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Joseph Kuhn, Martin Heyn (Hrsg.): Gesundheitsförderung ... (öffentlicher Gesundheitsdienst)

Rezensiert von Matthias Brünett, 15.01.2016

Cover Joseph Kuhn, Martin Heyn (Hrsg.): Gesundheitsförderung ... (öffentlicher Gesundheitsdienst) ISBN 978-3-456-85459-5

Joseph Kuhn, Martin Heyn (Hrsg.): Gesundheitsförderung durch den öffentlichen Gesundheitsdienst. Verlag Hans Huber (Bern, Göttingen, Toronto, Seattle) 2015. 192 Seiten. ISBN 978-3-456-85459-5. D: 39,95 EUR, A: 51,40 EUR, CH: 66,90 sFr.

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Thema

Der rezensierte Band setzt sich mit der Verwirklichung der Gesundheitsförderung im öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) auseinander. Gemeint sind hier vorwiegend die Gesundheitsämter.

Hintergrund der Publikation ist u.a. das neue Präventionsgesetz, das im Juni 2015 verabschiedet wurde und 2016 in Kraft tritt. Darin festgeschriebene Neuerung ist u.a. die Gesundheitsförderung in Lebenswelten.

Der eigentlich zunächst unverfänglich anmutende Titel der Publikation offenbart eine gewisse Brisanz, wenn man sich ihre Stoßrichtung vergegenwärtigt. Natürlich ist der ÖGD auch präventiv ausgerichtet. Genau deshalb steht er aber auch unter einer gewissen medizinischen oder pathogenetischen Dominanz. Doch Gesundheitsförderung, obgleich sehr oft semantisch erwähnt, ist nicht immer gleich Gesundheitsförderung. In diesem Spannungsfeld setzt der Band an und will eben genau das erörtern, was im Titel erwähnt ist: Gesundheitsförderung durch den ÖGD. Ein weiteres Spannungsfeld, in dem die Beiträge anzusiedeln sind, ist der gewisse „autoritäre“ Charakter des ÖGD. Autoritär insofern, als seine hoheitlichen Befugnisse weitreichenden Eingriff in Autonomie der Betroffenen ermöglicht. Dagegen wird ebenfalls die Gesundheitsförderung und hier besonders Empowerment gestellt. Letztendlich plädieren die Herausgeber für eine komplementäre Sichtweise (Pathogenese und Salutogenese) auf die Arbeit und in der Arbeit des ÖGD und dieser Komplementarität widmen sich auch die Beiträge des Bandes.

Herausgeber und AutorInnen

  • Joseph Kuhn, Gesundheitswissenschaftler, Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, darüber hinaus tätig als Publizist, am LGL für Gesundheitsberichterstattung zuständig.
  • Martin Heyn, Sozialmanager, Leiter des Bayerischen Zentrums für Prävention und Gesundheitsförderung am LGL.

Die Beiträge wurden von insgesamt 29 AutorInnen verfasst. Davon sind 15 in Gesundheitsämtern beschäftigt, weitere 9 im Hochschulbereich.

Aufbau

Insgesamt versammelt der Band 19 (überwiegend recht kurze) Beiträge auf rund 190 Seiten, inklusive des Anhangs, der etliche relevante Dokumente (z.B. die Ottawa-Charta) enthält. Gegliedert ist der Band in drei Hauptkapitel:

  1. Entwicklungslinien: Der Öffentliche Gesundheitsdienst und Gesundheitsförderung
  2. Praxisbeispiele: Stand der Dinge
  3. Potenziale entwickeln, Strukturen verbessern

In der Einführung verorten Joseph Kuhn, Veronika Reisig, Natalie Voh und Martin Heyn in der Landschaft von Prävention und Gesundheitsförderung. Sie berufen sich ausführlich auf die Ottawa-Charta und verorten den ÖGD zwischen einem kontrollierenden, überwachenden Pol („medizinische Polizey“ in der Geburtsstunde des ÖGD) und den emanzipatorischen Gedanken der Ottawa-Charta (Empowerment, Neuorientierung der Gesundheitsdienste). Kann der ÖGD diesen Spagat überhaupt? Die AutorInnen meinen Ja, dazu müsse aber eine „doppelte Kompetenz“ entwickelt werden: die oben schon angesprochene Integration von Pathogenese und Salutogenese gleichermaßen, oder anders ausgedrückt: Überwachung/Kontrolle einerseits und Unterstützung/Beratung/Vernetzung andererseits.

Im Folgenden werden ausgewählte Beiträge näher besprochen.

Zu Teil 1

Teil 1 beschäftigt sich mit „Entwicklungslinien: Der Öffentliche Gesundheitsdienst und Gesundheitsförderung“.

Im ersten Beitrag beschäftigt sich Ernst-Wilhelm Luthe mit Bausteinen und Perspektiven kommunaler Gesundheitslandschaften. Unter seinem Konzept der Gesundheitslandschaften versteht der Autor u.a. eine Stärkung der kommunalen Verantwortung hinsichtlich der Gesundheitsversorgung. Dabei steht aber nicht nur Gesundheit im Fokus, sondern ebenso deren organisatorischen und politischen Bedingungen. Insbesondere Prävention und Gesundheitsförderung müssten wegen ihrer Kontextabhängigkeit auf kommunaler Ebene angesiedelt sein. Darüber hinaus plädiert Luthe dafür, die Gesundheitswirtschaft als Motor für die kommunale und regionale Entwicklung zu begreifen.

Sigrid Stöckel geht in einem weiteren Beitrag ein auf „Ein neues Gesundheitsverständnis und der Öffentliche Gesundheitsdienst – ein historischer Rückblick auf die Anfänge“ (S. 29ff.). Sie beleuchtet zwei Entwicklungslinien und untersucht sie hinsichtlich ihrer Kongruenzen und Berührungspunkte. Es sind dies zum einen der Gesundheitsbegriff der WHO, zum anderen der ÖGD der Nachkriegszeit in Deutschland und dessen Bemühen, „sich nach der nationalen Katastrophe des Nationalsozialismus […] neu zu positionieren.“ Dabei gewährt sie mit der Akribie der Historikerin dem Zustandekommen des WHO-Gesundheitsbegriffs samt der in seinem Fahrwasser entstandenen Deklarationen (Ottawa, Alma Ata) viel Raum. Interessant auch, wie Stöckel die nach dem Krieg und während der Verabschiedung der WHO-Gesundheitsdefinition in Deutschland fortlebende biologistische Orientierung innerhalb des ÖGD herausarbeitet und zum Schluss kommt, dass „die deutschen Amtsärzte die Ideale der WHO nicht hatten verstehen können“, sondern sie entsprechend ihrer Weltsicht fehlinterpretierten. Die Erkenntnis, dass dieser Zustand sich wesentlich erst 1986 mit der Ottawa-Charta änderte, ist freilich nicht sehr ermutigend, unterstreicht aber die Bedeutung dieses Papiers für die Gesundheitsförderung in Deutschland. Klaus Plümer relativiert diese allerdings im folgenden Kapitel („Gesundheitsförderung und ÖGD: Von der Reformhoffnung der 1990er-Jahre zum Waisenkind kommunaler Gesundheitspolitik – eine persönliche Bilanz“), indem er auf die während der AIDS-Prävention verpassten Chancen für den ÖGD hinweist.

Zu Teil 2

Teil 2 widmet sich Good-Practice-Beispielen.

Markus Heckenhahn und Karin Müller berichten von Anstrengungen der Stadt Kassel, dem bisherigen „Flickenteppich der Gesundheitsförderung“ durch die Etablierung von Kooperation und Verzahnung der unterschiedlichen Aktivitäten zu begegnen. Hervorzuheben ist hier die von den Autoren formulierte Absicht, bewusst ein Gegengewicht setzen zu wollen zu „kurzlebigem, anbieterorientiertem Aktionismus und in nachhaltige, die Lebenswirklichkeiten der Menschen würdigende Ansätze der Gesundheitsförderung [zu] investieren“ (S. 63). In diesem Rahmen stellen sie auch einige der in Kassel umgesetzten Aktionen vor, bspw. die „Gesundheitskampagne ‚Kassel isst veggi‘“ oder das „Hitzetelefon Sonnenschirm“.

Kerstin Moncorps und Dagmar Pohle schreiben in einem weiteren Beitrag über „Soziale Stadtentwicklung und Gesundheitsförderung im Bezirk Marzahn-Hellersdorf“, einem benachteiligten Berliner Bezirk, was sich u.a. an der unterdurchschnittlichen Kindergesundheit zeige. Der Artikel fokussiert auf familienorientierte Maßnahmen wie der Förderung der Erziehungskompetenzen der Eltern, aber auch Hausbesuchen nach der Geburt eines Kindes im Rahmen einer Präventionskette.

Michael Dörr berichtet über Möglichkeiten, Grenzen und Erfahrungen des Einsatzes neuer Medien in der präventiven Arbeit des ÖGD. Zur Sprache kommen in dem recht knapp gefassten Beitrag u.a. der Einsatz von Apps, neuen Medien im Auskunftswesen und von Webseitenanalysen. Der Beitrag kann in seiner Kürze am ehesten als Ideensammlung verstanden werden.

Zu Teil 3

Teil 3 firmiert unter der Überschrift „Potenziale entwickeln, Strukturen verbessern“ und enthält Beiträge, die sich mit eher als grundsätzlich zu bezeichnenden Fragen der Gesundheitsförderung im ÖGD befassen.

Erwähnenswert ist beispielsweise der konstruktiv-kritische Beitrag von Rainer Steen, der sich mit dem „Beziehungsgeflecht von sozialer Arbeit und Gesundheitsförderung“ (S. 120) beschäftigt. Er positioniert sich darin gegen eine individualmedizinische Übermacht im ÖGD und so kann sein Beitrag als Plädoyer für eine sozialarbeiterische bzw. generell sozialere Perspektive im ÖGD verstanden werden. Selbige manifestiert sich bspw. in der Ressourcenorientierung sowie im Lebenswelt- und Netzwerkbezug, um nur einige vom Autor angeführten Bezugspunkte zu nennen. Ebenso wirft er einen berechtigten Blick auf die unterschiedlichen Begrifflichkeiten Gesundheitsförderung und Prävention und die damit zusammenhängenden konzeptionellen Unterschiede. Auch wenn diese Unterscheidung etwas akademisch anmuten mag, weil sie in der Praxis so klar und eindeutig nicht existiert, kommt sie in etlichen anderen Beiträgen doch etwas zu kurz.

In einem weiteren Beitrag setzt sich Dagmar Starke mit neuen Ausbildungswegen auseinander, um den „ÖGD fit [zu] machen für die Gesundheitsförderung“ (S. 135) und stellt Überlegungen an zu Inhalten guter Aus- und Weiterbildung für Akteure im ÖGD. Sie thematisiert u.a. die Neuorientierung des ÖGD in Richtung Gesundheitsförderung oder die kommunale Einbindung, bspw. in die Sozialraum- und Quartiersentwicklung. Insgesamt plädiert sie für eine praxisrelevante Gestaltung der Bildungsinhalte, bei der aber interessanterweise auch kritische Töne nicht fehlen, bspw. die bekannte Mittelschichtorientierung vieler Gesundheitsförderungsprogramme.

In einem weiteren grundsätzlich ausgerichteten Beitrag erörtern Tobias Fleuren und Holger Hassel Bedeutung und Möglichkeiten kommunaler Gesundheitskonferenzen. Dabei streichen sie deren Bedeutung als Steuerungsinstrument für die Gesundheitspolitik heraus.

Fazit

Wie bei einem Sammelband eigentlich unvermeidlich, versammelt er Beiträge unterschiedlicher Art und Qualität. Der vorliegende Band setzt sich in drei Themenbereichen mit der „Gesundheitsförderung durch den öffentlichen Gesundheitsdienst“ auseinander.

Zunächst geht es um Entwicklungslinien, oder anders ausgedrückt um punktuelle Kongruenzen der Entwicklungen in Sachen Gesundheitsförderung auf der einen und ÖGD auf der anderen Seite. Ein insgesamt gut gelungener Buchteil, der mit guten und kenntnisreichen Beiträgen ins Thema einführt.

Im zweiten Teil des Buches werden Best-Practice Beispiele vorgestellt, die eine große Bandbreite der gegenwärtigen Praxis abdecken. Hervorzuheben ist, dass die Beiträge alle von Praktikern verfasst wurden, was die Lektüre für Praktiker interessant und empfehlenswert machen dürfte. Aus akademischer Sicht ist in einzelnen Beiträgen die theoretische Verortung nicht trennscharf gelungen. Auch wenn das aus pragmatischer Sicht nur bedingt relevant sein mag, weil in der Praxis, wie oben schon erwähnt, Überschneidungen bestehen, stellt sich doch die Frage, wie die von den Herausgebern erwähnte, zu entwickelnde „doppelte Kompetenz“ des ÖGD (Pathogenese und Salutogenese) ohne entsprechende Reflexion gelingen kann. Dennoch finden sich auch in diesem Teil sehr gelungene Beiträge, die insbesondere auch im Hinblick auf das kommende Präventionsgesetz einen willkommenen Ideenfundus darstellen.

Der dritte Teil des Bandes vereint Beiträge grundsätzlicherer Natur unter der Überschrift „Potenziale entwickeln, Strukturen verbessern“. Hervorzuheben ist hier die kritisch-konstruktive Auseinandersetzung mit dem Thema Gesundheitsförderung und ÖGD. Neben Beiträgen, die als eher auf einer Metaebene angesiedelt bezeichnet werden können, gibt es hier auch Beiträge, denen der Praktiker unmittelbar Verwertbares entnehmen kann.

Insgesamt versammelt der Band eine Fülle unterschiedlicher Beiträge, denen aber alle ihre verhältnismäßige Kürze gemein ist. Die macht das Buch einerseits gut lesbar, als Ideenfundus ist es durchaus zu empfehlen. In der Kürze liegt aber nicht immer die Würze, vereinzelt sind Beiträge (zumindest in Teilen) zu knapp und sparsam geraten.

Dennoch: Der Band muss unbestritten als hochaktuell bezeichnet werden. Das Präventionsgesetz wurde verabschiedet und harrt jetzt seiner Umsetzung. Insbesondere Aspekte der Gesundheitsförderung und Lebensweltorientierung wurden darin ergänzt. Gefragt ist bei der Umsetzung natürlich auch der ÖGD. Im rezensierten Band findet sich eine Fülle an Beispielen und Ideen, es ist insbesondere den in der Gesundheitsförderung/Prävention/ÖGD tätigen Kolleginnen und Kollegen zu empfehlen.

Rezension von
Matthias Brünett
MSc. Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Deutsches Institut für angewandte Pflegeforschung (DIP), Köln
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Es gibt 12 Rezensionen von Matthias Brünett.

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ISSN 2190-9245