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Sebastian Knell: Die Eroberung der Zeit

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 29.07.2015

Cover Sebastian Knell: Die Eroberung der Zeit ISBN 978-3-518-58619-8

Sebastian Knell: Die Eroberung der Zeit. Grundzüge einer Philosophie verlängerter Lebensspannen. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2015. 736 Seiten. ISBN 978-3-518-58619-8. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR.

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Zeit: Schnecke oder Rakete? „Eudaimonia“ und „eu zên“ als Vision für ein gutes, glückliches Leben

„Zeit bezeichnet das Nacheinander von Naturvorgängen, das subjektiv mit unserem Erleben verbunden ist und als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wahrgenommen wird“; diese Definition lässt alle Türen und Tore der Wahrnehmung, Interpretation und Einstellung des anthrôpos zum Dasein offen (Martin Gessmann, Philosophisches Wörterbuch, 2009, www.socialnet.de/rezensionen/8464.php). Seit Menschen in ihrer anthropologischen und evolutionärer Wirklichkeit denken können und über sich und die Welt nachdenken, treibt sie die Suche um nach der Substanz dessen, was Zeit ist. Für Aristoteles ist die Zeit „Zahl der Bewegung im Hinblick auf das Früher(e) und das Später(e)“. Sie „besteht aus der Vergangenheit und der Zukunft, die im Jetzt zusammenhängen“. Weil aber Vergangenheit nicht mehr und Zukunft noch nicht ist, hat Zeit auch weder Anfang noch Ende; denn menschliche Zeitwahrnehmung ist ohne psychisches und physisches Bewusstsein nicht möglich: „Wenn die Seele nicht misst, geht die Zeitordnung der Tage, Monate, Jahre im indifferenten Fluss der Bewegung verloren“ ( A. F. Koch, in: Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Kröner-Verlag, Stuttgart 2005, S. 107ff ). Das janusköpfige Faszinosum „Zeit“ wird philosophisch und alltäglich, literarisch und künstlerisch thematisiert. Das Sprichwort „Die Zeit steht still“ ist ein Anachronismus; und „Zeit ist Geld“ eine Verirrung. „Zeit haben“, wie auch „keine Zeit haben“ sind Kennzeichnungen von Langeweile und Stress und markieren eher menschliche Zulänglichkeiten und Unzulänglichkeiten, als eine mentale Auseinandersetzung über das Menschsein. Zeitvielfalt und Zeitdiktat sind Schlagwörter, hinter denen Zufriedenheit wie Unzufriedenheit mit dem individuellen und gesellschaftlichen, menschlichen Leben stecken. Zeit ist Menschlichkeit und Unmenschlichkeit, je nachdem der Zeiger ausschlägt. Wer das Zeitliche im Menschsein vergisst, lebt nicht mehr! (Nora Nebel: Ideen von der Zeit. Zeitvorstellungen aus kulturphilosophischer Perspektive, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12020.php). „Nicht alle Zeit ist gleich vor dem Gedächtnis“ (Gerhard Baumgartner), was bedeutet, dass „Zeit“ ein individuelles und gesellschaftliches, kulturelles und interkulturelles Phänomen darstellt und auch in dieser Vielfalt verstanden werden muss.

Entstehungshintergrund und Autor

Aus dieser ganzheitlichen und existentiellen Fragestellung wird schon deutlich, dass die Zugänge zur Frage: „Was ist Zeit?“, mit wissenschaftlichem Anspruch unterschiedlich, disziplinär und interdisziplinär erfolgen müssen. Wenn ein Philosoph sich dieser Herausforderung stellt, braucht es Zeit! Vor allem dann, wenn die Frage sich fokussiert auf die Vision oder Illusion, wie es gelingen könne, dem Menschen für sein Leben mehr Zeit zu ermöglichen, wenn nicht gar nach dem Gen für ein „ewiges Leben“ zu suchen. Die Biowissenschaften jedenfalls sind heftig dabei, nach dem Schlüssel zu suchen, wie es gelingen könne, dass Menschen älter werden können, als dies im augenblicklichen Existentiellen möglich ist; zwar nicht „ewig“ leben zu können, aber immerhin älter (150 Jahre?), als dies nach dem augenblicklichen Wissens- und Forschungsstand nicht nur für Einzelne, sondern für die Mehrzahl der Menschheit denkbar ist. Gegen diese Perspektiven einer allgemeinen, radikalen Verlängerung der Lebenserwartungen der Menschen gibt es vor allem ein philosophisches „Aber“, mit dem nicht nur fiskalische und monetäre, sondern auch moralische Bedenken geäußert werden, vor allem dann wenn lebensverlängernde Maßnahmen mit medizinischen und technischen Mitteln erfolgen sollen, bei denen nicht zuletzt Fragen nach der Gerechtigkeit und der Definition vom „guten Leben“ im Vordergrund stehen.

Der an der Universität Basel und seit 2011 am Institut für Wissenschaft und Ethik der Universität Bonn tätige Philosoph Sebastian Knell legt eine umfangreiche Studie vor, mit der er Grundzüge einer Philosophie verlängerter Lebensspannen zur Diskussion stellt. Es ist ein Resultat einer mehr als 10jährigen Denk- und Forschungsarbeit, mit der der Autor die Diskrepanz thematisiert, dass in der Menschheitsgeschichte einerseits die Ausdehnung der räumlichen Grenzen, bis hin zum interplanetarischen Denken, Planen und Zukunftsvisionen, zu einem globalen, grenzenlosen Bewusstsein geführt haben, andererseits aber der zeitliche Rahmen des menschlichen Daseins sich zwar verschoben hat und weiterhin verschiebt, jedoch die maximale Lebensspanne im allgemeinen weniger als 100 Jahre beträgt; was bedeutet, dass „zwischen Raum und Zeit ( ) fraglos erhebliche begriffliche Unterschiede (bestehen)“. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass in den Bereichen der Gentechnologie, Biogerontologie und Nanomedizin die Forschungen zur Veränderung des natürlichen Alterungsprozesses in vollem Gange sind, und es bereits Ansagen darüber gibt, das „Methusalem-Gen“ gefunden zu haben, zumindest ihm auf der Spur zu sein, ganz im Sinne der Machbarkeitsvorstellungen von der (biotechnischen) „Eroberung der Zeit“; während die ethischen und moralischen Bedenken im Sinne der praktischen Philosophie (vgl. dazu: Claus Baumann / Jan Müller / Ruwen Stricker, Hrsg., Philosophie der Praxis und die Praxis der Philosophie, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/16849.php) bisher wenig bedacht werden.

Aufbau und Inhalt

Knell gliedert die Studie neben der allgemeinen Einleitung, in der er die Entwicklungen und Diskrepanzen beim Raum-Zeit-Modus thematisiert und dabei sich eindeutig darauf festlegt, dass „jede noch so radikale Ausdehnung unserer biologischen Lebensspanne und jeder noch so rigorose Eingriff in die Mechanismen des Alterns ( ) immer nur imstande sein (werden), unsere endliche Lebensdauer zu steigern“, sich jedoch ein Sieg über den Tod nicht einstellen könne. Er versteht seinen Versuch, „eudaimonistische und moralphilosophische Gesichtspunkte“ im Sinne einer „eher losen und abstrakten Anlehnung an antike Eudaimoniakonzepte“ und philosophische Grundsätze vom „guten Leben“ (Aristoteles) als Grundlage seines Theoriekonzeptes heranzuziehen, weder als pädagogische Zeige-, noch Stinkefinger-Argumente, schon gar nicht als Menetekel für menschliche Irrungen und Wirrungen, sondern als „einen Beitrag zur Vervollständigung der existierenden ethischen Diskussionslandschaft zu leisten, indem sie ein bisher nur partiell erschlossenes Zukunftsthema der angewandten Ethik systematisch gründlicher in den Blick“ zu nehmen.

Die Studie wird in zwei Kapitel gegliedert, die in mehreren Themenbereichen unterteilt wird. Im ersten Kapitel wird die „eudaimonistische Bewertung verlängerter Lebensspannen“ vorgenommen, und im zweiten „die Moral der Lebensverlängerung“ thematisiert. Im Schlusswort werden die Befunde zusammengefasst. Dabei kommt es zum einen darauf an zu ergründen, welche „selbstinteressierten“ Gründe es geben könnte, „die ein Individuum dazu veranlassen können, eine Ausdehnung seiner eigenen Lebensspanne für wünschenswert zu halten“. Der Begriff der antiken „Eudaimonia“ soll sowohl das subjektive Wohlbefinden umfassen, als auch ein objektives Florieren des menschlichen Wollens nach Wohlfahrt als tugendethische Aspekte eines „diachron verstandenen guten Lebensganzen“ beinhalten. Dazu ist eine Differenzierung in unterschiedlich begrifflich unterscheidbare Formen der Steigerung des individuellen Wohls vorzunehmen, die im wissenschaftlichen Diskurs äußerst kontrovers diskutiert werden. Alleine diese Auseinandersetzung mit der Frage, ob denn für eine Person, der die doppelte Menge an Lebenszeit zur Verfügung stünde, von dieser chronologischen Zugabe in eudaimonistischer Hinsicht auch und wenn ja, in welcher Weise sie davon profitieren würde, ist es wert, alle Register des humanen Philosophierens zu ziehen. Der Autor kommt bei seiner Beweisführung zu einer Reihe von möglichen Annahmen; etwa der, dass die Ausdehnung der Lebensspanne unter eudaimonistischen Gesichtspunkten für das Individuum gar nicht lohnend wäre. Diesem aristotelischen Ansatz vom guten, gleichzeitig glücklichen Leben jedoch stellt Knell die Erfahrung gegenüber, dass „Glück zwar eine wichtige, aber keinesfalls die einzige Dimension eines guten Lebensganzen darstellt“. Für ein gutes Lebensganzes werden vier Dimensionen gezählt: Die Aggregation guter Lebensinhalte, die Erfülltheit des Lebens, seine eunarrative Struktur und schließlich das übergreifende Glück des Existentiellen. Entscheidend dabei ist die Gewichtung, die das Individuum vornimmt und auf welchen evolutionären, kulturellen und moralischen Positionen sie gründen. Aus den Analysen lässt sich herauslesen, dass eine „maximale Langlebigkeit“ des Menschen viele Wenns und Abers ergeben, die den Autor zu der Annahme bringen, „die hinzugewonnene Lebensspanne werde sich zwar voraussichtlich in manchen Dimensionen des Wohlergehens günstig auswirken, in anderen Dimensionen verschaffe sie ihren Empfängern jedoch keine erkennbaren Vorteile“. Jedenfalls sind es die Grenzen, die den euphorischen Gedanken einer maximalen Langlebigkeit nicht überwindbare Stopps setzen und schließlich von den Imponderabilien bestimmt werden, die sich in den individuellen und gesellschaftlichen Erwartungshaltungen und konkreten Lebenssituationen, wie etwa der Lebensführung, der Kohärenz des Lebens, von Anti-Aging-Maßnahmen und nicht zuletzt durch äußere, von Menschen verursachte Attacken auf das Leben wie auch durch natürliche und physikalische Kräfte einwirkende Sachverhalte ergeben. Da hilft eigentlich nur die Besinnung auf den Grundzug der conditio humana, wie ihn Ludwig Wittgenstein formulierte: „Der Mensch aber befindet sich in dieser Welt, in der die Dinge zerbrechen, rutschen, alles mögliche Unheil anstiften. Und er ist natürlich eins von diesen Dingen“. Die rationale Vorgehensweise, die der Autor mit Blick auf eine eudaimonistische Optimierung einer maximalen Langlebigkeit vornimmt, mündet in dem wohl lebens- und klugheitsethischen Ratschlag, nämlich sich mit der durchaus erfreulichen Gesamtqualität des Lebens, die eine menschliche Lebensspanne von heute üblicher Dauer unter günstigen Wohlstands- und Autonomiebedingungen zu bieten vermag, zufriedenzugeben und, gestützt auf diese Selbstbescheidung, auf Anti-Aging-Behandlungen zu verzichten“.

Diese rationalen Begründungen ergänzt der Autor im zweiten Kapitel durch moralische Argumente. Sie fokussieren sich in den Fragen: „Existieren spezifisch moralische Gründe, die Lebensspanne des Menschen mit Methoden des Life-Sciences weiter auszudehnen?“. Und: „Gibt es moralische Gründe, die dagegen sprechen?“. Dabei konzentriert er sich mit seinem Theorieentwurf auf zwei Problemstellungen. Die eine wird mit der Frage diskutiert, „ob das moralische Gebot, Leben zu retten, eine Verpflichtung generiert, Menschen lebensverlängernde Therapien zur Verfügung zu stellen – oder aber Forschungen voranzutreiben, die mittel- oder langfristig diesem Ziel dienen“; zum anderen geht es um die Frage, „inwiefern aus moralisch begründeten Normen der Gleichstellung die Forderung erwächst, dafür Sorge zu tragen, dass entsprechende Behandlungsmethoden nicht lediglich einigen privilegierten Menschen zugänglich, sondern universell verfügbar sind“. Damit nimmt Knell die im lokalen und globalen gesellschaftlichen Diskurs kontrovers thematisierten theoretischen und praktischen Aspekte für oder gegen lebensverlängernde Maßnahmen auf und analysiert zustimmende und ablehnende philosophische Argumente von (Un-)Gleichheitsprämissen und Gleichstellungsidealen. Die existentielle, philosophische und moralische Grundfrage: „Lebens-Verlängern als “ wird unter den vielfältig denkbaren und relevanten Prämissen von humanen und Gerechtigkeitsnormen diskutiert und mit möglichen, positiven und negativen moralphilosophischen Konsequenzen und Alternativen ausgewiesen. Mit der Frage: „Anti-Aging-Forschung als moralische Pflicht?“ greift der Autor in den teils euphorischen bis apodiktischen (Fach-)Diskurs ein und bringt seine moralphilosophischen, philosophie-theoretischen und -praktischen Positionen zu Gehör. Er plädiert dabei für den Verzicht „auf eine global entfesselte Anti-Aging-Forschung“. Unter den Gesichtspunkten von Gerechtigkeits- und Egalitätsannahmen werden moralische Fragen besonders bedeutsam: „Wenn es verschiedene Formen der Ungleichheit gibt, die aus moralischer Perspektive unterschiedlich schwer wiegen, dann ist aus Sicht einer egalitaristischen Gerechtigkeitskonzeption eine Praxis dann moralisch kritisierbar, wenn sie eine bereits bestehende, eudaimonistisch relevante Ungleichheit in dem Sinne verschärft, dass diese Ungleichheit durch sie verschlimmert wird“. Diese Prämissen würden jedoch auf allzu einseitigen Grundmustern und Wirklichkeiten fußen, bedächte man nicht auch die Aspekte „Lebensspannen und Gerechtigkeit“ unter nichtegalitaristischen Gesichtspunkten. Es geht um die Frage, ob Ungleichheit nicht per se moralische Normen verletze, jedoch im Fall der lebensverlängernden Maßnahmen sich bei bevorzugten oder benachteiligten Individuen die Folgen vorhandener Ungleichheit moralisch zu verurteilen seien. Diese Diskrepanz löst der Autor mit der von ihm favorisierten „humanistischen Schwellenkonzeption der Gerechtigkeit“, die es ihm immerhin ermöglicht, die „Un-)Gerechtigkeitsdebatte im philosophischen Diskurs zuzuspitzen, indem er darauf verweist, „dass die Ungleichheit verfügbare(r) Lebenszeit dort, wo sie ein massiveres Ausmaß erreicht, tatsächlich eine grobe Ungerechtigkeit darstellt…(nämlich) dass erstens zusätzliche Zeit uns tatsächlich in signifikantem Maße befähigt, die Gesamtqualität unseres Lebens anwachsen zu lassen, und dass zweitens erhebliche (unverschuldete) Unterschiede in der tatsächlichen Qualität des Lebens eben doch ein Gerechtigkeitsproblem aufwerfen“.

Fazit

Mit der Theoriekonzeption einer „Philosophie verlängerter Lebensspannen“ nimmt Sebastian Knell die unterschiedlichen und konträren gerechtigkeitstheoretischen, normativen Positionen auf und verschiebt mit einer „systematische(n) Ausweitung der bislang primär auf ökonomische Ungleichheiten fokussierten Debatte um Verteilungsgerechtigkeit“ die Blickrichtung hin auf die Erörterung der fundamentalen individualethischen und moralischen Aspekte. Mit seinen breit und theorieorientierten Überlegungen Für und Wider von verlängerten Lebensspannen dürfte es dem Autor gelungen sein, „die potentiellen eudaimonistischen und moralischen Motive … in einer Differenziertheit auszuloten, die über dasjenige hinausreicht, was die bisherige philosophische Debatte hierzu beigesteuert“.

Die umfangreiche Studie wird sicherlich nicht auf den populären Markt getragen werden können; vielmehr dürfte die wissenschaftliche Arbeit Grundlage für den interdisziplinären Theoriediskurs darstellen Nützlich und hilfreich für die weiterführende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem unabgeschlossenen Thema und Problemfeld wäre es gewesen, zum Schluss der Arbeit die als Fußnoten ausgewiesenen Quellen- und Literaturhinweise in einem Literaturverzeichnis und ggf. auch einem Sach- bzw. Stichwortregister zu präsentieren.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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ISSN 2190-9245