Günter Pätzold, Holger Reinisch et al.: Ideen- und Sozialgeschichte der beruflichen Bildung
Rezensiert von Dipl.-Hdl. Dr. phil. Klaus Halfpap, 28.07.2015

Günter Pätzold, Holger Reinisch, Manfred Wahle: Ideen- und Sozialgeschichte der beruflichen Bildung. Entwicklungslinien der Berufsbildung von der Ständegesellschaft bis zur Gegenwart. Schneider Verlag Hohengehren (Baltmannsweiler) 2015. 2., überarbeitete und ergänzte Auflage. 163 Seiten. ISBN 978-3-8340-1330-9. D: 16,00 EUR, A: 16,50 EUR, CH: 23,50 sFr.
Thema und Änderungen im Vergleich zur ersten Auflage
Die erste 2009 von Pätzold und Wahle verfasste Auflage dieses Bandes bezog sich vor allem auf die gewerblich-technische Berufsausbildung im Handwerk und in der Industrie. Diese Kapitel wurden für diese 2. Auflage überarbeitet und ergänzt sowie um die Darstellung der kaufmännischen Berufsausbildung erweitert – konstatieren die Autoren in ihrem Vorwort im Herbst 2014. Somit gibt diese Neuauflage jetzt einen vollständigen Überblick über wichtige Entwicklungslinien und Bedingungsfelder der beruflichen Bildung in den letzten 800 Jahren – „notgedrungen“ mit Verkürzungen und auch Auslassungen (wird ausdrücklich festgestellt). Die Komplexität des Themas und jeweils vielfältige vor allem gesellschaftspolitische Einflussfaktoren werden transparent gemacht.
Autoren
Prof. Dr. Günter Pätzold, Fakultät für Erziehungswissenschaft und Soziologie der Technischen Universität Dortmund, Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft und Berufspädagogik
Prof. Dr. Holger Reinisch, Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Lehrstuhl für Wirtschaftspädagogik
Prof. Dr. Manfred Wahle, Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität Duisburg-Essen, Institut für Berufs- und Weiterbildung
Aufbau
- Einleitung (1 ff.)
- Berufsausbildung in der Ständegesellschaft (7 ff.)
- Berufsausbildung im 18 Jahrhundert (24 ff.)
- Berufsausbildung im 19. Jahrhundert (46 ff.)
- Berufliche Bildung im 20. Jahrhundert und am Beginn des 21. Jahrhunderts (90 ff.)
- Berufspädagogik – Historische Berufsbildungsforschung (129 ff.)
Das Buch wird wie folgt abgeschlossen: Literatur (139 ff.), Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen (158 f.), Namenverzeichnis (160), Sachwortverzeichnis (161 ff.).
Inhalt
In der Einführung wird u. a. ein tabellarischer Überblick über die geschichtliche Entwicklung der Berufsausbildung und des Berufsbildungsrechts vom 13. Jahrhundert bis 2013 gegeben (2 f.) und anschließend mit Akzentuierung der betrieblichen Ausbildung kurz erläutert.
Zur Berufsbildung in der Ständegesellschaft vom 12. bis 17. Jahrhundert wird einführend hervorgehoben, dass der Kaufmann neben dem Bauern und Handwerker nicht zum Stand der Arbeitenden gehörte, weil er nur die Arbeit eines anderen ausbeutet (7). Die Kaufleute bildeten „keinen Stand im eigentlichen Sinne“, waren jedoch beim Wiederaufblühen der Städte als Warenhändler und Geldwechsler das „einzige dynamische Element in der statischen Ständegesellschaft“ (8). Zünfte (und Gilden) hatten eine „enorme Bedeutung für das soziale Leben“ und damit auch in der deutschen Ausbildungsgeschichte, insbesondere der gewerblich-technischen Berufsausbildung, was ausführlich und gut veranschaulicht erläutert wird (9 ff.). Mit der kaufmännischen Berufsausbildung in dieser Zeit wird das Kapitel abgerundet (16 ff.). Ab dem 13. Jahrhundert wurden die Wanderhändler sesshaft. Adlige Herrscher „lockten“ besonders Händler in Städten mit Privilegien zur Ansiedlung an; die immer komplexer werdende Handelstätigkeit vergrößerte das Geschäftsvolumen in den Kontoren und erforderte auch eine veränderte hierarchisch differenzierte Betriebsorganisation. „Für die Lehrlinge bei Großkaufleuten umfasste die Lehre immer mindestens einen mehrmonatigen Aufenthalt in einer ausländischen Niederlassung …“ (19). Weitere interessante Detailinformationen werden gegeben.
Im nächsten Kapitel zur Berufsausbildung im 18 Jahrhundert wird nach einer kurzen Skizzierung des Zeitalters der Aufklärung die gewerblich-technische Berufsausbildung dieser Zeit dargestellt mit den ersten Schritten zu einer staatlich regulierten Berufsausbildung (25 ff.) in enger Verknüpfung von Erziehung und Ausbildung (29) sowie einer Modernisierung im Sinne der „Patriotischen Gesellschaften“ zur Gewerbeförderung durch „tüchtige, fleißige und arbeitsame Bürger“ (35); Erziehung und Bildung gewannen einen hohen Stellenwert. „Im Hinblick auf die kaufmännische Berufsausbildung treten gegenüber den früheren Jahrhunderten kaum Veränderungen ein. Dominant bleibt die kaum geregelte Lehre, die wie vordem durch den mehr oder minder regelmäßigen Besuch einer privaten oder städtischen Schreib-, Rechen- und Buchhaltungsschule vorbereitet oder ergänzt wird“ (41). Allerdings entstand ein stärkeres öffentliches Problembewusstsein für pädagogische Fragen als Hintergrund für die Entstehung des deutschen „Bildungsbürgertums“ - so die Autoren – (44).
Es folgt die Bearbeitung der Berufsausbildung im 19. Jahrhundert, dem Zeitalter der beginnenden Industrialisierung und der Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft (46 ff.). Stichworte sind vor allem Bauernbefreiung, Gewerbefreiheit, Handelsfreiheit und das Recht der Bürger auf Eigentumserwerb (zumindest beginnend in Preußen; hier erhielten die Juden 1812 die gleichen Rechte und Pflichten wie die anderen Staatsbürger (46)). Die Initialzündung für die Industrialisierung war der Eisenbahnbau (47). „Eine einheitliche Perspektive auf das Lehrlingswesen gab es damals nicht“ (49). Der schriftliche Lehrvertrag wurde in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts „zum rechtlichen Fundament der Berufsausbildung“ (51) – auch wenn er „erst in den 1940er Jahren reichseinheitlich als allgemein verbindlich erklärtes Lehrvertragsmuster eingeführt wurde“ (52). Ausführlich erfolgen die Bearbeitung der gewerberechtlichen Regelungen der beruflichen Bildung (53 ff.), die handwerkliche Berufsbildung im Spannungsfeld von Tradition und Moderne (55 ff.) sowie die Beiträge des Vereins für Socialpolitik zur Reform der gewerblich-technischen Berufsbildung (62 ff.) und die industrielle Berufsausbildung mit dem Lernort Lernwerkstatt (66 ff.). Dieses Jahrhundert hat einige gravierende Veränderungen für die kaufmännische Berufsausbildung gebracht (75 ff.), die erst gegen Ende und im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zur Ausprägung gelangten. Sie werden ausführlich mit z. B. den ersten Differenzierungen der kaufmännischen Tätigkeit in einzelnen Branchen erläutert; die betriebliche Lehre blieb dominant. Die Kritik an der kaufmännischen Lehre wuchs zunehmend, weil die Betriebe einen schulischen Teil wenig akzeptierten, so dass „die Bedeutung dieser Schulen, die später als Höhere Handelsschulen firmierten, als Sozialisationsinstanz des kaufmännischen Nachwuchs äußerst begrenzt blieb“ (83), obwohl in Gotha bereits „1818 und in Leipzig 1831 eine Schule für Kaufmännische Lehrlinge gegründet und von den Innungen betrieben“ wurden (84). Bis 1898 war die Höhere Handelsschule das „Flagschiff“ des kaufmännischen Bildungswesens für Schüler mit mittlerem Bildungsabschluss, wenn auch nur in wenigen Städten. In Leipzig wurde nun eine Handelshochschule gegründet, „die auch für Kaufleute eine akademische Vorbildung eröffnen sollte“ (88); dies wird problematisiert.
Das 5. Kapitel (Titel s. o.) widmet sich der Entwicklung der beruflichen Bildung in der Neuzeit (20./21. Jahrhundert), die zu Beginn dieser Epoche „ein stark umkämpftes ausbildungs-, jugend- und sozialpolitisches Experimentierfeld war“ (90). Vor allem bemühte sich die Industrie, ihren Nachwuchs selbst auszubilden „und sich von der handwerklichen Lehrlingsausbildung weitgehend unabhängig zu machen“ (a.a.O.); wesentlich unterstützt wurde sie dabei vom Deutschen Ausschuss für Technisches Schulwesen – DATSCH – (91 ff.). Beim folgenden „Exkurs: Zur Entwicklung der Berufsschule“ (95 ff.) wird hervorgehoben, dass es erst seit 1938 durch das Reichsschulpflichtgesetz eine reichseinheitliche Berufsschulpflicht gibt; die Berufsschule „geriet in der NS-Zeit in nahezu totale curriculare Abhängigkeit von der ‚Wirtschaft‘“ (97). Ab 1937 wurde es üblich, von berufsbildenden Schulen zu sprechen, deren Schulaufsicht im Reichserziehungsministerium zusammengeführt wurde (98). Im Sinne jüdischer Selbsthilfe entwickelte sich (z. B.) die 1893 gegründete „Israelitische Erziehungsanstalt zu Ahlen bei Hannover“ bis 1942 „zu einer der bedeutendsten jüdischen Bildungseinrichtungen im Bereich Gartenbau und Landwirtschaft“ (103). Bis 1960 „blieb die Gewerbelehrerausbildung sowohl von der Handelslehrerausbildung als auch von der Gymnasiallehrerausbildung getrennt“ (106). Mit dem ersten Berufsbildungsgesetz von 1969 begann eine entscheidende Reform des dualen Systems (106 ff.). Es folgte auch ein Ausbau beruflicher Vollzeitschulen – wie Berufsfachschulen, Fachoberschulen, berufliche Gymnasien –, die allein der Verantwortung des Staates unterstanden und damit „dem ausbildungspolitischen Einfluss von Unternehmern und Gewerkschaften entzogen waren“ (110). Nach einer (zu) kurzen Darstellung der Entwicklung des Berufsbildungssystems in der DDR (113 f.) sowie der Lage der beruflichen Bildung nach der Wiedervereinigung (114 – 116) wird im Vergleich dazu das „Klische der mangelnden Ausbildungsreife“ (116 – 125) relativ umfangreich bearbeitet, was das gezogene Fazit (124 f.) bestätigt. Ebenfalls sehr kurz wird die Ausbildung im so genannten Übergangssystem behandelt (126 ff.).
Im letzten kurzen Kapitel „Berufspädagogik – Historische Berufsbildungsforschung“ wird darüber reflektiert, dass berufliche Bildung „nicht losgelöst von Geschichte, sondern vielmehr fest in ihr verwurzelt (ist)“ (129 ff). Ihre Tradition reicht „bis in das späte 19. Jahrhundert zurück“ (a.a.O.). Zunehmend gerät „auch die weibliche Jugend als Adressat beruflicher Bildung in den Blick“ (134). Trotzdem ist der aktuelle Stand „relativ unbefriedigend“ (136).
Diskussion
- Sind die jeweils hervorgehobenen historischen Bezüge in den letzten Jahrhunderten ausreichend zum Verständnis der Entwicklungslinien der Berufsbildung, da der Haupttitel des Buches lautet: eine „Ideen- und Sozialgeschichte der beruflichen Bildung“?
- Die oben erwähnte 1818 gegründete Schule in Gotha war „eine der Wurzeln der heutigen kaufmännischen Schulen in Teilzeitform“ mit 12/13 Wochenstunden Schulunterricht während der betrieblichen Arbeitszeit (84). Dieser duale Weg zur beruflichen Bildung war der „männlichen Jugendlichen vorbehalten“ bis weit ins 20. Jahrhundert (86). Weibliche Jugendliche konnten den Weg über die Lehre nur im Einzelhandel zur Verkäuferin wählen – oder die Höhere Handelsschule besuchen. Wie beurteilen Sie die Entwicklung zu dem heutigen vielfältigen Schulsystem mit der zunehmenden Berufsorientierung und -vorbereitung auch z. B. durch die in Schulen gegründeten Betriebe mit Lernbüros und anderen Praxisphasen zur Förderung männlicher und weiblicher Jugendlicher (auch in so genannten allgemeinbildenden Schulen)? (Dies könnte übrigens auch ein Thema für eine Schüler(innen)arbeit sein!)
- Wie lassen sich Aspekte/Phasen der Geschichte der Berufserziehung in den Fachunterricht berufsbildender Schulen der Voll- und Teilzeitschulen praktisch integrieren?
Fazit
Dieser Text für Studierende der Berufs- und Wirtschaftspädagogik sowie auch für bereits praxiserfahrene Lehrende an berufsbildenden Schulen und Institutionen der beruflichen Fort- und Weiterbildung arbeitet Entwicklungslinien in der Geschichte der beruflichen Bildung heraus. Eine empfehlenswerte interessante Lektüre, die für jeden Lesenden auch neue Er-Kenntnisse eröffnet und einen konzentrierten Überblick über diesen komplexen Entwicklungsprozess im jeweiligen historischen Kontext gibt. Besonders interessant und zukunftsbedeutsam ist, dass zum Schluss des Buches nicht nur die historische Berufsbildungsforschung seit Ende des 19. Jahrhunderts und besonders seit den 1970er Jahren inhaltlich vorgestellt, sondern auch wichtiger zukünftiger Forschungsbedarf herausgearbeitet wird. Das Buch ist verständlich verfasst, sehr gut strukturiert sowie anschaulich – auch durch zahlreiche Abbildungen – gestaltet.
Rezension von
Dipl.-Hdl. Dr. phil. Klaus Halfpap
Ltd. Regierungsschuldirektor a. D.
Es gibt 51 Rezensionen von Klaus Halfpap.