgeordnete Behörde des bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Soziales, Familie und Integration. Im Juni 2013 wurde von dem Institut in München ein Fachkongress zum Thema des nun erschienenen Sammelbandes organisiert, an dem viele der Autor/innen des Sammelbandes beteiligt waren. Die Kongressthemen und auch der Sammelband legen ein weites Verständnis von Inklusion zugrunde, das nicht nur das Differenzierungsmerkmal der Behinderung, sondern insbesondere auch Interkulturalität, Migration sowie Armut und Benachteiligung umfasst.

Aufbau und Inhalt

Das Buch ist in sechs Abschnitte eingeteilt, die jeweils zwei bis sechs Beiträge umfassen. Die Abschnitte werden zumeist abgeschlossen durch die Darstellung von Praxisbeispielen

Der erste Abschnitt mit der Überschrift ‚Inklusion und Differenzierung – Pädagogik der Vielfalt‘ wird eingeleitet durch einen Beitrag von Ulrich Heimlich. Er führt ein in den Zusammenhang zwischen Inklusion und Qualität und zieht daraus Schlussfolgerungen für die Kompetenzen von Fachkräften in inklusiven Kindertageseinrichtungen. Der Beitrag von Monika Wertlein lenkt den Blick auf Inklusion in Kinderkrippen und begründet die besondere Bedeutung von inklusiver Qualität in diesem Bereich. Eine der Herausgeberinnen, Eva Reichert-Garschhammer, geht auf den Zusammenhang von Inklusion und innerer Differenzierung ein und stellt die offene Arbeit und die Projektarbeit als geeignete Ansätze für Differenzierung heraus. Der abschließende Beitrag dieses Abschnitts geht auf die Bedeutung der Raum- und Tagesgestaltung für ein differenziertes pädagogisches Arbeiten in offen arbeitenden Kindertageseinrichtungen ein. Die Autorinnen betonen die Notwendigkeit einer offenen, partizipativen Planung von Projektarbeit.

Der zweite Abschnitt nimmt den Titel des Buches ‚Inklusion und Partizipation‘ auf. Rüdiger Hansen kritisiert in frühpädagogischen Diskursen die Verengung von Partizipation auf ein didaktisch-methodisches Prinzip und fordert mit Bezug auf Janusz Korczak tatsächliche Möglichkeiten der gleichberechtigten, demokratischen Mitentscheidung ein. Er stellt Möglichkeiten der Verankerungen von Beteiligungs- und Beschwerdegremien in die Verfassung von Kindertageseinrichtungen vor. Er schließt seinen Beitrag mit der These, dass Partizipation in Kindertageseinrichtungen nur realisiert werden kann, „wenn pädagogische Fachkräfte sich der Auseinandersetzung mit dem Machtverhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern stellen und Kindertageseinrichtungen als demokratisch(er)e Orte gestalten“ (S. 95). In dem zweiten Beitrag werden von Reinhard Ruckdeschel und Christine Mull die Möglichkeiten der Partizipation am Beispiel der Hans-Georg Kark Kindertagesstätte sehr praxisnah erläutert.

Dem Thema ‚Inklusion und Interkulturalität‘ ist der dritte Abschnitt des Buches gewidmet. In ihrem Beitrag plädiert Annick de Houwer für eine Wertschätzung der Nichtumgebungssprache von Kleinkindern, um das Wohlbefinden der Kinder zu steigern und die Chancen einer Integration zu erhöhen. Christa Kieferle geht einen Schritt weiter und stellt die Unterstützung von Mehrsprachigkeit als ein Merkmal von inklusiven Kindertageseinrichtungen heraus. Über die Praxis des Aufbaus und der Entwicklung eines interkulturellen Elterngesprächskreises berichtet Sini Werniger-Niemi.

‚Inklusion in der Bildungspartnerschaft mit Eltern in Kita und Schule‘ ist die Überschrift des vierten Abschnitts. Er wird eingeleitet durch einen Beitrag von Susan B. Neumann, in dem die Bedeutung einer sicheren und anregenden Umgebung in Kindertageseinrichtungen für Kinder in Armutslagen hervorgehoben wird. Für die Gestaltung einer solchen Umgebung werden Prinzipien zur Diskussion gestellt. Die Ergebnisse aus einer empirischen Studie zur Bedeutung der Unterstützung von Eltern im Übergang zwischen Kindertageseinrichtungen und Schule unter dem Blickwinkel der Heterogenität stellt eine Forscherinnengruppe am Staatsinstitut für Frühpädagogik (IFP) vor. Sigrid Lorenz und Dagmar Winterhalter-Salvatore präsentieren das Projekt ‚Den Übergang im Blick‘ aus dem Landkreis Mühldorf in Oberbayern. Durch die Befragung von Eltern sollen Grundlagen für eine verbesserte Zusammenarbeit geschaffen werden. Aus der Praxis einer Kindertageseinrichtung berichtet Brigitte Netta darüber, wie sich ihre Kindertageseinrichtung gegenüber dem Stadtteil öffnet und sich zu einem Kinder- und Familienzentrum entwickelt.

Der Abschnitt ‚Inklusion und Bildungsplanung – Optimale Bildungschancen für alle Kinder‘ wird eingeleitet durch einen Beitrag, der auf der Grundlage von Daten aus der nationalen Untersuchung zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit (NUBBEK) die Einflüsse der Betreuungsqualität in Kindertageseinrichtungen auf die Entwicklung von Kindern mit Migrationshintergrund untersucht. Dabei wird ein Bezug zur Bildungsplanung nicht erkennbar hergestellt. Martin Krause und Toni Mayr stellen das Instrument KOMPIK für eine kindbezogene und individuelle Bildungsplanung und -gestaltung vor. Die Bildungsplanung bzw. das ‚Bildungsmanagement‘ in München wird in einem Beitrag von Wolfgang Brehmer und Norbert Ziegler vorgestellt. Dabei wird die ‚Förderformel für Kindertageseinrichtungen‘ in den Mittelpunkt gestellt. Die Formel soll eine ergänzende Förderung nach kindbezogenen, einrichtungsbezogenen und soziodemografischen Faktoren ermöglichen.

Der Sammelband wird abgeschlossen durch den Abschnitt, der unter dem sehr offenem Titel ‚Inklusion zwischen Anspruch und Wirklichkeit‘ sechs Beiträge umfasst, die allerdings deutlich kürzer gefasst sind als die übrigen Beiträge. In einem sehr kurzen Beitrag beschäftigt sich Timm Albers mit der Bedeutung von Fachkräften bei der Förderung der Interaktion zwischen Kindern mit und ohne Behinderungen. Aus der Perspektive der Arbeitsgemeinschaft der Ausländer- und Integrationsbeiräte in Bayern nimmt Mitra Sharif Neystanak zur Inklusion in Bezug auf Kinder mit Migrationshintergrund Stellung. Hans Weiß nimmt in seinem leider ebenfalls nur kurzen Beitrag den – an anderen Stelle sehr intensiv ausgeführten – Zusammenhang von Armut und Inklusion in den Blick. Er sieht ein armutssensibles pädagogisches Handeln sowie ein Vorteilsbewusstsein und eine hohe Selbstreflexionskompetenz als Prüfkriterium für die Gestaltung von inklusiven Prozessen an. Die Notwendigkeit der Reflexion von Vorurteilen auf der Grundlage des ‚Anti-Bias Approach‘ steht auch in dem Statement von Petra Wagner im Mittelpunkt. Eine kritische Bilanz auf die Umsetzung der inklusiven Bildung in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern zieht Ute Erdsiek-Rave. Der abschließende Beitrag von Klaus Fröhlich-Gildhoff beschäftigt sich mit der Verankerung von Inklusion in der Aus- und Weiterbildung.

Fazit

Der Sammelband präsentiert lesenswerte und teilweise streitbare Beiträge zur Frühpädagogik und zur pädagogischen Arbeit in Kindertageseinrichtungen mit einem Schwerpunkt auf Inklusion. Wie in einem Sammelband einer Tagungsdokumentation üblich, sind die Beiträge dabei von unterschiedlicher Qualität. Das Interesse, das der Titel und die Einführung des Sammelbandes durch die Verknüpfung von Inklusion und Partizipation hervorgerufen hat, wird allerdings überhaupt nicht befriedigt. Nur die beiden Beiträge in dem Abschnitt ‚Inklusion und Partizipation‘ widmen sich diesem Thema tatsächlich. Dabei stehen die Verfassung der Kindertageseinrichtung und die Ausgestaltung von Mitbestimmungsmöglichkeiten im Vordergrund. Die Verknüpfung von Inklusion und Partizipation und erst recht die programmatische Aussage ‚Inklusion durch Partizipation‘ in der pädagogischen Arbeit wird leider nicht bearbeitet.

Rezension von
Prof. Dr. Albrecht Rohrmann
Professor für Sozialpädagogik mit dem Schwerpunkt soziale Rehabilitation und Inklusion an der Uni Siegen, Zentrum für Planung und Entwicklung Sozialer Dienste (ZPE)
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Es gibt 25 Rezensionen von Albrecht Rohrmann.

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Zitiervorschlag
Albrecht Rohrmann. Rezension vom 12.10.2015 zu: Eva Reichert-Garschhammer, Christa Kieferle, Monika Wertfein, Fabienne Becker-Stoll (Hrsg.): Inklusion und Partizipation - Vielfalt als Chance und Anspruch. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2015. ISBN 978-3-525-70173-7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19054.php, Datum des Zugriffs 24.01.2025.


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