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Gerhard Stemmler, Jutta Margraf-Stiksrud (Hrsg.): Lehrbuch psychologische Diagnostik

Rezensiert von Dr. Anne-Kathrin Mayer, 25.09.2015

Cover Gerhard Stemmler, Jutta Margraf-Stiksrud (Hrsg.): Lehrbuch psychologische Diagnostik ISBN 978-3-456-85518-9

Gerhard Stemmler, Jutta Margraf-Stiksrud (Hrsg.): Lehrbuch psychologische Diagnostik. Verlag Hans Huber (Bern, Göttingen, Toronto, Seattle) 2015. 384 Seiten. ISBN 978-3-456-85518-9. D: 59,95 EUR, A: 61,70 EUR, CH: 79,00 sFr.

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Thema

Diagnostische Kompetenzen, verstanden als Wissen über und Fertigkeiten im Bereich der gezielten und regelgeleiteten Sammlung und Verarbeitung von Informationen über Personen, sind in nahezu allen Anwendungsfeldern des Fachs Psychologie relevant. Das Lehrbuch Psychologische Diagnostik beansprucht, entsprechende Kompetenzen nach einem einheitlichen curricularen Konzept zu vermitteln. Die HerausgeberInnen verstehen den Band als Grundlagentext und zugleich als Übungsbuch. Die Zielgruppe umfasst Dozierende im Fach Psychologische Diagnostik, die den Band zur Gestaltung ihrer Lehrveranstaltungen nutzen sollen, sowie ihre Studierenden im Bachelor- und Master-Studiengang Psychologie.

Herausgeber und Herausgeberin

Die beiden HerausgeberInnen Gerhard Stemmler und Jutta Margraf-Stiksrud lehren und forschen an der Philipps-Universität Marburg im Bereich der psychologischen Diagnostik. Auch die acht weiteren beteiligten AutorInnen sind oder waren als Lehrende oder Studierende an der Universität Marburg tätig und befassen sich in ihrer Arbeit mit Grundlagen- und Anwendungsfragen der psychologischen Diagnostik, Testkonstruktion und Messtheorie.

Entstehungshintergrund

Das curriculare Konzept, das dem Band zu Grunde liegt, wurde laut Vorwort der HerausgeberInnen innerhalb der Arbeitsgruppe Persönlichkeit und Diagnostik im Fachbereich Psychologie der Philipps-Universität Marburg entwickelt, eingesetzt und – unter anderem unter Rückgriff auf studentische Evaluationen – optimiert.

Aufbau und Inhalt

In den fünf Kapiteln des Bandes werden „Verhaltensbeobachtung“, „Diagnostische Interviews“, „Testkonstruktion“, „Testverfahren“ und „Erstellung psychologischer Gutachten“ als zentrale Lehrgebiete der psychologischen Diagnostik behandelt. Jedes Kapitel wird durch eine stichwortartige Übersicht seiner Lernziele eingeleitet, gefolgt von einer Auflistung seiner Unterkapitel („Unterrichtseinheiten“). Innerhalb der Kapitel werden wichtige Textelemente (z.B. Begriffserläuterungen, Handlungsanweisungen, Berechnungsvorschriften) in Kästen grafisch hervorgehoben. Tabellen und Abbildungen ergänzen den Text. Zahlreiche Übungen, die in Kleingruppen oder im Plenum einer Lehrveranstaltung bearbeitet werden sollen, dienen der Vertiefung und Anwendung der dargestellten Inhalte.

Kapitel 1 (Verhaltensbeobachtung) von Gerhard Stemmler und Jutta Margraf-Stiksrud führt ein in die systematische Gewinnung und Nutzung von Beobachtungsdaten. Ausgehend von einem Überblick der Schritte im Beobachtungsprozess wird erläutert, wie Beobachtungspläne erstellt, Beobachtungs- und Beurteilungsregeln entwickelt und Ergebnisse von Beobachtungen fachgerecht protokolliert werden. Weitere Kapitel vermitteln angemessene Vorgehensweisen bei der Auswertung von Beobachtungsdaten, machen auf mögliche Beobachtungsfehler und Techniken zu ihrer Vermeidung aufmerksam und erläutern Möglichkeiten zur statistischen Ermittlung der Beobachterübereinstimmung und damit der Qualität der gewonnenen Daten.

In Kapitel 2 (Diagnostische Interviews) veranschaulichen Stefan Krumm, Nikola M. Stenzel und Cornelia A. Pauls die Einsatzmöglichkeiten von Interviews als Methode der Datengewinnung. Nach einer allgemeinen Einführung werden zunächst existierende strukturierte und teilstrukturierte Interviews aus den Anwendungsfeldern Klinische Diagnostik und Eignungsdiagnostik vorgestellt, um anschließend grundlegende und vertiefende Techniken der psychologischen Gesprächsführung unter Verwendung zahlreicher Beispiele zu erläutern. Weitere Unterkapitel vermitteln die Vorgehensweise bei der Konstruktion eigener Interviewleitfäden und geben differenzierte Hinweise zur quantitativen und qualitativen Auswertung und Interpretation von Daten, die im Rahmen von Interviews erhoben wurden.

Kapitel 3 (Testkonstruktion) von Christoph J. Kemper, Matthias Ziegler, Stefan Krumm, Moritz Heene und Markus Bühner führt zunächst die Haupt- und Nebengütekriterien psychologischer Testverfahren auf und benennt Möglichkeiten ihrer Sicherung. Dem Prozess der Testkonstruktion sind die weiteren Unterkapitel gewidmet. Im Anschluss an eine Übersicht werden die einzelnen Konstruktionsschritte von der Konstruktdefinition über die Entwicklung und empirische Erprobung eines Testentwurfs sowie seine Revision und Validierung bis hin zur Normierung der Testendform differenziert beschrieben.

Kapitel 4 (Testverfahren) stellt verschiedene Möglichkeiten der Klassifikation psychologischer Testverfahren vor, rekapituliert die Testgütekriterien (siehe Kapitel 3) und schlägt eine Gliederung für schriftliche Kurzgutachten über Testergebnisse vor. Acht weitere Unterkapitel des von Jutta Margraf-Stiksrud und Gerhard Stemmler verfassten Kapitels widmen sich verschiedenen Kategorien von Leistungstests, Persönlichkeitstests, Verfahren zur Erfassung klinischer Auffälligkeiten und den so genannten Projektiven Verfahren. Es finden sich jeweils sowohl Übersichten gebräuchlicher Verfahren aus der jeweiligen Kategorie (z.B. Intelligenztests für Erwachsene bzw. Kinder, Konzentrationstests, mehrdimensionale Persönlichkeitsfragebögen) als auch ausführliche Beschreibungen und Bewertungen ausgewählter Instrumente sowie Beispiele für schriftliche Untersuchungsberichte. Diese testspezifischen Informationen sind verwoben mit weiteren Lerninhalten, z.B. Hinweisen zur angemessenen Vorgehensweise beim Sich-Vertrautmachen mit einem Testverfahren und der Beurteilung von Tests sowie zur Berechnung von Konfidenzintervallen und Kritischen Differenzen im Kontext der Testinterpretation.

Das von Jutta Margraf-Stiksrud und Lothar Schmidt-Atzert verfasste abschließende Kapitel 5 (Das psychologische Gutachten) zeigt auf, wie Informationen aus verschiedenen Datenquellen im Zuge einer systematisch geplanten psychologischen Begutachtung gewonnen, zur Antwort auf eine Ausgangsfrage integriert und in angemessener Form schriftlich aufbereitet werden. Ausgehend von einleitenden Erläuterungen zur Definition und rechtlichen und ethischen Rahmenbedingungen der Begutachtung wird ein Schema zur Gliederung schriftlicher Gutachten entwickelt. Die inhaltliche und formale Gestaltung der einzelnen Gliederungsabschnitte wird erläutert und anhand von Fallbeispielen und Textausschnitten illustriert.

Diskussion

Die Struktur des Bandes erscheint verglichen mit der anderer Lehrbücher zur Psychologischen Diagnostik eher unkonventionell: Wird üblicherweise ein allgemeines Einführungskapitel gefolgt von einer Darstellung einzelner Methoden und ihren methodisch-statistischen Konstruktionsgrundlagen, orientiert der Band von Stemmler und Margraf-Stiksrud sich am curricularen Aufbau des Psychologie-Studiengangs: Seine Kapitel entsprechen den Themengebieten, die an den meisten Universitäten im deutschsprachigen Raum als separate Lehrveranstaltungen für Bachelor- bzw. (im Fall der Begutachtung) meist erst im Master-Studiengang angeboten werden. Diese curriculare Orientierung weist Vorteile auf. So kann sie die Konzeptualisierung eigener Lehrveranstaltungen in den jeweiligen Themengebieten erleichtern und erlaubt es, sich dabei am „roten Faden“ der einzelnen Kapitel zu orientieren. Die Kapitelinhalte fallen für ein Grundlagenlehrbuch recht differenziert und tiefgehend aus. Wohltuend ist, dass diese für LeserInnen durchaus „fordernde“ Informationsfülle durch zahlreiche Beispiele veranschaulicht und durch Übungen aufgelockert wird, die zur aktiven Auseinandersetzung mit dem dargebotenen Stoff bzw. zu seiner Anwendung anregen. Zudem merkt dem Band von der ersten bis zur letzten Seite an, dass er von Personen verfasst wurde, die hohe Expertise im Bereich der psychologischen Diagnostik wie auch der Lehre in diesem Bereich besitzen.

Allerdings ist auch auf einige Nachteile der Konzeption und auf Optimierungspotenziale des Bandes zu verweisen. So erscheint der Verzicht auf ein Einleitungskapitel diskussionswürdig, wenn mit dem Band auch Studierende ohne einschlägiges Vorwissen an das Themengebiet herangeführt werden sollen. Für sie fehlt ein Advanced Organizer, der beispielsweise eine Übersicht zu Aufgaben und Methoden der Diagnostik und eine Darstellung des diagnostischen Prozesses liefert, in dessen Verlauf verschiedene Methoden zur Anwendung kommen und aus dem letztlich ein psychologisches Gutachten hervorgehen kann.

In Verbindung hiermit erschließt sich auch die Abstimmung der Kapitel (und der korrespondierenden Veranstaltungen) aufeinander den LeserInnen nicht von selbst. Manche Inhalte (z.B. Testgütekriterien, Vorgehen bei der „Einarbeitung“ in bislang unvertraute diagnostische Verfahren) sind beispielsweise bereits für das Verständnis der ersten zwei Kapitel relevant, werden aber erst in späteren Kapiteln erläutert. In Kapitel 4 tauchen Hinweise zur Gestaltung schriftlicher Untersuchungsberichte auf, die man eigentlich in Kapitel 5 erwartet hätte und die dort teilweise rekapituliert werden. Nun kann ein gewisses Maß an Redundanz in der Lehre wichtig und wünschenswert sein, zumal dann, wenn die Veranstaltungen innerhalb des Curriculums von unterschiedlichen Dozierenden verantwortet werden und daher nicht perfekt aufeinander abgestimmt sein können. Innerhalb eines Buches könnte jedoch an einigen Stellen eine Umordnung bzw. bessere Koordination der Inhalte das Verständnis des Stoffes besser unterstützen.

Schließlich fällt mit Blick auf den Einsatz in der Lehre auf, dass die Übungen teilweise hoch komplex und zeitaufwändig in ihrer Umsetzung scheinen (z.B. in Kapitel 3, wo die Teilnehmenden aufgefordert werden, einen eigenen Test zu konstruieren). Hier hätte man sich als Lehrende/r mehr didaktische Hilfen und / oder Angaben zu den Erfahrungen mit einzelnen Übungen (z.B. zum Zeitbedarf, zu charakteristischen Problemen bei der Durchführung und zum erforderlichen Betreuungsaufwand) gewünscht, um die Realisierungsmöglichkeiten besser abschätzen zu können.

Fazit

Das „Lehrbuch Psychologische Diagnostik“ orientiert sich am Curriculum deutschsprachiger Psychologie-Bachelor-Studiengänge und deckt zentrale Inhalte von fünf nahezu überall angebotenen Diagnostik-Lehrveranstaltungen ab. Es eignet sich für Personen, die bereits einen allgemeinen Überblick der Aufgaben, Ziele und Methoden psychologischer Diagnostik gewonnen haben und sich nun mit einzelnen Methoden und deren Konstruktion intensiver beschäftigen wollen.

Rezension von
Dr. Anne-Kathrin Mayer
Leibniz-Zentrum für Psychologische Information und Dokumentation (ZPID), Trier
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Es gibt 23 Rezensionen von Anne-Kathrin Mayer.

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Zitiervorschlag
Anne-Kathrin Mayer. Rezension vom 25.09.2015 zu: Gerhard Stemmler, Jutta Margraf-Stiksrud (Hrsg.): Lehrbuch psychologische Diagnostik. Verlag Hans Huber (Bern, Göttingen, Toronto, Seattle) 2015. ISBN 978-3-456-85518-9. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19140.php, Datum des Zugriffs 18.01.2025.


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