Roland Stein, Thomas Müller (Hrsg.): Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung
Rezensiert von Prof. Dr. Manfred Jödecke, 27.05.2016
Roland Stein, Thomas Müller (Hrsg.): Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2015. 237 Seiten. ISBN 978-3-17-024337-8. 29,99 EUR.
Thema
Kontrolle ist gut. Ist Vertrauen besser?
Was tun mit Kindern und Jugendlichen, die (in der Schule) stören; und das in einer Zeit, in der mit der Behindertenrechtskonvention zur „uneingeschränkten Teilhabe von Menschen mit Behinderung am gesellschaftlichen Leben“ (S. 11) herausgefordert wird? Da kann der „Umgang mit Verhaltensstörungen“ zu einer „Nagelprobe der Inklusion“ werden, weil gerade Verhaltensstörungen Lehrkräfte, Eltern, Nachbarn, Freunde bis zum Berufsbildungs- und Arbeitsumfeld vor vielfältige Probleme stellen. Nun könnte es aber auch sein, dass widerständiges, (ver-)störendes, auffälliges, deviantes, herausforderndes oder originelles Verhalten Ausdruck von Verwerfungen (gegenwärtiger und vergangener) sozialer und gesellschaftlicher Verhältnisse ist und Auskunft gibt über die Verfasstheit der Gesellschaft als „Erzieher“. Mehr noch: Das von den Kindern und Jugendlichen gezeigte Verhalten könnte sinnhaft-dynamisch-systemisch signifizieren, dass in den Beziehungen und Interaktionen etwas nicht stimmt, etwas schief gelaufen ist; (allgemeinmenschliche) Lebens- und Entwicklungsbedürfnisse vom „gesellschaftlichen Menschen“ nicht wahrgenommen wurden und/ oder die Kinder und Jugendlichen bei deren Erfüllung nur unzureichend unterstützt wurden.
Das vorliegende Buch beschreibt daher in differenzierter Weise die vor allem schulische Situation im Förderschwerpunkt emotionaler und sozialer Entwicklung und sucht nach wissenschaftlicher Erklärung und inklusionsfördernder Abhilfe. Folgende Argumentationen erscheinen dem Leser als besonders hervorhebenswert.
Aufbau und Inhalt
Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung – zur Einleitung (Roland Stein / Thomas Müller)
Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung baue auf einem interaktionistischen Verständnis von Verhaltensstörungen auf. Auffälligkeiten im Erleben und Verhalten von Kindern und Jugendlichen seien daher als Signale für dahinterstehende Störungen in der Interaktion von Mensch und Umwelt aufzufassen. Ein derartiges interaktionistisches Verständnis, das „verschiedenste belastende, aber auch provozierende Bedingungen und Kontexte“ (S. 13) in den Blick nimmt, eröffne auch Möglichkeiten einer präventiven Sicht und Arbeit im Hinblick auf diese Störungen.
Verhaltensstörungen und emotional-soziale Entwicklung: zum Gegenstand (Roland Stein / Thomas Müller)
Der Gegenstand oder Gegenstandsbereich einer Disziplin (Pädagogik mit dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung) dürfe mit ihren Begrifflichkeiten, Kriterien und Normen, Einteilungen, Klassifikationen und epidemiologischen Befunden nicht zur „Depersonalisierung“ verhaltensauffälliger Kinder und Jugendlicher führen. Mit Verweis auf Laing sollte die Disziplin im anthropologischen Sinne fähig sein (und bleiben) „den individuellen Menschen sowohl zu denken als auch zu erfahren, nicht als eine Ding oder ein Objekt, sondern als Person“ (S. 35). Mit Ahrbeck (vgl. S. 36) werde deutlich, dass das, was verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche anderen mitteilen möchten, nicht ankomme. Ihre Botschaften liefen ins Leere, u.a. deshalb, weil ihre inneren Notwendigkeiten keine andere Lösung zuließen. Sie bleiben unverstanden, weil sie sich selbst nicht verstünden, in sich selbst verfangen seien und andere gleichermaßen verstrickten. Gerade durch Kinder und Jugendliche mit Verhaltensweisen, die auf massive Weise „Belastungen und Bedrohungen hervorrufen“ und damit den „tolerierbaren Rahmen überschreiten“ (S. 38) führen das Fach hinsichtlich Verständigung und Verständnis an seine Grenzen.
Zur geschichtlichen Entwicklung der schulischen Erziehungshilfe (Marc Willmann)
Die Geschichte der schulischen Erziehungshilfe zeige, dass die Normalitätsvorstellungen der Gesellschaft einem ständigen Wandel unterlägen und von der „Dämonologisierung und Moralisierung in der Frühzeit und im Mittelalter bis zur Biologisierung und Pathologisierung in der Neuzeit“ (S. 47) reichen. Dem sich wandelnden Verständnis von emotional- sozialem Förderbedarf, Verhaltensstörungen und seelischen Behinderungen entsprächen auch die Formen des institutionellen schulischen Umgangs (Sonderunterricht an separaten Lernorten und integrative Förderung in der Regelschule), wobei aus inklusiver Sicht insbesondere die Vernetzung der Fördersysteme schulischer und außerschulischer Erziehungshilfe mit den Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe und psychiatrischen sowie psychotherapeutischen Diensten zielführend wäre.
Zwischen Separation und Inklusion: zum Forschungsstand im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung (Roland Stein / Stephan Ellinger)
Der nationale und internationale Forschungsstand im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung ließe sich meta-analytisch auf acht Aspekte oder Parameter hin vergleichen und
verdichtend diskutieren: Sozialverhalten, Emotionalität, Selbstkonzept, Leistung, Leistungs- Motivation, Soziale Akzeptanz/Integration, Gruppenklima, Einfluss auf andere Schüler. Dabei stelle sich heraus, dass die Befundlage der für gelingende Inklusion relevanten Aspekte uneindeutig sei. So würde etwa ein Voranbringen schulischer Leistung die Leistungsmotivation steigern und darüber dann auch positive integrative Effekte nach sich ziehen, andererseits verlange eine intensivere, mit erhöhter Lehreraufmerksamkeit verbundene individuelle Förderung auch eine gewisse Sonderbehandlung, die zur weiteren Leistungsdifferenzierung in der Lerngruppe führen könne (vgl. S.99 f.).
Organisationsformen inklusiver Förderung im Bereich emotional- sozialer Entwicklung (Thomas Hennemann / Heinrich Ricking / Christian Huber)
Bildungspolitisch- institutionelle Rahmenbedingungen für den Aufbau inklusiver Strukturen im Bereich emotional- sozialer Entwicklung seien nicht erst dann zu entwickeln, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist (wait-to-fail-problem), sondern, wie internationale (Kanada, Finnland) Erfahrungen, aber auch nationale Organisationsformen zeigen, vorausschauend, präventiv, vernetzt und vor allem gestuft. Dabei sei insbesondere die „prioritäre Förderung in dem am wenigsten einschränkenden, d.h., dem gewohnten, Umfeld“ (vgl. S. 125f.) erfolgversprechend. Die finnische Erfahrung zeige, was mit der Auflösung des Etikettierungs- Ressourcen- Dilemmas erreicht werden könne: „Sonderpädagogische Ressourcen müssen in Finnland nicht durch einen Etikettierungsprozess und sonderpädagogische Statusdiagnosen beantragt werden, sondern stehen an den allgemeinen Schulen allen Schülern, Eltern und Lehrkräften zur Verfügung. Demzufolge hat sich die Zielgruppe sonderpädagogischer Unterstützung von einer Teilgruppe der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf auf die Gruppe aller Kinder erweitert“ (S. 131).
Beziehung statt Erziehung? Psychoanalytische Perspektiven auf pädagogische Herausforderungen in der Praxis mit emotional- sozial belasteten Heranwachsenden (Birgit Herz / David Zimmermann)
Drei Aspekte aus einer Vielzahl vorkommender Beziehungserfahrungen schwer belasteter Kinder und Jugendlicher in gestörten familiären Bezügen seien hervorzuheben und diagnostisch fallbezogen für die Erziehungsarbeit zu berücksichtigen: gestörte familiäre Interaktionsmodi, Gewalt und sexualisierte Gewalt sowie Trennungen und Verluste. Die gestörten Beziehungs- und Erziehungserfahrungen würden dann auch in schulischen Kontexten immer wieder re-inszeniert. Sie seien der Versuch der Kinder und Jugendlichen, „das verbal Unaussprechliche durch Verhalten zum Ausdruck zu bringen“. Die Re- Inszenierung sei stets als „Anfrage an die aktuelle professionelle Beziehung zu verstehen“ und bilde eine „Klammer aus Vergangenem und Aktuellem“. Mitunter falle es den Lehrkräften schwer, „ein extrem unterrichtsstörendes Verhalten als „Überlebensstrategie“ und als Ergebnis der bisherigen Lebensumwelt eines Kindes oder Jugendlichen zu verstehen“ (S. 156). Das von diesen gezeigte Verhalten sei eben kein un- oder wenig angepasstes Verhalten, sondern im Sinne eines emotionalen Überlebenserfordernisses überaus angepasst. Verhaltensregulatorische Maßnahmen hätten bei diesen Konfliktlagen daher bestenfalls begrenzte Kraft. Wenn die Erziehungsarbeit in der aktuellen Beziehung ihren Bezugspunkt habe, der Erzieher in dieser wirklich anwesend und sich seiner möglichen Verstickungen reflexiv bewusst sei, könne daraus ein fördernder Dialog erwachsen, mit der gar die Möglichkeit einer „Wiedergutmachung“ (vgl. S. 160f.) verbunden sei. Die inklusive Förderung erfordere zuallererst die „Gewährleistung von Kontinuität, Sicherheit und Überschaubarkeit“ (S. 162) und zwar für Schüler und Lehrkräfte.
Evidenzbasierte Praxis im Förderschwerpunkt emotional- soziale Entwicklung (Clemens Hillenbrand)
Unter „evident“ würde im Deutschen in erster Linie „offenkundig und klar ersichtlich“ verstanden. Die im englischsprachlichen verankerte Bedeutung weise dagegen auf „operationalisierte, replizierbare Handlungsformen“ hin „die einer kritischen Prüfung durch wissenschaftliche Forschung unterzogen wurden und daher belegbare, nachgewiesene Fakten ihrer positiven Wirksamkeit vorlegen können“ (S. 174).
Der Auftrag (ggf. inklusionsfördernder) Forschung im Bereich emotionaler und sozialer Entwicklung, analog den Erfahrungen im medizinischen und psychotherapeutischen Kontext, sei es daher, nach aussagekräftigen Kriterien evidenzbasierter Praxis, nach passenden Verfahren, die diesen Kriterien entspricht und nach einer wissenschaftlich überprüfbaren Rahmung für diese Praxis (vorgeschlagen wird das praktische Rahmenkonzept des Responsiven Handlungsmodells) zu fahnden (vgl. S. 177f.).
Ein besonders herausforderndes Unterfangen ist es dabei offensichtlich, wirklich evidenzbasierte Verfahren zu identifizieren und zu implementieren. Als aussichtsreich zeigt sich hier ein mehrstufiges meta-analytisches Vorgehen bei der Informationsgewinnung, beim dem zunächst das Problem identifiziert werden müsse, Handlungsoptionen zu bestimmen und Zielgruppen zu bedenken seien. Darauf folgend sei der Rahmen der Entscheidung zu beachten, die Qualität der Forschung zu reflektieren und das Ausmaß des Effekts einer Intervention zu bedenken, sodass dann im Ergebnis eine Liste evidenzbasierter Verfahren erstellt und ggf. implementiert werden kann. Metaanalysen könnten sich so als wirksam für zwei grundlegende Ansätze (schulbasierter) Unterstützung der emotionalen und sozialen Entwicklung erweisen: der Förderung emotionaler und sozialer Kompetenzen der Kinder und Jugendlichen mittels gezielter Förderprogramme und eines gelungenen Classroom Management als Moment positiver Lernumgebung (vgl. S. 208f.).
Bei näherem Hinsehen wird auch dem kritischen Leser klar: Evidenzbasierung muss sich nicht in Technologie und deren „bewusstlosen“ Anwendung erschöpfen, sondern kann, verantwortlich betrieben, erfolgreiche Erziehungspraxis verallgemeinern und zum Gebrauch „aufarbeiten“.
Erziehung im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung (Thomas Müller / Roland Stein)
Erziehung sei Kernaufgabe auch und vor allem im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung und vollziehe sich prozesshaft und dialogisch. Sie müsse an den Grundbedürfnissen der Kinder nach Freiheit und Verbundenheit anknüpfen und dazu beitragen, dass diese erfüllt werden können (vgl. S. 218f.). Nicht die pädagogische Absicht zählt, sondern die zwischenmenschliche Begegnung. Damit diese stattfinden und gelingen kann, sind Machverhältnisse als „dritter Faktor“ (insbesondere in geschlossenen Erziehungssituationen) zu reflektieren. Nur so wird es überhaupt möglich, Disziplinierung und Kontrolle vertrauensbildend zu transzendieren. Der/die Erzieher/in wäre dabei im eigenen Interesse gut beraten, die Möglichkeit von Ohnmacht und Scheitern nicht zu verdrängen oder zu verleugnen. Die Annahme der eigenen Begrenztheit in Sachen Erziehung unter erschwerten Bedingungen könnte sie vor Überforderung und Ausbrennen bewahren. Trotzdem stellt sich ihr/ihm sicher immer wieder die Frage, ob Sanktionen und Zwang und in der Erziehung wirklich sein müssen.
Schulische Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung – quo vadis? (Thomas Müller / Roland Stein)
Sicher ist die Aufrechterhaltung des status quo nicht das non plus ultra schulischer Inklusion (auch) im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung. Dekategorisierung, das Verschwinden etikettierender Bezeichnungen und stigmatisierender Begriffe kann nur das Ergebnis einer Pädagogik sein, die sich selbst überschreitet, die allgemeinmenschliche Dimension von (Persönlichkeits-) Entwicklung tiefgründig versteht und achtsam im pädagogischen Alltag lebt (vgl. etwa S. 234).
Zielgruppen
Studierende und Lehrende pädagogischer Fachrichtungen, der Psychologie und Sozialwissenschaften, an Reflexion Interessierte helfender Berufe
Fazit
Eine kohärente kritisch- konstruktive Auseinandersetzung mit Inklusion als Leitbild im komplexen Förderschwerpunkt emotionaler und sozialer Entwicklung.
Literatur
Störmer, Norbert (2013): Du störst! Herausfordernde Verhaltensweisen und ihre Interpretation als „Verhaltensstörung“. Frank & Timme, Berlin.
Rezension von
Prof. Dr. Manfred Jödecke
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Zitiervorschlag
Manfred Jödecke. Rezension vom 27.05.2016 zu:
Roland Stein, Thomas Müller (Hrsg.): Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung. Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2015.
ISBN 978-3-17-024337-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19128.php, Datum des Zugriffs 12.12.2024.
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