Alice Goffman: On the run. Die Kriminalisierung der Armen in Amerika
Rezensiert von Prof. Dr. Uwe Helmert, 28.09.2015
Alice Goffman: On the run. Die Kriminalisierung der Armen in Amerika. Verlag Antje Kunstmann GmbH (München) 2015. 367 Seiten. ISBN 978-3-95614-045-7. 22,95 EUR.
Thema
Das Buch ist ein Vor-Ort-Bericht des Gefängnis-Booms in den USA. Es wirft einen Blick aus nächster Nähe auf junge Männer und Frauen, die in einem armen, hauptsächlich von Schwarzen bewohnten Viertel leben, das von einer beispiellosen Inhaftierungsquote und damit einhergehenden, aber mehr im Verborgenen ablaufenden Überwachungs- und Kontroll-Systemen geprägt und verändert wurde. Da die grundlegenden Bereiche des alltäglichen Lebens – Arbeit, Familie, Liebesbeziehungen, Freundschaften und sogar die medizinische Versorgung in Notfällen – von der Angst vor Festnahme und Haft durchdrungen sind, ist dies eine Studie einer Community „on the run“ – auf der Flucht.
Autorin
Dr. Alice Goffman ist Assistant Professor of Sociology an der University of Wisconsin-Madison, USA.
Entstehungshintergrund
Um einen sozialwissenschaftlichen Text beurteilen zu können, ist es wichtig, zu erfahren, wie der Forscher zu seinem Wissen gekommen ist. Für die Forschung, aus der dieses Buch entstanden ist, bedeutet dies, zu erklären, wie eine junge weiße Amerikanerin dazu kam, ihre Zwanziger mit jungen Schwarzen Männern zu verbringen, welche in einem einkommensschwachen, hauptsächlich von Schwarzen bewohnten Viertel in Philadelphia ihre Tage damit verbringen, Katz und Maus mit der Polizei zu spielen.
In ihrem ersten Studienjahr belegte die Autorin an der University of Pennsylvania ein Seminar bei David Grazian zu urbaner Ethnologie. Er war neu und kam aus Chicago, wo es eine lange Tradition gibt, urbanes Leben durch Beobachtungen aus erster Hand zu untersuchen. Gleich zu Beginn des Seminars stellte er die Aufgabe, individuell einen Ort für die Feldforschung zu suchen, wo man das soziale Gefüge beobachten und Notizen machen kann. Die Autorin führte diese Feldforschung in einer großen Mensa auf dem Campus durch und schrieb darüber eine Hausarbeit. Bei ihrem Gelegenheitsjob in der Mensa hatte die Autorin Miss Deena, die sie eingestellt hatte, näher kennengelernt. Im nächsten Semester fragte die Autorin Miss Deena, ob sie jemanden kenne, der Nachhilfe brauche. Sie schlug sofort ihre beiden Enkelkinder vor. Darüber entstand allmählich der Kontakt zu den schwarzen jungen Männern aus der 6th Street.
Während ihrer Feldforschung in der 6th Street hat sich die Autorin oft mit ihrem privilegierten Status auseinandergesetzt. Sie stammt aus einer gebildeten und wohlsituierten Familie. Ihr Vater Erving Goffman war ein berühmter Soziologe und Feldforscher. Ihre Eltern gaben ihr beträchtliche finanzielle Unterstützung und verstanden auch, um was es bei meinem Forschungsvorhaben ging, und brachten ihre eigenen Erfahrungen in das Projekt ein. Dieser besondere Hintergrund hat der Autorin viel Selbstvertrauen gegeben, um ihr Forschungsprojekt bereits als Studienanfängerin in Angriff zu nehmen und die folgenden Jahre durchzuhalten.
Aufbau
Einleitung
- Die 6th Street Boys und ihre Konflikte mit dem Gesetz
- Die hohe Kunst der Flucht
- Wenn die Polizei deine Tür einschlägt
- Probleme mit der Justiz? Nutzt sie!
- Das Sozialleben kriminalisierter junger Menschen
- Das Geschäft mit Schutz und Privilegien
- Die Sauberen
Fazit: Eine Community der Flüchtigen
Epilog: Abschied von der 6th Street
Anhang: Notizen zur Methodik
Zur Einleitung
In den 1960er- und 1970er-Jahren erlangten die Schwarzen US-Amerikaner die vollen Bürgerrechte, die ihnen jahrhundertelang versagt geblieben waren. Während sie sich erfolgreich das Wahlrecht, das Recht auf Freizügigkeit, Zugang zum College und das Recht auf freie Berufsausübung erkämpften, begannen die Vereinigten Staaten zeitgleich ein Strafjustizsystem aufzubauen, wie es in der Geschichte noch keines gegeben hatte und wie es auch auf internationaler Ebene ohne Vergleich ist. Seit Mitte der 1970er-Jahre erließen die staatlichen und bundesstaatlichen Regierungen eine Reihe von Gesetzen, die das Strafmaß für Besitz, Erwerb und Verkauf von Drogen drastisch erhöhten.
In den 1990ern vollzog sich dann eine anhaltender Rückgang von Kriminalität und Gewalt, die harte Verbrechensbekämpfungspolitik blieb jedoch beibehalten. 1994 brachte der Violent Crime Control Act und der Law Enforcement Act den Kassen der städtischen Polizeibehörden landesweit Milliarden bundesstaatlichen Dollar ein. Gestützt von einer nahezu einstimmigen Befürwortung der Tough-on-Crime-Politik durch die Polizei und angesehene Bürger sprossen unter der zweiten Bush-Regierung staatliche und bundesstaatliche Polizeibehörden, Spezialeinheiten und Polizeidienststellen wie Pilze aus dem Boden. Während dieser Ära wandelte sich der Umgang der Vereinigten Staaten mit den ghettoisierten Bezirken ihrer Großstädte tiefgreifend. Fast das gesamte 20. Jahrhundert hindurch hatte die Polizei armen und hauptsächlich von Schwarzen bewohnten Stadtvierteln kaum Beachtung geschenkt. Die Polizei wurde von Zeitzeugen im Allgemeinen als ignorant, abwesend und korrupt beschrieben. Viele Jahrzehnte lang hatte die Polizei weggesehen, wenn es um Straßenprostitution, Drogenhandel und Glücksspiel in armen Schwarzen Communities ging. Im Jahr 2000 war die Gefängnispopulation auf das Fünffache dessen angewachsen, was sie in den frühen 1970er-Jahren betragen hätte.
Die ersten Teile des Buches beschäftigen sich mit der „schmutzigen Welt“: mit jungen Männern, die ihre Teenagerzeit und frühen Zwanziger damit verbringen, vor der Polizei zu flüchten. Doch trotz allem erkämpfen sie sich ein sinnvolles Leben. Das Ausmaß von Strafen und Kontrollen hindert sie nicht, sich eine Welt nach moralischen Maßstäben zu errichten, in der sie Würde und Ehre erfahren. Die Bemühungen der jungen Männer und Frauen, Arbeit, Familie, Liebesbeziehungen und Freundschaften in dieser hyperüberwachten Zone unter der ständigen Androhung von Haft zu bewerkstelligen, ist genauso Teil der Geschichte wie nächtliche Razzien oder vollständige Leibesvisitationen.
Zu Kapitel 1
Die 6th Street Boys und ihre Konflikte mit dem Gesetz: In diesem Kapitel werden die Hauptpersonen des Buches vorgestellt, die alle in der 6th Street leben. Die wichtigsten sind:
- Chuck, 13 Jahre : Er ist der älteste von drei Brüdern. Sein Vater ließ sich in den ersten Jahren oft blicken . Mit dreizehn begann Chuck, für einen Dealer aus dem Viertel zu arbeiten, damit er sich und Tim etwas zu essen kaufen konnte. In seiner Highschool-Zeit wurde er mehrmals festgenommen, aber man konnte ihm nichts beweisen, und so arbeitete er weiter für den Dealer. Die Autorin lernte Chuck in seinem letzten Schuljahr kennen, als er achtzehn Jahre alt war. In diesem Jahr wurde er wegen schwerer Körperverletzung verhaftet und landete in der Curran-Formhold Correctional Facility, einer Srafanstalt im Nordosten von Philadelphia. Als Chuck acht Monate gesessen hatte, ließ der Richter fast alle Anklagepunkte fallen, und Chuck kehrte nach Hause zurück, allerdings hingen ein paar hundert Dollar Gerichtskosten wie ein Damoklesschwert über ihm.
- Reggie, 10 Jahre: Er ist der mittlere Bruder von Chuck. Reaggies Vater war ein unzuverlässiger Nichtsnutz, er saß immer wieder lange im Gefängnis, und wenn er rauskam, verübte er im alkoholisierten Zustand Raubüberfälle. Reggie kam mit fünfzehn Jahren für ein paar Monate nach Hause. Seine Mutter sagt nicht ohne Stolz über ihn: „Der kennt keine Angst: Ein eiskalter Gangster“.
- sein Bruder Tim, 6 Jahre: Er ist der jüngere Bruder von Chuck. Sein Vater verließ ihn als er noch ein Baby war und brach jeden Kontakt ab. Etwa einen Monat, nachdem sein größerer Bruder Chuck ins Gefängnis gewandert war, hörte Tim auf zu sprechen. Ein paar Monate, nachdem Chuck wieder nach Hause gekommen war, fing Tim wieder an zu sprechen. Noch im selben Jahr, er war gerade elf geworden, wurde er zum ersten Mal verhaftet. Chuck hatte Tim im Auto seiner Freundin zur Schule gefahren. Der Wagen war in Kalifornien gestohlen worden. Die Polizei nahm die beiden Brüder in Gewahrsam, und auf dem Polizeirevier warfen sie Chuck Hehlerei vor. Tim klagten klagten sie wegen Komplizenschaft an, und später verfügte der Richter am Jugendgericht eine dreijährige Bewährungszeit.
- Die Mutter der drei Jungs, Miss Linda, war fünf Jahre lang schwer Crack abhängig gewesen, als sie mit Chuck schwanger war, und während ihre drei Kinder aufwuchsen, nahm sie das Zeug weiter.
Manche Leute hier im Viertel meinen, Chuck und seine jüngeren Brüder hätten so viele Probleme, weil ihre Väter nicht da sein und ihre Mutter kein gutes Vorbild abgebe. Fast alle sagen, Miss Linda sei drogenabhängig und habe ihre Jungs nicht gut erzogen. Man müsse nur einmal ihr Haus betreten, dann wisse man Bescheid: Es stinke nach Pisse, Kotze und abgestandenem Zigarettenqualm und auf den Arbeitsplatten und dreckigen Möbeln liefen Kakerlaken herum. Aber viele von Chucks Freunden hatten Mütter, die nicht auf Crack waren, zwei Jobs hatten und zur Kirche gingen, und trotzdem verbrachten auch diese Jungs viel Zeit mit der Polizei und den Gerichten.
Zu Kapitel 2
Die hohe Kunst der Flucht: Chuck zu seinem jüngeren Bruder Tim: „Wenn du die Cops kommen hörst, dann fick die Nigga (lauf weg). Da ist keine Zeit, groß nachzudenken, was hab ich in der Tasche, was wollen die von mir. Nein, du hörst sie kommen, das ist alles, und du bist weg. Klare Sache. Weil egal hinter wem die her sind, auch wenn´s gar nicht du bist, die verhaften dich fast hundertprozentig trotzdem“.
Weglaufen war nicht immer das Klügste, was man tun konnte, wenn die Cops auftauchten, aber der Reflex saß so tief, dass er sich manchmal nicht unterdrücken ließ. Es reicht aber nicht, abzuhauen und sich zu verstecken, wenn die Polizei anrückt. Wer nicht ins Gefängnis will, darf auch nicht die Polizei rufen, wenn ihm etwas passiert ist. Und er kann Auseinandersetzungen nicht vor Gericht regeln. Aber die jungen Männer aus der 6th Street fürchten weit mehr als nur die Justiz und deren Durchsetzungsinstanzen. Der Griff der Polizei legt sich wie ein Netz um sie – um die öffentlichen Plätze in der Stadt, alle Aktivitäten, denen sie normalerweise nachgehen, und die Orte in ihrem Viertel, an denen sie gewöhnlich anzutreffen sind.
Auch der Besuch von Beerdigungen ist nicht ohne Risiko. Die Autorin nahm insgesamt an sechs Beerdigungen von jungen Männern teil, die im Viertel 6th Street getötet worden waren, und bei allen hatte die Polizei Kameras auf Stativen aufgebaut und filmte die Trauergemeinde. Weitere Polizisten standen auf der anderen Straßenseite und parkten in angrenzenden Blocks. Ein Polizist der Fahndungsabteilung erklärte der Autorin, Beerdigungen seien eine großartige Gelegenheit zur Verhaftung von Gesuchten. „Aber wir stehen immer ein oder zwei Blocks weiter, damit unser Bild nicht in die Zeitung kommt“.
Chuck und seine Freunde sahen schließlich überall in ihrem Alltag Gefahren. Sie fürchteten nicht nur die Polizei, Gerichte, Krankenhäuser, ihren Arbeitsplatz, ihre Wohnung und sogar ihre eigenen Familienmitglieder konnten sie hinter Gitter bringen.
Zu Kapitel 3
Um ihre inoffiziellen Verhaftungsquoten zu erfüllen und ihre Vorgesetzten zufriedenzustellen, warten die Polizisten vor den Krankenhäusern, in denen Leute aus den ärmlichen, hauptsächlich von Schwarzen bewohnten Vierteln behandelt werden, und lassen die Namen der Männer, die hineingehen, durch ihre Computersysteme laufen.
Wer von der Polizei gesucht wird, hat den Nimbus eines Abenteurers. Er ist in gewisser Weise dort, wo was los ist. Gesuchte Männer lassen sich zu Hause nicht mehr oft oder zumindest nicht regelmäßig blicken. In gewisser Weise verlangt der Status eines Mannes als Gesuchter von seiner Frau, in einer verwirrenden und unsicheren Gegenwart zu leben. Und in dieser Situation kommt die Polizei und bietet der Frau einen zweifelhaften Weg aus dem Morast an: Sie kann sich gegen den Mann wenden; sie kann sich auf die Seite der Polizei schlagen. Und indem sie anfängt, sich an der Denkweise der Polizei zu orientieren, tut sich ihr ein Pfad auf, der aus der quälenden Warteschleife führt. Jetzt eröffnet sich ihr ein Weg nach vorn, der ihr ermöglicht, die verkehrte Welt der Razzien, Vernehmungen und Verhöre zu verlassen. Vielleicht wird ihr Mann sie dafür hassen und sie sich selbst dafür hassen, aber zumindest bewegt sie sich vorwärts.
Zu Kapitel 4
Polizei und Gerichten machen ohne Zweifel den Familien in der 6th Street das Leben schwer. Sie bringen die Menschen auseinander und säen Zweifel und Misstrauen. Aber die Bewohner liefern sich nicht einfach der Behördenwillkür aus. Die Männer und Frauen des Viertels haben ihre je eigene Art, die gegen sie eingesetzten Maßnahmen und ihre Konflikte mit dem Gesetz in einen Vorteil umzumünzen. Gefängnisse sind in den USA bewusst abstoßend gestaltet, um ihre Insassen vor weiteren Straftaten abzuhalten. Aber in Zeiten gewaltsamer Konflikte kann der Gewahrsam auf einmal doch attraktiv wirken.
Zu Kapitel 5
In der 6th Street und vergleichbaren Vierteln fangen die Gesetzeskonflikte für die Jungs mit der Schule an, und die ersten Erfahrungen mit Jugendgerichten und Haftanstalten machen sie noch vor dem Teenageralter. Gegen Ende der Teenagerzeit und mit Anfang zwanzig ist für diese jungen Menschen weitgehend nicht mehr das Bildungssystem die Hauptbühne ihres Lebens, sondern das System des Strafvollzugs. Auf dem Weg eines jungen Mannes durch all diese Institutionen gibt es eine Menge Wendepunkte: Kautionsanhörungen, Gerichtstermine, Entlassung nach längerer Haftzeit etc. Diese Ereignisse sind wichtige soziale Anlässe, zu denen sich Freunde und Familie des jungen Mannes in Schale werfen und darüber streiten, wer für was bezahlt. Es wird genauestens beobachtet, wer bei diesen Terminen erscheint, wer neben wem und wer in der ersten Reihe sitzt, wer die Organisation übernommen hat, und wer was sagt. Wenn die Mutter der Kinder des Mannes nicht im Gerichtssaal erscheint, dann wird sofort getuschelt, dass sie ihn wegen eines anderen verlassen hat.
So wie das System der Strafjustiz die sozialen Anlässe liefert, in deren Rahmen die jungen Leute ihre Beziehungen zueinander definieren und klären, so liefert es auch das gesellschaftliche Material, mit dem sie Mut und Ehre beweisen. Eigentlich vermeidet es jeder, es mit Polizei und Justiz zu tun zu bekommen. Mit diesen Institutionen sind Schimpf und Schande verbunden. Aber die ständige Gefahr, im Gefängnis zu landen, der Weg der jungen Männer durch die Gerichte und Gefängnisse, ihr geringer und stets gefährdeter rechtlicher Status und der Druck auf ihre Angehörigen, Informationen über sich preiszugeben, all dies zusammen schafft auch Gelegenheiten, sich als mutig zu beweisen und die Achtung anderer zu gewinnen.
Zu Kapitel 6
Bis hierhin handelt das Buch vor allem von jungen Menschen, die sich im Visier des riesigen Apparats der Strafjustiz befinden, und von Menschen, die ihn nahestehen. Doch die ständige Bewegung einer großen Anzahl dieser jungen Männer durch die Gerichtssäle und Gefängnisse hat auf viel mehr Menschen Einfluss als auf diejenigen, die direkt betroffen sind. In 6th Street ist ein lebhafter Markt entstanden, der auf die Wünsche und Bedürfnisse derer ausgerichtet ist, die unter juristischen Restriktionen leben. Viele junge Leute machen Geschäfte, indem sie ihren Freunden und Nachbarn Waren und Dienstleistungen verkaufen, die ihnen helfen, sich vor der Polizei zu verstecken oder rechtliche Auflagen zu umgehen.
Einige dieser Leute taten erst einem Freund oder einem Verwandten öfter einen Gefallen und kamen später auf die Idee, dass sie auch Geld dafür nehmen können. Manche stellten fest, dass ihre legalen Jobs Möglichkeiten boten, Menschen, die sich in rechtlich prekären Situationen befinden, auf die eine oder andere Art zu helfen. Andere wiederum, die im Strafjustizsystem selbst angestellt sind, verdienen sich unter der Hand etwas dazu, indem sie Waren für die Inhaftierten einschmuggeln. Einige Leute starten ein Unternehmen, um Menschen, die in Konflikt mit dem Gesetz, mit Schutz und Privilegien zu versorgen. Manche Justizangestellte, Gefängniswärter, Fall-Manager und Aufsichtspersonen in Resozialisierungseinrichtungen nutzen ihre beruflichen Positionen erfolgreich, um Angeklagten, Gefangenen und bedingt Entlassenen, die das nötige Bargeld auftreiben können, Ausnahmen zu gewähren und Privilegien zu verschaffen. Und so wie der Vermittler von Waren und Dienstleistungen, die nicht im Strafjustizsystem arbeiten, helfen diese Personen manchmal auch aus rein persönlichen Gründen oder einfach aus dem Wunsch heraus zu helfen.
Manche Leute verkaufen spezielle Waren, wie drogenfreien Urin oder gefälschte Ausweisdokumente, mit denen man durch Polizeikontrollen kommt oder Auflagen umgehen kann. Hinzu kommt, dass vieles, was saubere Leute für grundlegende Rechte oder frei verfügbare Waren halten, zu begehrten Privilegien für Menschen werden, die verschiedenen Formen der Freiheitseinschränkung unterworfen sind: fünfzehn Minuten der Intimität mit der Ehefrau innerhalb der Gefängnismauern, ein Abend außerhalb der Einrichtung, an die man aufgrund der Bewährungsauflagen gebunden ist, oder ein paar Monate mehr in Freiheit vor der Urteilsverkündung. Auch aus solchen Dingen werden Güter, für die Leute mit reichlich prekärem Status bereit sind, teuer zu bezahlen.
Eine Menge Leute bieten unter der Hand Männern Unterstützung an, die vor der Polizei auf der Flucht sind oder mit den Gerichten und Gefängnissen zu tun haben. Durch diese illegalen Geschäfte werden werden auch sie Teil der schmutzigen Welt. Ihre Unterstützung kann ihnen das Gefühl geben, den weniger Begünstigten etwas zu geben oder sogar Teil einer politischen Bewegung im Untergrund gegen die Omnipräsenz der Polizei und der Gefängnisse zu sein. Aber diese Leute setzen auch auf die mit dem Gesetz in Konflikt stehenden Menschen, um Geld zu verdienen, und infolgedessen setzen sie auch auf das Strafjustizsystem, das sie verfolgt und einsperrt. Dadurch werden die sie aber auch Teil des Strafjustizsystem – zumindest in dem Sinn, dass sie sich mit ihm auskennen, mit ihm interagieren und es für ihren eigenen Vorteil nutzen. Manche stellen dabei auch fest, dass ihre Geschäfte mit Menschen, die im System gefangen sind, sie selbst in Gefahr bringen, verhaftet zu werden. Man kann sich dies als eine Art rechtliches Risiko zweiten Ranges vorstellen, eine Ausweitung der rechtlich prekären Lage, in der sich die jungen Männer befinden, auf die sich diese Studie hauptsächlich bezieht.
Zu Kapitel 7
Die Sauberen: In diesem Kapitel werden Gruppen von Menschen aus der 6th Street beschrieben, die sich, während ihre Freunde und Familienmitglieder immer wieder ins Gefängnis kommen und Polizeihubschrauber über ihren Köpfen kreisen, dennoch ein „sauberes“ Leben erschaffen. Durch diese Porträts beschreibt die Autorin die Vielfalt an Beziehungen zwischen sauberen Leuten und solchen, die im Konflikt mit der Polizei und den Gerichten stehen, wie die Sauberen ihre eigene Situation verstehen und und wie sie diejenigen, die auf der anderen Seite stehen, betrachten.
Zum Fazit: Eine Community der Flüchtigen
In der öffentlichen Vorstellung ist auf der Flucht zu sein ein Zustand, der den Ausnahmekriminellen vorbehalten ist. Die „Tough-on-Crime-Politik“ der USA hat jedoch die armen und segregierten Gegenden zu Orten gemacht, wo die Polizei allgegenwärtig ist.und wo viele junge Männer falsche Namen benutzen, dauernd über ihre Schultern schauen und unter der ständigen Angst leiden, dass ihre Nächsten sie der Polizei in die die Hände liefern könnten. „Auf der Flucht“ ist für mit dem Gesetz in Konflikt Geratene ein merkwürdiger Ausdruck, denn in ihrem Fall bedeutet die Bewegung der Flucht gleichzeitig Stillstand. In der Tat benutzen viele in 6th Street die Begriffe „gefangen – caught up – und auf der Flucht – on the run“ als Synonyme. Auf der einen Seite rennen die jungen Männer buchstäblich vor der Polizei davon, die sie zu Fuß oder per Auto, durch Häuser und über Zäune verfolgt. Sie flüchten auch vor den Informationen über sie in der Polzeidatenbank, in der sie als sofort zu Verhaftende ausgewiesen werden. Gleichzeitig bewirken die rechtlichen Verstrickungen, dass sie feststecken oder gefangen sind. Die gegenwärtige Überwachungstechnologie zur Verfolgung von Menschen in juristischen Verstrickungen bringt es mit sich, dass es nichts mehr nützt, die Stadt oder den Bundesstaat zu verlassen, um rechtlichen Problemen zu entkommen. Da diese Leite meistens nur wenige Ressourcen oder Fähigkeiten haben, die sie nutzen könnten, um anderswo erfolgreich zu sein, bleiben sie in ihrer Umgebung und sind abhängig von der Großzügigkeit der Familie und der Nachbarn.
Männer und Frauen ziehen allerdings auch in einer Weise Nutzen aus der massiven Polizeipräsenz, den Gerichten und Gefängnissen, die von den Behörden nie beabsichtigt war. Für junge Männer dient das Gefängnis manchmal als sicherer Hafen, wenn die Straße zu gefährlich geworden ist. Das Kautionsbüro mutiert de facto zu einer Bank, und Haftbefehle werden zur willkommenen Ausrede für ein Scheitern.
Die Gefängnisbedrohung und die Omnipräsenz von Polizei und Gerichten führen auch zu einer Durchdringung des sozialen Gefüges der Community in subtilerer Weise, indem sich nämlich die Währungen Liebe und Engagement umwerten und ein neues moralisches Bezugssystem schaffen, innerhalb dessen die Bewohner des Viertels ihre Identitäten konstruieren und Beziehungen gestalten. Die Menschen drücken ihre Zuneigung dadurch aus, dass sie sich weigern, der Polizei zu verraten, wo sich ein Freund sich aufhält, oder indem sie einem von der Polizei gesuchten Neffen einige Nächte in Sicherheit auf der eigenen Couch anbieten. Die Ereignisse, die den Weg eines Mannes durch das Strafjustizsystem markieren – der erste Gefängnisaufenthalt, die erste Hinterlegung einer Kaution, seine Verurteilung –, werden de facto Initiationsrituale und damit kollektive Ereignisse: die Hochzeiten, die Schulabschlüsse, die Abschlussbälle der Community auf der Flucht. Die Gefängnisandrohung schafft auch Gelegenheit, Mut und Loyalität zu beweisen: Dadurch, dass man einander vor Verhaftung schützt, erweist man sich als ehrenhaft und anständig und demonstriert damit die Stärke seiner Hingabe.
Zum Epilog: Abschied von 6th Street
Manche sagen, dass man ein Forschungsprojekt beenden soll, wenn man aufhört, Neues zu lernen. Die Autorin ist sich nicht sicher, ob das wirklich immer irgendwann passiert. Sie kam jedenfalls niemals an einen Punkt,wo sie sich „übersättigt“ fühlte, sie hatte niemals das Gefühl, genug gelernt zu haben, und dass es Zeit wäre, das Projekt zu beenden und die Forschungsergebnisse aufzuschreiben.
Letztlich beendete sie das Projekt, als ihr Stipendium auslief und sie eine Doktorarbeit schreiben und einen Job finden musste. Doch zu diesem Zeitpunkt fühlte es sich weniger so an, als ob die Autorin die 6th Street Boys verlassen hätte, sondern als ob sie die Autorin verlassen hätten – oder vielmehr, als hätte die Gruppe aufgehört zu existieren. 2008 war Chuck tot, sowie zwei andere Mitglieder der Gruppe, die auch durch Schießereien ums Leben kamen. Im Jahr darauf brachte sich Steve um. Chucks mittlerer Bruder Reggie und sein jüngerer Bruder Tim waren lange im Staatsgefängnis.
Die Autorin hält weiterhin den Kontakt zu Reggie und Tim durch Briefe und Telefonanrufe und durch gelegentliche Besuche im Gefängnis aufrecht. Reggie und Tim waren in ihrer Haftzeit dermaßen gelangweilt, dass sie sogar gefragt haben, wie es mit dem Buch voranginge, also es wurde ab und zu darüber geredet. Aber ich glaube, dass wir auch darüber hinaus durch die vergangenen Zeiten miteinander verbunden bleiben – und durch die Erinnerung an die Menschen, die nicht länger bei uns sind.
Zum Anhang: Notizen zur Methodik
Als die Autorin am Beginn ihrer Feldforschung in der 6th Street viel Zeit mit Ronny und Mike verbrachte, machten ihre Nachbarn und Verwandten oft Bemerkungen über ihr Weißsein und forderten sie auf, ihre Anwesenheit zu erklären. Da Mike über eine gewisse Machtposition unter den jungen Männern der Nachbarschaft verfügte, verschaffte ihr der Status als seine Adoptivschwester beträchtliche Legitimität. Es schien sich auch herumgesprochen zu haben, dass die Autorin nicht für Sex oder Liebesaffären zur Verfügung stand, weil Mike ganz einfach nicht dulden würde, dass seine Schwester „mit irgend so einem arbeitslosen, mit einem Bein im Knast stehenden, kiffenden Hurensohn rummacht“.
Die ersten Versuche der Autorin, zu beschreiben, was Mike und seinen Freunden geschah, wurden zunächst durch fehlende Kenntnisse über das Viertel, die Polizei und das Gerichtswesen, den örtlichen Drogenhandel und das Verhältnis zwischen Männern und Frauen stark behindert. Die Autorin konnte den Ereignissen und Unterhaltungen einfach nicht folgen, und die Leute waren oft zu beschäftigt oder zu entnervt, um ihr Dinge zu erklären. „Mein Gefühl, schwer von Begriff zu sein, war nicht nur rein innerlich – die Leute drückten mir gegenüber häufig ganz offen ihre Frustration und Erstaunen aus, wie langsam ich begriff, was vor sich ging. Teilweise lag es daran, dass ich eine Sprachbarriere überwinden musste.“ Mike und Chuck sprachen, was Linguisten als „African American Vernacular English“ bezeichnet haben. Oft begriff die Autorin die Bedeutung von Ereignissen nicht, während sie sich vor ihren Augen abspielten, und interpretierte Gesten und Handlungen falsch.
Auf methodischer Ebene hat sich die Autorin die Aufgabe gestellt, die Recherche nicht nach ihrem Bedürfnis nach Behaglichkeit bestimmen zu lassen. Während ihre Hautfarbe je nach Kontext in den Fokus rückte oder wieder aus ihm verschwand, änderten sich auch sukzessive ihre Verhaltensweisen und ihr Erscheinungsbild. Die Technik, die die Autorin am konsequentesten anwandte, um die Auswirkungen ihrer Differenz zu reduzieren, war „soziales Schrumpfen“ – mich so unauffällig zu verhalten wie möglich – wie eine Fliege an der Wand. Der Versuch, mit dem Hintergrund zu verschmelzen, wurde zu ihrer Obsession. Abgesehen von der „Fliege an der Wand“ wollte die Autorin aber auch teilnehmende Beobachterin sein. Sie wollte Seite an Seite mit Mike und seinen Freunden und Nachbarn leben und arbeiten, sodass sie ihre Alltagssorgen und kleinen Erfolge von innen heraus würde verstehen können. Die Methode der teilnehmenden Beobachtung bringt es mit sich, dass man sich von seinem vorherigen Leben abkapselt und sich so viel wie möglich von dem Mist unterwirft, mit dem die Leute, über die du erfahren willst, tagtäglich konfrontiert werden. Als die Autorin immer mehr Zeit in der 6th Street verbrachte, distanzierten sich ihre alten Freunde natürlich ihrerseits auch von ihr – „manche dieser Freundschaften endeten mit scharfen Worten über das seltsame und riskante Leben, das ich führte.“
Die Autorin lernte auf Stichwort, in kurzen Intervallen und von Lärm umgeben zu schlafen; zwischen Schüssen und anderen lauten Knallgeräuschen zu unterscheiden; wegzurennen und sich zu verstecken, wenn die Polizei kam; die Automodelle, Haarschnitte und Körpersprache von verdeckten Ermittlern zu erkennen.
Aber was die Uni anbetraf, ging es inzwischen für die Autorin rapide abwärts. Sie hatte verschiedene Pflichtkurse nicht belegt, und in ihrem Studienbuch sammelten sich immer mehr schlechte Noten. Auch in der 6th Street spitzten sich die Ereignisse zu. Cops umkreisten die Wohnung, das FBI interessierte sich für Mikes Fall, „und so wurden die Drohungen, dass ich verhaftet werden würde – weil ich polizeilich Gesuchte beherbergt, Verhaftungen verhindert oder Drogen in der Wohnung gelagert hatte – immer realer. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich bald im Gefängnis landen würde, schien genauso groß wie die Möglichkeit, dass ich in eine Graduiertenschule aufgenommen werden würde.“ Nach einigen Wochen, wurde die Autorin in die Graduiertenschule in Princeton aufgenommen.
Zielgruppen
Zielgruppen sind alle Leserinnen, die aus erster Hand etwas über die Schattenseiten der USA erfahren möchten, über die von der Öffentlichkeit und auch von deutschen USA-Touristen kaum wahrgenommen Lebensbedingen in ghettoisierten Großstadtvierteln.
Fazit
Dieses Buch über den Gefängnis-Boom in den USA und die polizeistaatliche Überwachung von Stadtvierteln, in denen überwiegend Einkommensarme und Schwarze wohnen, ist kein Roman und auch keine Dokumentation, sondern eine langjährige sorgfältige ethnografisch-urbane wissenschaftliche Studie. Die Soziologin Alice Goffman erforschte mittels teilnehmender Beobachtung aus nächster Nähe in einem prekären Viertel in Philadelphia, das von einer beispiellosen Inhaftierungsquote junger schwarzer Männer betroffen ist. Das Fazit der Autorin: „Das US-Ghetto kann als ein repressives Regime verstanden werde: eines das innerhalb unserer liberalen Demokratie operiert, jedoch völlig unbekannt ist für viele, die nur ein paar Blocks entfernt leben. In einer Nation, die sich befreit hat von einem rassistischen Klassensystem und die einen schwarzen Präsidenten gewählt und wiedergewählt hat, wird zeitgleich eine große Menge von Justizpersonal auf Kosten des Steuerzahlers beschäftigt, um ein drakonisches Regime gegen Schwarze Männer und Frauen zu errichten, die in ghettoisierten Vierteln unserer Städte leben.“
Rezension von
Prof. Dr. Uwe Helmert
Sozialepidemiologe
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Zitiervorschlag
Uwe Helmert. Rezension vom 28.09.2015 zu:
Alice Goffman: On the run. Die Kriminalisierung der Armen in Amerika. Verlag Antje Kunstmann GmbH
(München) 2015.
ISBN 978-3-95614-045-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19114.php, Datum des Zugriffs 14.09.2024.
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