Malte Brinkmann, Kristin Westphal (Hrsg.): Grenzerfahrungen (pädagogische Räume)
Rezensiert von Prof.Dr. Charlotte Uzarewicz, 22.10.2015

Malte Brinkmann, Kristin Westphal (Hrsg.): Grenzerfahrungen. Phänomenologie und Anthropologie pädagogischer Räume.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2015.
272 Seiten.
ISBN 978-3-7799-3024-2.
D: 29,95 EUR,
A: 30,80 EUR,
CH: 38,90 sFr.
Räume in der Pädagogik.
Thema
Anliegen des Sammelbandes ist es, einen „Beitrag zur systematischen Erkundung und Beschreibung solcher sinnlich-leiblichen, sozialen, sprachlichen und intellektuellen Phänomene von Grenzerfahrungen“ (S. 12) zu leisten, die „für räumlich strukturierte Prozesse des Lernens, der Bildung, Erziehung und der Sozialisation von Bedeutung sind.“ (S. 12).
Aufbau
Neben einer umfassenden Einleitung wird in elf Kapiteln das Thema entfaltet. Die Beiträge in dem Band sind nach folgenden Schwerpunkten gegliedert:
- Eine erziehungstheoretische Perspektive und hier insbesondere das Thema Machträume nehmen die Beiträge von Stieve, Schwarz, Stenger, Grabau & Rieger-Ladich und Burghardt ein;
- eine medientheoretische Dimension kommt in den Beiträgen von Nagboel, Westphal, Peters, Friesen zum Ausdruck;
- und letztlich geht Nemmerz auf das Thema Naturraum als „existenzielle Erfahrung des Ausgesetzt-Seins“ (S. 11) ein.
Inhalt
In der Einleitung legen die Herausgeber den grundsätzlich theoretischen Zugang dar: Es geht um die phänomenologische Erziehungswissenschaft, die den Zusammenhang von Raum und Leib systematisch zu erfassen sucht. Erziehungswissenschaft als Erfahrungswissenschaft differenziert den Begriff der Erfahrung aus und nimmt ihn unter drei Perspektiven in den Blick:
- Manifeste und latente Sinngehalte und Prozesse,
- Perspektiven der Erfahrung,
- Begründung eines empirisch gehaltvollen Erfahrungsbegriffs (S.9).
Danach unterscheiden sie verschiedene Räume, die aktivisch und passivisch der Raumerfahrung zugänglich gemacht werden: „einen Raum der Wahrnehmung als Raum des Gewahrwerdens und des Aufmerkens, einen pathisch geprägten Raum der Widerfahrnisse, einen atmosphärischen Raum der Gestimmtheit, einen Bewegungs- und Handlungsraum als den Raum des Wirkens sowie einen Phantasie- und Medienraum als Spielraum von Möglichkeiten“ (S. 9). So wird die Phänomenologie als „Wirklichkeitswissenschaft“ und „als eine Art von ‚experimenteller Forschung‘“ (S. 13) verstanden. Letztlich geht es darum, die vielfältigen Grenzerfahrungen in und mit diesen Räumen zu „beschreiben“ und zu „überschreiten ohne sie aufzuheben“ (S. 13)
Claus Stieve sucht in seinem Artikel „Grenzverschiebung zwischen Welt und Selbst. Zur leiblich-räumlichen Reflexivität früher Bildungsmomente“ an Hand einer „exemplarischen Deskription“ (S. 18) einer typischen Szene im Alltag eines Kindes nach „Momenten räumlich-szenischer Bildung in der frühen Kindheit (…), die durch Fremdheitserfahrungen bestimmt sind“ (S. 18).
Daniel Burghardt befasst sich in seinem Aufsatz „Verortung des Fremden. Notizen zu pädagogisch-phänomenologischen Grenzdiskursen“ mit dem Raumbegriff von Bollnow und setzt diesen in Vergleich zum Thema der „Grenzen der Erziehung“ (S. 46) bei Bernfeld. In seinem Resumee in Bezug auf die „Verortung des Eigenen und des Fremden“ (S. 50) verlagert sich seine phänomenologische Argumentation hin zu einer psychoanalytischen mit einer entsprechenden Bewertung der genannten Ansätze.
„Raumbewegung im Feld. Forschende im pädagogischen Raum“ – so titelt der Aufsatz von Johanna F. Schwarz. Sie stellt die „Innsbrucker Vignettenforschung“ (S. 55) vor. „Nicht eine distanzierte Beobachterposition sondern miterfahrendes Dabeisein kennzeichnet die Forschungsperspektive dieses Zugangs, der sich auf schulische Mikroprozesse richtet.“ (S. 56).
Ursula Stenger befasst sich mit dem „Einbruch des ‚Schrecklichen‘ … als Eintritt in imaginäre Räume“ (S. 67). In Ihrer Langzeitstudie in einer Krippe geht sie folgenden Fragen nach: „Wie entwickelt sich jenes individuell und kulturell geformte Imaginäre? … Wann, wo und wie finden Ereignisse statt, die für Bildungswege von jungen Kindern zentrale Bedeutung haben?“ (S. 73) Am Beispiel eines Nikolausbesuchs in einer Kinderkrippe entfaltet sie den Zusammenhang zwischen „Faszinosum und Tremendum“ (S. 79) und legt schlüssig dar, sich genau in diesem Spannungsfeld Bildungsprozesse ereignen. Für die Erzieher/innen ergibt sich daraus die Aufgabe, „die Wechselwirkung zwischen imaginären und materiellen Räumen“ zu kennen und gut zu begleiten.
Christian Grabau und Markus Reiger-Ladich analysieren in Anlehnung an Foucaults disziplinartheoretische Interpretation des Panopticums und an seine Ausführungen zu Heterotopien, die von den Autoren weitergeführt werden, Schulen als „Raum der Disziplinierung und Ort des Widerstandes“ gleichermaßen.
Kristin Westphal schreibt eine kurze „Einführung zum Beitrag von Soeren Nagbǿl“, ordnet seine Herangehensweise (rekonstruktive Erlebnisanalyse) historisch wie systematisch ein. Dabei arbeitet sie die Differenzen zwischen psychoanalytischem und phänomenologischem Arbeiten heraus.
Soeren Nagbǿls Aufsatz über „Macht und Architektur. Versuch einer erlebnisanalytischen Interpretation der Neuen Reichskanzlei“ ist ein Reprint von 1986 in der Zeitschrift „Kulturanalysen. Psychoanalytische Studien zur Kultur“ (S. 111). In zwei Durchgängen durch die neue Reichskanzlei, bei denen er die Leser an die Hand nimmt und mit ihnen gemeinsam die Räume virtuell durchschreitet, deckt er „offene und verborgene Machtfiguren“ (S. 136) auf, die er am Schluss in eine sozialisationstheoretischen und zivilisationskritischen Perspektive zusammen fasst. Viele Abbildungen machen seine Überlegungen anschaulich.
Susanne Nemmertz berichtet in ihrer „dichten Beschreibung“ (S. 141) über „Grenzerfahrungen in Bewegung“ am Beispiel des Biwakens. Die zentrale Bewegungsfigur hierbei ist „Ankommen, Verweilen, Weitergehen“, die zu „differenzierten Beschreibungen von Grenzerfahrungen“ leitet und „Raumerfahrungen“ (S. 141) in komplexen leiblichen Dimensionen ermöglicht. „Biwaken ermöglicht performative Zugänge des Verstehens, Erkennens, Begreifens, sich Wehrens von Selbst- und Weltverhältnissen. Bildungsprozesse vollziehen sich in diesem Schaffen von Räumen von Ort zu Ort, im Erfinden von Räumen, im Wechseln von Ankommen – Verweilen – Weitergehen.“ (S. 155)
Norm Friesen thematisiert an Hand einer phänomenologischen Analyse einer Videokonferenz den „Pedagocial Space Online and Off”. In kritischer Auseinandersetzung mit Husserls „imaginative variation“ spezifiziert und erweitert er diese im Hinblick auf „‚real‘ perceptual experiences and its features“ (S. 161). Auch wenn zukünftig die technologischen Möglichkeiten die Herausforderungen des Augenkontakts bei vis-a-vis Kontakten zu lösen vermögen, bleibt für einen pädagogisch-erzieherischen Auftrag etwas unauflösbar Fremdes bestehen. Denn eine pädagogische Beziehung ist nicht eine Frage der immer größer werdenden Nähe und Unmittelbarkeit bzw. Direktheit im Kontakt, sondern eine der minutiös kultivierten Selbstzurücknahme und Zurückhaltung.
Maria Peters widmet sich „Kommunikative(n) Grenzgänge(n) im medialen Raum der Radiokunst“. Sie beschreibt „bildungswirksame Potenziale ästhetischer Raumerfahrung in Auseinandersetzung mit Kunst und ihre sprachliche Transformation“ (S. 178). Unter Bezug auf die Gruppe LIGNA werden Phänomene der „Trennung der Stimme vom Körper im medialen Raum und ihre dadurch ausgelöste unkontrollierbare Wirkungsmacht“ (S. 188) analysiert. In Ihren Beispielen wird deutlich, dass bei den Teilnehmenden „Wahrnehmungsbrüche“ (S. 192) entstehen und diese durch das sinnliche Multitasking (gehen, sehen, hören, schreiben gleichzeitig) „restlos überfordert“ (S. 193) werden. So kommt die Autorin zu dem Schluss, dass „radiophone Werke (…) als kulturelle Handlungsfelder Anregungen zur Erfindung individueller und kollaborativer Formen sprachlichen Ausdrucks, kommunikativer Begegnung und unvorhersehbarer Interaktion in sozialen, öffentlichen und medialen Räumen (geben)“ (S. 196).
Kristin Westphal beleuchtet in ihrem Artikel „Eine Grenzerfahrung am Beispiel LIGNA: Oedipus der Tyrann“ „die pathische und responsive Seite einer Theatersituation bzw. Theatererfahrung aus der Perspektive des Zuschauers.“ (S. 201). Dabei wird sie von der Frage geleitet, „wie Erfahrungen in künstlerischen Ereignissen als (Selbst-)Bildungsereignisse organisiert und strukturiert sind“ (S. 201-202). Der Zuschauer erlebt Grenzsituationen, zu denen er sich verhalten muss. In dem Wechselspiel zwischen „Verantwortung, Einlassung und Distanznahme entsteht (…) ein Möglichkeitsraum“ für ihn (S. 211), der u.a. dazu auffordern, „‚Befreiungsphantasien zu entwickeln‘“ (S. 213).
Diskussion und Fazit
Die vielfältigen Themen im vorliegenden Sammelband geben einen Eindruck über die aktuelle Forschungslandschaft in dem Bereich. Kleinster gemeinsamer Nenner ist die Frage nach bildungsrelevanten Momenten im gelebten Leben, die in Mikroprozessen der verschiedenen Mensch-Raum-Interkationen gesucht werden. Dass sich dabei sehr unterschiedliche Räume auftun – teilweise gleichzeitig – ist unbestritten. Die Grenzen zwischen klassischer Phänomenologie und Poststrukturalismus oder Konstruktivismus sind dabei fließend. Teilweise ist der Wissenschaftsjargon derart elaboriert bzw. intellektualistisch, dass es schon fast ans Esoterische grenzt in dem Sinne, dass ihn nur noch Eingeweihte verstehen können. Insofern sei die Frage erlaubt, ob der Band einem Selbstverständigungsprozess dient oder ob er Menschen im pädagogischen Feld erreichen möchte.
Rezension von
Prof.Dr. Charlotte Uzarewicz
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