Norbert Heimken: Migration, Bildung und Spracherwerb
Rezensiert von HS-Prof. Dr. Doris Lindner, 07.09.2015
Norbert Heimken: Migration, Bildung und Spracherwerb. Bildungssozialisation und Integration von Jugendlichen aus Einwandererfamilien. Springer VS (Wiesbaden) 2015. 117 Seiten. ISBN 978-3-658-08757-9. D: 34,99 EUR, A: 35,97 EUR, CH: 44,00 sFr.
Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-658-17132-2 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.
Thema und Entstehungshintergrund
Die sprachliche Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist derzeit ein in der Öffentlichkeit vieldiskutiertes Thema, nicht nur in der allgemeinen Integrationsproblematik, sondern auch aufgrund seiner bildungsrelevanten Folgen. Eine Zunahme der sprachlichen Vielfalt spiegelt sich auch in den Klassenzimmern wider, da die Zahl von Kindern und Jugendlichen mit einer anderen Erstsprache als dem Deutschen kontinuierlich im Steigen begriffen ist. Sprachliche Vielfalt konnotiert aber zumeist Migration und diese wiederum ist, wie Norbert Heimken darlegt, unweigerlich mit Sprachkompetenzproblemen verbunden. Mit einer Differenzierung der Problemlage lässt sich dieser Zusammenhang freilich nicht zur Gänze aufrechterhalten. Es geht darum zu verstehen, welche Mechanismen den Kompetenzerwerb in dieser Gesellschaft bestimmen und warum es große Unterschiede in der sprachlichen Integration von Einwanderungsgruppen gibt. Im Mittelpunkt der Analyse, die der Autor in dieser Studie vorlegt, steht demnach die sprachliche Integration von Jugendlichen aus Einwandererfamilien hinsichtlich ihrer spezifischen familialen, schulischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen in Deutschland. Insbesondere geht es um Fragen zum Spracherwerb und zur Sprachkompetenz, um Ursachenzusammenhänge im Bereich familialer Bildungssozialisation und um die Analyse besonderer Risikogruppen - ein Schwerpunkt im Zusammenhang mit Migrationserfahrungen, der seit mehreren Semestern in kontinuierlichen Lehrforschungsprojekten am soziologischen Institut der Universität Münster untersucht wird.
Autor
Norbert Heimken ist seit 2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Universität Münster, wo er seine mehrjährige Lehrerfahrung in Deutsch als Fremdsprache u.a. am Lehrgebiet ‚Deutsch als Fremdsprache‘ erweiterte. Er forscht und lehrt insbesondere zu den Bereichen Migration, Jugend-, Familien- und Bildungssoziologie.
Aufbau und Inhalt
Vorliegendes Werk ist eine kompakte Darstellung einer Studie zum Zusammenhang von Bildungssozialisation, Sprache und Migration. Der Aufbau entspricht einer wissenschaftlichen Arbeit und besteht aus einer Einleitung, den Grundlagen der Erhebung, der Datenanalyse, den resultierenden Konsequenzen und Möglichkeiten sowie einem Fazit am Ende.
In der Einleitung legt der Autor zunächst den Rahmen und die Zielstellung der Untersuchung dar. Diese besteht darin, den Zusammenhang von Sprachkompetenz und Bildungssozialisation mittels Test und Befragung zu ermöglichen. Die vorliegende Zusammenstellung der Ergebnisse stützt sich auf die Auswertung der bisher erhobenen Daten, primär also auf die Auswertung von etwas mehr als 400 Sprachtests von Jugendlichen ohne und mit Migrationshintergrund. Durchgeführt wurden eigene Kompetenzmessungen in verschiedenen Schulformen, Lerngruppen und Orten, vornehmlich in den letzten beiden Jahrgängen eines Bildungsganges (Jahrgänge der Klassen 9 bis 12). Entworfen wurde hierfür ein geeigneter Fragebogen, der sowohl einen Befragungsteil, als auch einen Schnelltest zur Sprachkompetenzmessung enthält.
Der Auswertung der Daten vorangestellt werden in Kapitel 2, Grundlagen der Erhebung, Überlegungen zum Forschungsansatz, zum Forschungsinteresse und dem verwendeten methodischen Instrumentarium. Bezüglich des Forschungsansatzes nennt der Autor insgesamt zwölf Argumentationslinien, die den vorläufigen Untersuchungsrahmen abstecken und in weiterer Folge die Forschungsziele bestimmen – etwa Integrationsdynamiken, die Bedeutung der Sprache, Mehrsprachigkeit, Bildungssozialisation oder schulische Effizienz, um nur einige zu nennen. Im letzten Punkt ‚Perspektiven‘ verweist Heimken auf die Möglichkeit einer Erweiterung und Verfeinerung des verwendeten methodischen Instrumentariums sowie möglicher Folgestudien, die den Einsatz qualitativer Verfahren mitberücksichtigen sollen. Entwickelt wurden für diese Studie Fragebogen und Sprachtest. Der Fragebogen, der SchülerInnen vorgelegt wurde, erfasste vor allem Einstellungen zu den Bereichen Freizeitgestaltung, Mediennutzung, herkunftssprachliche und deutschsprachige Kommunikation, Schulerfolg, Lernförderung, Bildungsaspiration und Migrationshintergrund (ein Auszug davon findet sich im Anhang des Buches, eine komprimierte Darstellung aller Fragen auf S. 19). Die Schwerpunkte bei der Erfassung mittels Sprachkompetenztests liegen auf dem Leseverstehen, während Hörverstehen, Textproduktion und mündliche Kommunikation im Rahmen der Schnelltests nicht oder nur am Rande gemessen werden können. „Für die Messung der Sprachkompetenz ist es unerheblich, inwieweit Sprachbildung und Verständnis intuitiv oder reflexiv dominiert sind“, so der Autor (S. 19). Durchgeführt und ausgewertet wurde der Sprachtest in zwei Teiltests, in denen Leseverstehen, Fragen zum Text, Grammatik und sprachliche Assoziationen getestet wurden. Da es nicht primär das Ziel war, Kompetenzunterschiede im Bereich hochsprachlicher Kommunikation zu finden, sondern um die Frage, inwieweit anspruchsvolle aber noch alltagstaugliche Basiskompetenzen in der Sprache erreicht werden, lässt dies der Interpretation jedoch Spielräume, wie Heimken anmerkt.
Die Datenanalyse, Kapitel 3, ist das umfangreichste Kapitel, in dem der Autor deskriptiv, analytisch und graphisch die Darstellung der gewonnenen Forschungsergebnisse auf 50 Seiten vornimmt. Am Ende jedes Kapitels endet der Autor mit einem kurzen Fazit. Die detaillierte Darlegung umfasst Erläuterungen zu den Kategorien
- Migrationshintergrund,
- Alter, Schulform und Geschlecht,
- Einwanderungsländer.
- Migration, Sprache und familialer Bildungsstatus,
- Bildungsaspiration,
- Bildungsinvestitionen und Bildungshandeln,
- Bildungsinfrastruktur und Hilfsangebote,
- Kindergarten und frühkindliche Förderung,
- Lesesozialisation und Medienkonsum,
- Sprachgebrauch in der Familie,
- Berufstätigkeit der Eltern,
- Freizeitverhalten,
- Türkische – und osteuropäische Einwanderer im direkten Vergleich.
Im Anschluss an die Datenanalyse erfolgt im Kapitel 4, Konsequenzen und Möglichkeiten, eine erste zusammenfassende Synthese möglicher Folgerungen aus den Befunden im Hinblick auf zentrale Forschungs- und Problemfelder in einer Systematisierung der Erkenntnisse. Der Autor gibt zentrale Ergebnisse wider, diskutiert und erweitert Fragestellungen, wie beispielsweise die Rolle der Migration in den verschiedenen Ausprägungen von Sprachdefiziten bewusst kritisch. Heimken verweist u.a. auf die Notwendigkeit einer systematischen Lösung in der Frage um Sprachprobleme, die alle beteiligten Gruppen und Institutionen in den Blick nehmen sollte, um Verantwortlichkeiten ins Bewusstsein zu rücken. Dabei rekurriert der Autor auch auf die gesellschaftlich relevanten Probleme sprachlicher Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, da sie auch Fragen nach der sozialen Gerechtigkeit in Deutschland aufwerfen, insbesondere die Frage, inwieweit sich mangelnde Sprachkompetenzen auf Bildungserfolge auswirken und den Zugang zu anderen gesellschaftlichen Möglichkeiten versperren.
Im Fazit nennt der Autor mögliche Handlungsperspektiven und Anwendungsbezüge, etwa die Forderung nach einer gezielten Unterstützung professioneller Frühförderung in der Aneignung von Sprache, eine Professionalisierung der deutschen Orientierungen auf Bildungsgerechtigkeit, da Defizite in der Sprache primär ein Versäumnis des Bildungssystems, weniger der Eltern von Einwanderungskindern ist. Aber auch die Etablierung einer Bildungsberatung an Schulen oder die Implementierung eines schulischen Fördersystems für Sprachkompetenz sind alternative Handlungsperspektiven, die Heimken in Erwägung zieht.
Diskussion und Fazit
Die Studie liefert wertvolle Ergebnisse zu Spracherwerb und sprachlicher Integration von Jugendlichen in den verschiedenen familialen, schulischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen. Auch wenn die Darstellung der Ergebnisse teils limitiert, teils auf ersten und vorläufigen Auswertungen der Daten beruht, so ist doch bereits ersichtlich, dass differenzierte Analysen notwendig sind, will man migrationsbedingte Sprachprozesse in einer Gesellschaft objektiv erklären. Dies ist insofern von Relevanz, da die Diskussion um Migration, Bildung und Spracherwerb einerseits unterschiedliche, teils komplexe Ebenen berührt und andererseits mit Orientierungen in Berührung kommen lässt, die sprachliche Vielfalt weit mehr als Problem, denn als Bereicherung für eine Gesellschaft bewerten. Vorstellungen darüber bleiben in der öffentlichen Diskussion aufgrund mangelnder Erfahrungen und Einsichten oftmals nur an der Oberfläche stehen und führen zu verkürzten Sichtweisen, die ihrerseits wieder Vorurteile schüren.
Der Studie gelingt es zu plausibilisieren, dass enggeführte Argumentationsweisen der Angemessenheit der Thematik nicht gerecht werden. Dies sollte auch Folgen für Modelle und Programme in schulischen und außerschulischen Einrichtungen haben, die Zielgruppen bislang kaum erreichten. Der Verweis auf soziale Ungleichheit ist in dieser Hinsicht ein erster Ansatz, der Autor fordert aber nicht zu Unrecht Implementierungen, da Schulen heute zentrale Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen sind. Die Erwartungshaltungen, die zu Beginn der Lektüre gelegt werden, werden am Ende hin auch eingelöst. Es bleibt zu hoffen, dass die angekündigten Folgestudien vor allem qualitativer Art auch durchgeführt werden, um bisherige Ergebnisse durch ebensolche, wertevolle und vertiefenden Einsichten in die Materie zu komplettieren.
Die Studie kann nicht nur Dozierenden, Soziologiestudierenden, LehrerInnen und ErzieherInnen eine Orientierung bieten, sondern darüber hinaus auch den wissenschaftlichen Nachwuchs Anregungen zu eigenen Forschungsarbeiten ermöglichen. Die Anwendungsbezüge lohnen nicht nur in Wissenschaft und Praxis diskutiert zu werden, sondern auch in der Politik. Letzteres spricht vor allem für eine weite Rezeption – auch und vor allem in Bezug auf die Forschungsproblematik insgesamt.
Rezension von
HS-Prof. Dr. Doris Lindner
Institut Qualitätsmanagement und Hochschulentwicklung
Private Kirchliche Pädagogische Hochschule Wien/Krems
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Es gibt 34 Rezensionen von Doris Lindner.
Zitiervorschlag
Doris Lindner. Rezension vom 07.09.2015 zu:
Norbert Heimken: Migration, Bildung und Spracherwerb. Bildungssozialisation und Integration von Jugendlichen aus Einwandererfamilien. Springer VS
(Wiesbaden) 2015.
ISBN 978-3-658-08757-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19154.php, Datum des Zugriffs 07.11.2024.
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