Lewis A. Coser: Gierige Institutionen
Rezensiert von Prof. Dr. Richard Utz, 04.08.2015

Lewis A. Coser: Gierige Institutionen. Soziologische Studien über totales Engagement. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2015. 230 Seiten. ISBN 978-3-518-29719-3. D: 16,00 EUR, A: 16,50 EUR, CH: 23,50 sFr.
Thema
In einer Diskussion behauptete neulich ein frisch berufener und entsprechend forscher C3-Professor, dass sich der Grad der Verwissenschaftlichung einer Disziplin an der Unverständlichkeit ihrer Ergebnisse für die Öffentlichkeit ablesen lasse. Je weniger diese mit jenen etwas anfangen könne, desto höher sei ihre Wissenschaftlichkeit, und je mehr Resonanz jene bei dieser erführen, desto geringer sei sie zu veranschlagen.
Na ja – ein Blick in die letzten Jahrgänge der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie scheint diese Einschätzung zu bestätigen, in der „Abhandlungen“ mit Titeln erscheinen wie „Berufliche Umzugsentscheidungen in Partnerschaften. Eine experimentelle Prüfung von Verhandlungstheorie, Frame-Selektion und Low-Cost-These“ oder „Ist der Anstieg der westdeutschen Einkommensungleichheit auf die Zunahme bildungshomogener Partnerschaften zurückführbar? Eine Dekompositionsanalyse auf Basis des SOEP“ und so weiter und so brav und so fort.
Sind solche „Abhandlungen“ oder genauer: ihre Ergebnisse fürs größere Publikum interessant? Ein launiger Kommentator meinte vor einiger Zeit in der FAZ, dass solche Forschungen doch nur das ans Licht brächten, was jeder Zeitgenosse mit einem funktionierenden Common Sense nach kurzem Überlegen ohnehin schon immer gewusst hatte, nur dass dies aus seinem Munde leichter zu verstehen sei als aus der vom Jargon verfremdeten Rede der Soziologen. Das ist bekanntermaßen der alte Vorwurf an die Soziologie, dass sie einfache Sachverhalte unnötig kompliziere, anstatt komplizierte verständlich darzustellen.
Dieser Vorwurf hängt mit dem Gegenstand der Soziologie zusammen, dem menschlichen Zusammenleben im weitesten Sinne, der in seinen unendlichen Spielarten immer auch der Gegenstand der Alltagsreflexion ist. Das hat zur Folge, dass der Common Sense immer schon „weiß“ und zu wissen meint, was zum Beispiel „Klatsch“ ist, nämlich eine moralisch zweifelhafte oder verwerfliche Kommunikation hinter dem Rücken der Verklatschten. Eine selbstbewusste Soziologie hätte darauf zu erwidern, dass ihre sprachliche Verfremdung von für selbstverständlich gehaltenen Sachverhalten gerade die Erkenntnis erschlösse, die dem Common Sense in seiner blasierten Selbstgenügsamkeit verschlossen bleibe. So kann die soziologische Reflexion, die dieses Prädikat verdient, die Komplexität des Gegenstandes „Klatschen“ analytisch auflösen, etwa in die Dimensionen „Klatschproduzent“, „Klatschobjekt“ und „Klatschrezipient“ und erhält so die Klatschtriade. In einem weiteren Analyseschritt untersucht sie sodann die Wechselbeziehungen zwischen diesen isolierten Klatschpositionen, indem sie z.B. das Klatschobjekt konstant hält. Dann ergeben sich die „Abwesenheit“ und die „Bekanntheit“ des Klatschobjekts als notwendige Bedingungen und den Austausch von abwertenden oder aufwertenden Informationen über das Intimleben des Klatschobjekts – Schimpfklatsch und Lobklatsch, etc. [1] Auf diese analytisch kreative Weise hätte die Soziologie prinzipiell zu allen Themen öffentlicher Debatten etwas Interessantes zu sagen, was so andere Disziplinen nicht zu sagen haben.
Entstehungshintergrund
Diese Aufklärung durch Verfremdung von Selbstverständlichem führt eine nach über 40 Jahren jetzt bei suhrkamp taschenbuch wissenschaft erschienene Sammlung von Studien unter dem Titel „Gierige Institutionen. Soziologische Studien über totales Engagement“ [2] des amerikanischen Soziologen Lewis A. Coser aus dem Jahre 1974 mustergültig vor, den Erwin K. Scheuch in seinem Nachruf von 2003 [3] als einen der bedeutendsten qualitativen Soziologen der USA nach dem 2ten Weltkrieg bezeichnet hatte.
Autor
Coser ist dem deutschen Publikum vor allem als Theoretiker des sozialen Konflikts bekannt geworden, den er in seiner Doktorarbeit von 1956 im Anschluss an Georg Simmels Kapitel „Der Streit“ entwickelt hatte und die, 1972 als Sonderband des Luchterhand Verlages herausgebracht, seinerzeit zur Pflichtlektüre des Soziologie-Studiums gehörte. [4] Entgegen der negativen Wertung, die der Common Sense Konflikten zuschreibt, zeigte Coser die sozialen und konstruktiven Funktionen von Konflikten, die lediglich in speziellen Ausnahmefällen rein destruktiv sich auswirken. „Streit“ (Simmel) oder „Kampf“ (Weber) oder „Conflict“ (Coser) ist nicht, wie der Common Sense das gerne aus Harmoniebedürfnis denkt, immer gleich „Streit“, „Kampf“ oder „Conflict“. Was aus dem handelnd ausgetragenen Dissens, aus dem Antagonismus oder aus schlichter Differenz wird, hängt vom sozialen Kontext und beteiligten Personal, von kulturellen Orientierungen und ökonomischen Interessen ab, und muss nicht notwendig dysfunktional oder sozialdestruktiv ausfallen, sondern kann gerade Beziehungen zwischen ansonsten unverbundenen Akteuren stiften.
Aufbau und Inhalt
Aber zurück zu den „Greedy Institutions“. Das Robert K. Merton gewidmete Buch ist in vier Kapitel unterteilt.
Das erste Kapitel präzisiert den Begriff und unterscheidet ihn von Goffmans „Total Institutions“.
In drei weiteren, inhaltlichen Kapiteln wendet Coser sein Konzept des „Undivided Commitment“ auf unterschiedliche Sphären des Sozialen an.
- Das Buch startet inhaltlich mit einem Blick auf politische Herrschaft, genauer auf die Erzwingungsstäbe politischer Herrschaft unter dem Titel „Im Dienst des Herrschers“. Dazu zählen kurze Studien zur politischen Rolle von Eunuchen, Fremden, Hofjuden und christlichen Renegaten und selbstverständlich auch von Mätressen, die von Autokraten als privilegierte Abhängige für die eigenen Machtinteressen strategisch eingesetzt wurden.
- Das zweite inhaltliche Kapitel widmet sich der „greedy family“ am Beispiel von Hauspersonal wie Butlern, Leibdienern und Dienstboten und der Hausfrauen, die ihr Leben der Familie widmen („Im Dienst der Familie“).
- Im dritten und letzten inhaltlichen Teil konzentriert sich die Untersuchung auf hermetische Gemeinschaften wie politische, religiöse und lebensreformerische Sektierer und ihre Kollektive („Im Dienst des Kollektivs“), die ihre Mitglieder mit Haut und Haaren aufsaugen.
Im ersten Kapitel entwickelt Coser, was er unter „Greedy Institutions“ versteht. Er geht dabei von der generellen Prämisse aus, dass soziale Gebilde jedweder Art dazu tendieren, ihre Mitglieder mit all ihren Lebensenergien und zeitlichen Ressourcen für ihre Zwecke und Ziele in Dienst zu nehmen. Die zeitlichen und energetischen Kapazitäten der Individuen, ihre Loyalitäten und ihre Treue und ihr Commitment sind aber begrenzt. Daher konkurrieren in traditionalen eine kleinere und in modernen Gesellschaften eine größere Anzahl organisierter Gruppen um ihre Aneignung. Und deshalb entwickeln Gesellschaften normative Regelwerke z.B. in Form rechtlicher Anspruchsbeschränkungen arbeitsrechtlicher Art, um ihre Mitglieder vor dem Zerrisenwerden durch diese konkurrierenden Gruppenansprüche zu schützen: „Daher ist zum Beispiel in modernen Gesellschaften die Menge an Zeit, die ein Individuum legitimerweise seinem Arbeitgeber schuldet, normiert und sogar rechtlich festgeschrieben: das ermöglicht es ihm, Zeit für seine Familie oder andere außerberufliche Tätigkeiten aufzubringen. Ähnlich beschränken demokratische Gesellschaften die Bereiche, in denen der Zugriff des Staates auf den Bürger als legitim betrachtet wird.“(ebd.: 12)
Auf diese Weise wird gewöhnlich verhindert, dass ein „sozialer Kreis“ (Georg Simmel) monopolistisch über Zeit und Energie, Loyalität und Treue der Einzelnen verfügen und für seine Zwecke einspannen und absorbieren kann. Dennoch gibt es immer wieder „Institutionen“, die alles daran setzen, ihre Mitglieder mit all ihren Ressourcen und Bedürfnissen, also die gesamte Persönlichkeit zu vergemeinschaften und ihnen Loyalitäten gegenüber Konkurrenzgruppen zu untersagen: „Sie könnten gierige Institutionen genannt werden, insofern sie auf das exklusive und ungeteilte Engagement aus sind, und sie versuchen, die Anforderungen konkurrierender Rollen und Statuspositionen an jene, die sie sich einverleiben wollen, zu verringern. Ihre Ansprüche an die Person sind allumfassend.“(ebd.:14)
Mit dieser Bestimmung der „Greedy Institutions“ nähert sich Coser den „Total Institutions“ Erving Goffmans und damit der Notwendigkeit, jene von diesen zu unterscheiden. Coser nennt vor allem zwei strukturelle Unterscheidungsmerkmale: „Greedy Institutions“ greifen auf soziale Mechanismen zurück, um symbolische Grenzen zwischen Außenwelt und Innenwelt der Gruppe ziehen, während Goffmans Konzept der „Total Institutions“ sich auf soziale Gebilde bezieht, die die Grenze zur Außenwelt durch physische Mittel wie Gefängnismauern, geografische Marginalisierung oder Kasernierung errichten. Außerdem handelt es sich bei den von Goffman im engeren Sinne gemeinten „Total Institutions“ um Hospitäler und Klostergemeinschaften, Strafanstalten und Lager, die auf mehr oder weniger unfreiwilliger Mitgliedschaft mindestens einer, zumeist der umfänglichsten Mitgliedergruppe, sprich der Insassen beruht. Demgegenüber rekrutieren „Greedy Institutions“ ihre Mitglieder auf Basis von Freiwilligkeit: „Der Mönch, der Bolschewik, der Jesuit oder das Sektenmitglied haben sich für ein Leben entschieden, in dem sie sich vollständig engagieren, auch wenn sie strengen Kontrollen unterworfen sein mögen, und die meisten Frauen akzeptieren die Aufgabe, sich ganz ihrer Familie zu widmen.“(ebd.: 16)
Welches sind die sozialen Mechanismen oder Strategien, die die „Greedy Institutions“ anwenden, um ihre Mitglieder gegen plurale Rollenverpflichtungen zu immunisieren und von Erwartungskonflikten freizuhalten und sich so einer ungeteilten Loyalität ihrer Mitglieder zu versichern? Coser nennt deren drei:
- „Greedy Institutions“ minimieren widersprüchliche Erwartungen, indem sie Rollenpartner außerhalb der Gruppe „chirurgisch entfernen“(ebd.:17) oder doch auf wenige und gut kontrollierbare reduzieren – Ausschluss von Migliedschaftsalternativen;
- „Greedy Institutions“ fordern gleichzeitig vollständige und exklusive Involvierung in die Aktivitäten der Eigengruppe und schneiden jegliche Partizipation an alternativen Fremdgruppenaktivitäten ab – Zwang zur exklusiven Handlungsinvestition in das Gruppenleben;
- „Greedy Institutions“ begründen diese Totalabsorption von Mitgliederzeit und Mitgliederenergien durch Abwertung der Außenwelt und Aufwertung der Binnenwelt ihrer Gruppe, woran die Auserwähltheitsideologie religiöser und politischer, wissenschaftlicher oder lebensreformerischer Sekten in aller Regel arbeitet – Elitäre Legitimation der Group Greediness.
Aus den inhaltlichen Kapiteln will ich zwei herausgreifen, um zu zeigen, welches Erkenntnispotenzial Cosers „Greedy Institutions“ gegenüber einem Common Sense-Begriff von Eunuchen einerseits, von Jesuiten andererseits besitzt.
Eunuchen. Der gesunde Menschenverstand versteht unter Eunuchen Haremswächter. Eunuchen sind danach kastrierte Männer, die zwar ihre Manneskraft, aber nicht ihre Mannesstärke verloren haben. Das prädestiniert sie dazu, die Frauen des Autokraten im polygienischnen Sultanismus gegen sexuelle Übergriffe von Dritten zu schützen oder die Frauen von Seitensprüngen mit Palastpersonal abzuhalten.
Ausgeblendet bleibt dabei das viel weitergehende Mandat, das die Herrscher des nahen und fernen Ostens ihren Eunuchen im Laufe der Zeit übertrugen. Eunuchen waren Berater und Vertraute, Generäle und Kämmerer, Prinzenerzieher und Minister und bekleideten erfolgreich und effektiv hohe und höchste Staatsämter. Die Autokraten wählten sie aus, um absolut loyale und verlässliche Gefolgen zu haben, und weder von einer auf Versachlichung hin tendierenden Bürokratie an Normen und Regeln gebunden zu werden noch sich Feudalherren verpflichten und diese mit Lehen und Territorium entgelten zu müssen, den Quellen zur Begründung unabhängiger Gegenmacht im patrimonialen Machtspiel. Demgegenüber blieben die Eunuchen ohne biologische Nachkommen, wurden als Kinder geraubt oder von Bauern an den Hof verkauft, wo sie isoliert von ihrer Herkunft zu Höflingen erzogen und zu brauchbaren Herrschafstfunktionären ausgebildet wurden. So wurden sie zu privilegierten Abhängigen, Inhaber patrimonialstaatlicher Spitzenämter und in ihrer Stellung vollkommen auf den osmanischen Sultan, den persischen Einherrscher und den chinesischen Kaiser angewiesen. Der Profit der Autokraten war die uneingeschränkte Verfügung über ein perfektes Werkzeug zur Durchsetzung ihrer Interessen, ohne sich dabei auf irgendeine Weise durch Gesetze oder feudale Verbindlichkeiten einschränken zu müssen: Eunuchen, so Coser, „waren daher das passende Instrument für jeden Herrscher, der dem Zugriff des Adels und der Bürokratie entkommen wollte, während er diese für seine eigenen Zwecke benutzte.“(ebd.:39)
Jesuiten. Seit Gründung des Jesuiten-Ordens tendiert der Common Sense dazu, diesen mit einem Rankenwerk an Verschwörungstheorien zu umflechten und zu dämonisieren, manchmal auch ihn ähnlich den geheimbündlerischen Freimaurern und Rosenkreuzern als negative Macht >hinter< den Kulissen der Weltgeschichte zu vermuten.
Diese Mystifikationen verdankt die „Gesellschaft Jesu“ tatsächlich dem Rigorismus, mit der die Ordensregel des Ignatius von Loyola die Mitglieder ihrem strengen Regiment unterwirft. Hier sticht nicht nur das asketische Armutsgebot hervor, sondern besonders die Unbedingtheit, mit dem der Gehorsam gegenüber Vorgesetztenbefehlen gefordert und geleistet wird. Hinzu kommt noch die innerweltliche Mission, die die Jesuiten im Unterschied zu den weltflüchtigen Klostermönchen zum offensiven Hineinwirken in die Ordnungen der Welt bestimmt. Und religiöser Rigorismus und Unbedingtheit des Handelns, die sich am beliebigen Ort gegen beliebiges Widerstreben mit kompromissloser Konsequenz und unbestechlich durch die „Verlockungen einer sündigen Welt“ durchzusetzen bestrebt sind – das sind Verhaltensqualitäten, die dem in seine Alltäglichkeiten verstrickten, multiplen Erwartungen ausgesetzten und deshalb kompromisslerischen Laienmenschen des Common Sense mindestens suspekt und verstörend, wenn nicht dämonisch vorkommen müssen.
Besonders die Gehorsamskonzeption des Ignatius erregt Erstaunen. So unterscheiden die Jesuiten zwischen äußerlichem und innerlichem Gehorchen, zwischen einem Gehorchen ersten und zweiten Grades, die den Jesuiten als Jesuiten qualifizieren: Ignatius „…argumentierte, dass der erste Grad des Gehorsams der in der äußeren Vollziehung des Befohlenen besteht (…) nicht einmal den Namen Gehorsam verdient (…) wenn man nicht zum zweiten Grad aufsteigt, nämlich den Willen des Obern zu seinem eigenen zu machen; und zwar dergestalt, das nicht nur die äußere Vollziehung der Tat stattfindet, sondern auch die Übereinstimmung des inneren Empfinden (…)“ (ebd.: 129)
Ein solcher totaler Gehorsam ist nur möglich, weil die primordialen Bande zu Familie und Herkunftskontext gekappt und auf diese Weise jegliche Loyalitätskonkurrenzen ausgeschaltet sind. Manifest wird das unter diesen Bedingungen gedeihende Befehls-Gehorsams-Muster militärischer Art in den ordensinternen Rangbezeichnungen, die keiner brüderlichkeitsethisch begründeten Solidargemeinschaft, sondern einem militärischen Stoßtrupp gleicht, einer „ecclesia militans“(ebd.:131), die die Ordensglieder als Generäle und Offiziere und nicht als Väter und Brüder konzipiert.
Dieser totale Gehorsam löscht die naturwüchsige Persönlichkeit mit ihren Ich-Kontingenzen aus und ersetzt sie durch den gesatzten Willen des Kollektivs. Ist dieser Zustand erreicht, hat die „Greedy Institution“ den perfekten Jesuiten kreiert, der, zum ich-losen Werkzeug der Gesellschaft Jesu mutiert, seine Wahrnehmungen, sein Urteilsvermögen an die des Ordens angleicht und so jeden Befehl rücksichtslos und 1:1 gegen alle Widerstände durchzusetzen bestrebt ist.
Fazit
Der Common Sense ist ein System der veralltäglichten Wirklichkeitswahrnehmung, das in Abhängigkeit vom kulturellen Kontext variiert. Er gibt ein Bild der Welt wieder, das jedem vertraut und allen zugänglich ist, weil die alltägliche Erfahrung einer sozialen Wirklichkeit es in jedem Augenblick praktisch verifiziert. [5] Entsprechend borniert erweist sich denn auch das Wissen des Common Sense, das seine Grenzen innerhalb der Erfahrungen hat, die ihm sein Alltag ziehen. So muss der gesunde Menschenverstand alles kopfschüttelnd in redensartliche Residualkategorien abschieben, was jenseits seines empirisch-goldenen Mittelweges liegt, weil gerade er den Balken im eigenen Auge nicht sieht.
Cosers Studien zu den „Greedy Institutions“ führen ein Analyse-Konzept, einen Idealtypus im Weber´schen Sinne vor, der den Blick über den Tellerrand der eigenen Selbstverständlichkeiten strukturanalytisch hinausführt. Der Relevanz des Konzepts entspricht die Varianz der Kontexte, die sich mit seiner Hilfe den Lesern erschließen. Aber mit diesen Fallbeispielen des Buches sind die Anwendungsbereiche des Konzeptes bei weitem noch nicht erschöpft, wie die Herausgeberin des von ihr sorgfältig übersetzten und kommentierten Textes zum Ende des Buches am Beispiel des Internet-Zeitalters zeigt.
Marianne Egger de Campo zieht damit die Konsequenz aus der didaktischen Absicht des Textes, der an verschiedenen Stellen an die Leser appelliert, sich zu weiteren Untersuchungen anregen zu lassen, da es „Greedy Institutions“ nicht nur gestern, sondern auch heute und mit Sicherheit auch morgen geben wird – mit allen Bedrohungen der Freiheit, die für Coser so wichtig war: „Ich möchte,“ schrieb er, „dass klar verstanden wird, dass ich vor allem anderen den Erhalt der offenen Gesellschaft für unerlässlich halte.“(ebd.: 27) Und eine wesentliche Voraussetzung für eine solche Gesellschaft ist eine Soziologie, die sich der Aufklärung durch Verfremdung des Selbstverständlichen verschreibt und damit für die Selbstreflexivität sorgt, die eine vom Common Sense bornierte Gesellschaft für ihre Offenheit braucht.
[1] Siehe die lesenswerte Studie von Joachim Bergmann über „Klatsch. Die diskrete Indiskretion“ aus dem Jahre 1986, Berlin: de Gruyter.
[2] Im Original von 1974 in der New Yorker Free Press lautete der Titel: Greedy Institutions. Patterns of Undivided Commitment. Der Untertitel ist schwer ins Deutsche zu übertragen. Ungeteilte Selbstverpflichtung oder Einbindung oder Wertbindung? Alle nur zweite oder dritte Wahl. Aber auch das „Engagement“ trifft es nicht ganz. Mit Engagement verbindet man doch immer die Möglichkeit des Ausstiegs, und der ist schon aus strukturellen Gründen bei Cosers Commitment-Typen kaum ohne existentielle Verluste möglich. Mit „totalem Engagement“ schließt der Titel auch inhaltlich zu eng an Goffmans „Totale Institutionen“ an, von der Coser sich inhaltlich absetzen wollte. Daher nicht „Total Institutions“ wie bei Goffman, sondern „Undivded Commitment“ im amerikanischen Untertitel.
[3] Siehe E.K. Scheuch: KZfSS, 55, 2003, S. 610-611.
[4] Lewis A. Coser: Theorie sozialer Konflikte. Neuwied/Berlin: Luchterhand. 1972.
[5] Vgl. hierzu den ausgezeichneten Essay von Clifford Geertz: „Common Sense als kulturelles System“, in derselbe: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. F.a.M.: Suhrkamp, 1987, S.261-288, hier besonders S. 277ff.
Rezension von
Prof. Dr. Richard Utz
Hochschule Mannheim, Fakultät für Sozialwesen
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