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Katharina Walgenbach, Anna Stach (Hrsg.): Geschlecht in gesellschaftlichen Transformations­prozessen

Rezensiert von Dr. Barbara Stiegler, 31.07.2015

Cover Katharina Walgenbach, Anna Stach (Hrsg.): Geschlecht in gesellschaftlichen Transformations­prozessen ISBN 978-3-8474-0619-8

Katharina Walgenbach, Anna Stach (Hrsg.): Geschlecht in gesellschaftlichen Transformationsprozessen. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2014. 230 Seiten. ISBN 978-3-8474-0619-8. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 40,90 sFr.

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Entstehungshintergrund

Dieser 4. Band aus der „Schriftenreihe der Sektion Frauen-und Geschlechterforschung in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft“ beinhaltet elf Beiträge internationaler Autor_innen aus unterschiedlichen Disziplinen zum Thema „Geschlecht in gesellschaftlichen Transformationsprozessen“, geht also über den erziehungswissenschaftliche Fachdiskurs hinaus.

Aufbau und Inhalt

Nach einer Einführung durch Katharina Walgenbach und Anna Stach geht es in den vier Teilen um verschiedene Aspekte von Transformationen und um die Rolle, die Geschlecht und Geschlechterordnungen darin spielen.

(1) Im ersten Teil steht die Frage im Mittelpunkt, wie die Neuordnungen von Ökonomie, Staat, Familie und Privatsphäre auf die Geschlechterverhältnisse einwirken. Katharina Walgenbach analysiert zunächst die Grenzverschiebungen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, kritisiert das „adult worker model“, das auch eine Transformation von Männlichkeiten beinhalten kann und beschreibt Care oder die Sorgearbeit als umkämpftes Geschlechterterrain. Sie diskutiert des Weiteren die Dethematisierung von Geschlechterungleichheiten und verweist insgesamt auf das Weiterbestehen von Ungleichheiten und auf neue Spaltungen in den Geschlechterverhältnissen. Angela McRobbie stellt bei ihrer Betrachtung der Folgen des Postfordismus junge Arbeiterinnen in der Mode-Medien-und Dienstleistungsbranche in den Focus und sieht hier Retraditionalisierungs-Tendenzen. Die Töchter aus der Arbeiterklasse bilden ihre Meinung nach eine neue „Risikoklasse“, die zwar unter prekären Arbeitsbedingungen aber in höchst engagierter und enthusiastischer Weise, in „passionate work“ zu arbeiten haben und damit einer neuen normativen Weiblichkeit unterworfen werden, um erfolgreich zu sein. Sara R. Farris diskutiert feministische Politiken unter intersektionaler Perspektive und führt aus, wie der „Femonationalismus“ an der Stigmatisierung von vor allem muslimischen Migrant_innen beteiligt ist. Deren Integration soll durch die Förderung ihrer Beschäftigung erreicht werden und sie werden im Namen der Gleichstellung in die Arbeitsfelder gelenkt, die westliche Frauen verlassen: die Reproduktionsarbeit in Haushalt und Pflege. Damit werden rassistische intersektionale Diskriminierungen und ein traditionelles Frauenbild verstärkt. Jeff Hearn plädiert in seinem Beitrag zu Männern und Männlichkeiten dafür, in den globalen und transnationalen Prozessen die Männer und Männlichkeiten als solche zu analysieren, sie also zu vergeschlechtlichen, um damit die Möglichkeiten der Abschaffung von Macht von Männern zu eröffnen.

(2) Die beiden nächsten Beiträge gehen näher auf die Transformationen im Bereich der Care Arbeit ein. Tove Soiland sieht in der Ausdehnung der Warenform der Care-Arbeit die größte Herausforderung für eine feministische Analyse des Postfordismus. Sie arbeitet den Widerspruch zwischen der emanzipatorischen Anrufung an die Frauen, die eigene Existenz zu sichern, und der gleichzeitigen Ausbreitung eines Niedriglohnsektors im Care Bereich heraus. Der wertschöpfungsschwache Care Sektor wächst bei gleichzeitiger Schwächung der Ressourcen, die die Haushalte für die eigene Reproduktion benötigen; allerdings vollzieht sich diese „Landnahme“ im Verborgenen. Letztlich hält Soiland eine Geschlechtergleichstellung im Rahmen einer von der kapitalistischen Produktionsweise dominierten Ökonomie für unmöglich. Christine Thon geht es um das Neoliberale im Diskurs über die „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“. Nur scheinbar wird die Vereinbarkeit für die jungen Frauen, die „Top-girls“, real erleichtert. Statt die zugrunde liegenden Widersprüche zu benennen und zu lösen, werden sie selbst zur Bearbeitung aufgerufen, indem sie sich als „Humankapital“ begreifen und als individualisierte Subjekte durch Wollen, Planen und Kommunizieren die Vereinbarkeit herstellen sollen. Auch für Christine Thon finden sich gegenhegemoniale Interventionen eher in Diskursen, die die Prämissen gegenwärtiger Wirtschaftsordnung grundlegend infrage stellen und auf eine Umverteilung von Arbeit abzielen.

(3) In den beiden nächsten Beiträgen geht es um die Transformationsprozesse im Bereich Bildung: Barbara Rendtorff setzt sich mit zwei entgegengesetzten Strategien auseinander, die es gegenwärtig in der schulpädagogischen Diskussion zum Umgang mit Geschlechterdifferenzen gibt: entweder werde mildernd auf die geschlechtstypischen Unterschiede eingewirkt oder man versuche, auf die als biologisch begründeten Unterschiede mit geschlechtstypischen, separierenden Materialien einzugehen. Sie kritisiert beide Strategien, weil sie nicht auf die Grundproblematik der Differnz eingehen. Diese sieht sie in der Struktur der Geschlechterordnung selbst mit ihren Zuordnungen und Spaltungen von Bereichen. Als eine Lösung schlägt sie vor, den gesellschaftlichen Wert des den Mädchen zugeschriebenen Sozialen in seiner allgemeingültigen Qualität anzuerkennen und die geschlechtliche Zuordnung von Wissensbereichen aufzuheben. Meike S. Baader geht der Dethematisierung der Kategorie Geschlecht im Namen der Modernisierung im Bildungsbereich nach. Mit der Überschreibung des Erziehungsbegriffs durch den Bildungsbegriff werde ein gesellschaftlicher Bereich, der traditionell in den Händen von Frauen liegt, als veraltet und minderwertig konstruiert.Demgegenüber werde ein Bildungsbegriff favorisiert, der mit Autonomie, Individualität und Selbstmächtigkeit assoziiert ist. In der strukturierten Promotionsförderung werde Gender ersetzt durch Familienfreundlichkeit und Diversity, verstanden als Internationalisierung. Geschlecht als Ungleichheitskategorie ist damit durch das Bild des postfeministischen „Top girls“ oder des „Abstract workers“ verdrängt, die „hidden gender structures“ bleiben verborgen.

(4) In den letzten drei Beiträgen geht es um die Transformationen der Subjekte und der Gesellschaft. Regina Becker-Schmidt diskutiert Teresa de Lauretis Neudeutung von Perversion bzw. Kastration und sieht in diesem Entwurf einer feministischen Psychoanalyse einen fruchtbaren Ansatz, Frauen als Subjekte des Begehrens zu konzeptualisieren. Antke Engel fragt nach queeren Widerstandsstrategien, dabei kritisiert sie die Nähe von queeren Diskurse zu neoliberalen. In Form der „projektiven Integration“ werde etwa Differenz als kulturelles Kapital zelebriert. Dagegen setzt sie eine queere Politik der Paradoxie, die Unvereinbares in eine unauflösliche Spannung integriert. Susanne Maurer bezieht sich auf eine ältere empirische Studie über lebensgeschichtliche Erfahrungen mit Kritikversuchen, wie sie sich im Rahmen der Frauenbewegungen ab der 1960er Jahren entwickelt haben. Sie sieht in diesen Bewegungen Bildungsfelder und Möglichkeitsräume zur Selbstbildung und Welterschließung. Bildung werde hier als gelebte Kritik und experimentelle Praxis erkennbar.

Diskussion

Diese Tagungsdokumentation spiegelt alles andere als eine nur interne erziehungswissenschaftliche Diskussion wider. Vielmehr bietet sie eine breite Palette von Beiträgen aus den verschiedenen Disziplinen der Sozialwissenschaften bis hin zur Psychoanalyse, die sich alle auf Transformationsprozesse und Geschlecht beziehen. Die einzelnen Beiträge sind keine leichte Kost. Sie bewegen sich in verschiedenen Kontexten mit der je eigenen Sprache. Gemeinsam ist ihnen jedoch einiges: Neoliberale Diskurse werden kritisiert, die De-Thematisierung von Geschlecht konstatiert und in einigen Beiträgen wird sowohl das „adult earner“ Modell europäischer Arbeitsmarktpolitik als auch das Bild des „Top girls“ als neues Leitbild für junge Frauen hinterfragt. Mehrfach wird eingeklagt, dass die Strukturen der Geschlechterordnung nicht angemessen berücksichtigt werden, stattdessen die Subjekte aufgerufen werden, sich zu verändern. Eine Verbindung der Analysen der Geschlechterordnung mit der feministischen Ökonomie wird mehrfach eingefordert.

Die Herausgeberinnen formulieren verschiedene Herausforderungen an die Erziehungswissenschaften, angesichts der Transformationsprozesse von Geschlechterverhältnissen zu einer Neubestimmung pädagogischer Handlungsfelder, Bildungsinstitutionen und erziehungswissenschaftlicher Leitbegriffe wie Bildung, Erziehung Sozialisation und Care zu kommen. Dazu kann dieser Band beitragen.

Fazit

Wer sich für eine breite wissenschaftliche Diskussion zur Frage der Bedeutung von Geschlecht in Transformationsprozessen interessiert, dem werden die Beiträge sicher wertvolle Erkenntnisse liefern. Wer sich hier durcharbeitet, gewinnt Sensibilität für verdeckte Formen von Diskriminierung und vordergründigen Versprechungen. Eine einfache Lektüre ist das allerdings nicht.

Rezension von
Dr. Barbara Stiegler
Bis zu ihrer Pensionierung Leiterin des Arbeitsbereiches Frauen- und Geschlechterforschung
Friedrich Ebert Stiftung, Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik
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Es gibt 48 Rezensionen von Barbara Stiegler.

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ISSN 2190-9245