Gesine Drews-Sylla, Renata Makarska (Hrsg.): Neue alte Rassismen?
Rezensiert von Prof. Dr. Christine Labonté-Roset, 24.08.2015

Gesine Drews-Sylla, Renata Makarska (Hrsg.): Neue alte Rassismen? Differenz und Exklusion in Europa nach 1989. transcript (Bielefeld) 2015. 332 Seiten. ISBN 978-3-8376-2364-2. 26,99 EUR.
Herausgeberinnen
Bei den beiden Herausgeberinnen handelt es sich zum einen um Drews-Sylla, Assistentin am Lehrstuhl für Slavische Literatur- und Kulturwissenschaft der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Sie hat zu postsowjetischer Performancekunst, Prozessen und Ästhetiken der kulturellen Transformation, Diskurse der Exklusion sowie der literarische Kontakt von „Zweiter“ und „Dritter“ Welt geforscht. Projekte zu den Verflechtungen von russischer und senegalesischer Literatur und Film und zu deutschen, polnischen und russischen Afrikadiskursen gemacht.
Renata Makarska ist Professorin für Polnisch am Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft der Universität Mainz. Forschungschwerpunkte sind westslavische Literaturen des 20- und 21. Jahrhunderts (Literatur und Topographie, Migration und Literatur, Regionalismus, Minderheitendiskurse, Mehrsprachigkeit, Übersetzungstheorien).
Entstehungshintergrund
Hierzu war wenig zu erfahren, außer dass ein Schwerpunkt Osteuropa sein sollte und dass die Autoren/innen mehrheitlich aus den Sprach- und Kulturwissenschaften kommen.
Aufbau und ausgewählte Inhalte
Ein bemerkenswert interessantes Buch, das unter dem Titel „Neue alte Rassismen?“ ein ganzes Kaleidoskop von Themen der Differenzen und Exklusion in Europa nach 1989 behandelt, wobei es sich meist um Themen handelt, die ansonsten selten oder gar nicht zu finden sind.
Dies liegt zum einen sicherlich daran, dass der Schwerpunkt der Artikel auf Osteuropa liegt, worüber es noch wenig Literatur zum Rassismus gibt. Zum anderen aber auch daran, dass die Autoren/innen überwiegend Sprach- und Kulturwissenschaftler/innen sind. Sie vertreten damit Wissenschaften und Themen, die beim Thema Rassismus eher selten zu finden sind. Aber diese neuen Aspekte machen die Lektüre so interessant, vermitteln neues Wissen und gewähren eine große Auswahl. Zu sonst kaum diskutierten Themen gehören z.B. Artikel über die Darstellung (oder nicht) von Rassismus in polnischen oder tschechischen Filmen oder im russischen Fernsehen.
Dies macht es allerdings schwierig eine chronologische Beschreibung des Inhaltes hier zu geben. Ich werde mich daher auf einige der Artikel beschränken, die ich besonders bemerkenswert fand.
In der Einleitung der Herausgeberinnen gibt es eine kurze Beschreibung paneuropäischer rassistischer Diskurse und eine Analyse der neueren Rassismusforschung. Diese sieht Rassismus nicht wie bisher weitgehend üblich als Vergangenheitsphänomen, sondern hat Paradigmenwechsel vorgenommen, zum einen in Vergleichen zwischen historischem und aktuellem Rassismus, zum anderen darin, dass sie Rassismus nicht mehr nur bei anderen findet und untersucht. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass hier Rassismus als „ein soziales Verhältnis gesehen wird, durch das unterschiedliche Grade des Menschseins postuliert werden“ (S. 12)
Im zweiten Teil der Einleitung werden kurze Inhaltsangaben aller Artikel im Band gegeben, es ist also nicht nötig diese hier nochmals zu wiederholen.
Im ersten Artikel von Josef Held, Psychologe und Jugend forscher, über Rassismus, Ausgrenzung und Integration in Europa nach 1989 analysiert der Autor verschiedene Formen des Rassismus wie struktureller, institutioneller und kultureller sowie Alltags-Rassismus, die alle gemeinsam der gesellschaftlichen Diskriminierung dienen und oft mit anderen Ausgrenzungen wie Nationalismus oder Autoritarismus verbunden sind.
Danach berichtet er über eine vergleichende Untersuchung von Jugendlichen in 4 Ländern und deren rassistische Erscheinungsformen, die sich deutlich unterscheiden:
- In Lettland korreliert ein völkischer Nationalismus stark mit rassistischer Orientierung.
- Für Kroatien sieht Held nicht, wie oft vermutet, Rassismus als Ursache für den Bürgerkrieg, sondern meint, dass der Krieg das Mittel war, um einen nationalistisch-rassistischen Hass zu erzeugen, der auch dazu führte, dass die bisher gemeinsam gesprochene Sprache durch Rückgriff auf alte nicht mehr benutzte Vokabeln etc. wieder in „national“ diverse Sprachen wie serbisch, kroatisch etc aufgeteilt wird.
Eine ähnliche Argumentation findet sich auch in einem späteren Artikel von Tanja Zimmermann, Slavistin und Kunsthistorikerin, „Brüderlichkeit und Einheit“ in Tito-Jugoslawien und ihr Umschlag in die Rhetorik des Brudermords, Sie analysiert, dass es einerseits zu einem Rückgriff auf den Panslawismus des 19. Jahrhunderts kam, andererseits Jugoslawien nicht als Nation sondern als eine sozialistische jugoslawische Gemeinschaft gesehen wurde.
- Für die Niederlande konstatiert Held, dass der Rassismus nur in Deutschland gesehen wird, nicht bei sich selbst, trotz der Praxis der Abschiebung von „Illegalen“ in den 90er Jahren und dem starken Anstieg rechtsextremer Parteien.
- Für Deutschland sieht er einen defensiven Nationalismus und starken Alltagsrasssismus und auch steigenden Rechtsextremismus.
Paula Schrode, islamische Religionswissenschaftlerin, zeigt in Islam und Rassismus in Deutschland wie Rassismus in Deutschland zur Normalität und damit die Produktion sozialer Unterschiede verfestigt wird. „Türken“ werden zu „Muslimen“. Sie zeigt aber auch, dass unterschiedliche islamische Religionsrichtungen ebenfalls rassistische Unterschiede machen – wie Muslime – Nichtmuslime (die nicht geheiratet werden dürfen) und dass es auch zur Überschneidung von Rassismus und Sexismus kommt. Betont wird dort auch, dass es unüberschreitbare Differenzen zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen gäbe.
Sie kritisiert außerdem, dass z.B. nach einer Handreichung des Berliner Senats von 2010 an den Schulen auch bestimmte Formen der Geschlechtersegregation zugelassen und Rücksicht im Sexualkundeunterricht auf konservative Eltern zu nehmen sei.
Magdalena Marsovszky, Kunstgeschichtlerin und Kulturwissenschaftlerin beschreibt in „Wir verteidigen das Magyarentum“ ausführlich den Prozess, wie sich in Ungarn eine ethnopluralistische – rassistische Konzeption, die heute von der Mehrheit geteilt wird, entwickelt hat, die im Unterschied zur europäischen nationalen Rechten, eine kulturelle Überlegenheit der Magyaren betont, die Neugeburt der Nation propagiert, gegen deren „Feinde“ auch Gewaltanwendung legitim sei.
Im neuen Grundgesetz wird das ius sanguinis festgeschrieben. Das Mediengesetz dient dem Schutz der Mehrheit, kritische Journalisten, etc können mit Arbeitsverboten belegt, Minderheiten wegen Volksverhetzung bestraft werden.
Besonders interessant fand ich den Artikel von Nicole Hirschfelder, Literatur- und Kulturwissenschaftlerin über Homophobie und Rassismus, über die Ausgrenzung, das Vergessen und die allmähliche Wiederentdeckung von Bayard Ruskin, einem bedeutenden Vertreter der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Sie zeigt auf, dass die tatsächliche Vielfalt dieser Bewegung sich bis heute nicht in den Schulbüchern wiederfindet und dass diese Bewegung nach wie vor an den Maßstäben der weißen Mehrheit gemessen wird. Im konkreten Fall handelt es sich bei Ruskin um einen wichtigen Anführer dieser Bewegung, der aber immer wieder aufgrund seiner offenen Homosexualität, seiner Sympathie für den Kommunismus und seine Hautfarbe diskriminiert wird. Und diese Diskriminierung setzt sich nach seinem Tode verstärkt fort, weil nach Auffassung der Autorin gerade Homophobie und Rassismus miteinander verbunden sind und sich wechselseitig verstärken, wobei immer behauptet wird, Homophobie sei in der schwarzen Community besonders weit verbreitet.
Ein anderer Artikel, der hoffentlich Beachtung findet und weitere Untersuchungen zu diesem Thema anregt, ist Barbara Wiedemanns, Literaturwissenschaftlerin, „trugen viele der Leichen seidene Damenunterwäsche“ über antisemitische Altlasten der Lektüre im Deutschunterricht.
Sie bezieht dabei auf 2 besonders erfolgreiche und bis heute benutzte Romane. Bruno Apitz Roman von 1958 in der DDR erschienen „Nackt unter Wölfen“ und Alfred Andersch Roman von 1957 „Sansibar oder der letzte Grund“. Detailliert zeigt sie auf, wie in beiden Büchern der Antisemitismus weiterlebt und dieser selbst in den in den letzten Jahren erschienenen Unterrichtshilfen dazu nicht thematisiert wird.
In Apitz Roman spielen die Juden, die die Mehrheit der KZ-Gefangenenen in Buchenwald waren, kaum eine selbständige Rolle. Stattdessen sind es die Kommunisten, die sie retten. Weil die Juden einerseits ihren Besitz erhalten wollen, andererseits völlig hilflos sind. Im Roman sprechen sowohl die SS-Leute wie die Kommunisten von den Juden mit entsprechenden Vorurteilen, wobei sich die Sprache nur partiell unterscheidet. Besonders deutlich wird die Herabsetzung und Verachtung der jüdischen Gefangenen durch die Kommunisten, in dem Teil, in dem sie männliche Tote, die den Transport von Auschwitz nach Buchenwald nicht überlebten, für das Krematorium ausziehen müssen- „auf nacktem Körper trugen viele der Leichen seidene Damenunterwäsche auserlesener Eleganz. Vom zartesten Lachs bis zum Meergrün.“ Es wird also behauptet, sie hätten nach wie vor luxuriös gelebt -und dies in Auschwitz und sie seien wohl auch „pervers“ gewesen.
In Andersch´ Roman sind die Juden ebenfalls hilflos, müssen von anderen gerettet werden. Die Hauptfigur, ein junges jüdisches Mädchen, wird als verwöhnt und aus einem reichen jüdischen Haus kommend, beschrieben. Andersch beschreibt sie so: „Eine Fremde mit einem schönen, zarten fremdartigen Rassegesicht.“
Wie gesagt, werden diese beiden Romane bis heute an Schulen gelesen und ihr inhärenter Antisemitismus in der Regel nicht diskutiert.
Ein anderes, für mich durchaus neues Thema ist auch der Artikel von Cornelia Ruhe, Romanistin, Wohlwollende Ratschläge, über das bis heute hierarchische Verhältnis französischer Verlage zu Autoren aus ihren ehemaligen Kolonien. Wobei besonders auffällt, dass hier die Unterscheidung zwischen französischen und frankophonen Autoren gemacht wird, wobei letztere in eigenen Reihen erscheinen. Selbst so bekannte Autoren wie Aimé Césaire oder Léopold Senghor werden nicht in die Hauptreihen wie z.B. La Pléiade aufgenommen, in denen auch viele andere internationale Autoren erscheinen bis hin zu Ernst Jünger. Ruhe zeigt außerdem an konkreten Beispielen, wie die Lektoren ihnen unvertraute Vokabeln und Konzepte in den Texten dieser Autoren entfernen oder ersetzen.
Diskussion
Diese Beispiele sollten genügen, um die Bandbreite des vorliegenden Buches zu belegen, am Ende finden sich auch noch Berichte über die Praxis von Antirassismus- Workshops.
Es enthält einen Namensindex, in dem alle in den Texten genannten Personen aufgeführt sind, aber kein zusammenfassendes Literaturverzeichnis. Die jeweils verwendete Literatur findet man daher im Anschluss an jeden Artikel.
Fazit
Ein Buch, das die Rassismusforschung um neue und seltene Themen erweitert und dem daher eine weite Verbreitung zu wünschen ist.
Rezension von
Prof. Dr. Christine Labonté-Roset
Emeritierte Professorin für internationale Sozialpolitik der Alice-Salomon-Hochschule Berlin
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