David Harvey: Siebzehn Widersprüche und das Ende des Kapitalismus
Rezensiert von Prof. Dr. Georg Auernheimer, 14.08.2015

David Harvey: Siebzehn Widersprüche und das Ende des Kapitalismus. Ullstein Verlag (München) 2015. 384 Seiten. ISBN 978-3-550-08089-0. 22,00 EUR.
Thema
Widersprüche werden hier nicht im Sinne der Logik, sondern gemäß marxistischer Tradition als Friktionen oder Gegensätze verstanden, die der Funktionalität des Systems immanent sind und sich teilweise mit seiner Entwicklung verschärfen (Einleitung, 21). Den Kapitalismus möchte Harvey in Analogie zu biologischen Untersuchungsmethoden als ein „geschlossenes System“ analysieren (25). Im „Epilog“ spricht er sogar von einer Art „Röntgenaufnahme“. Er maßt sich übrigens keineswegs an, das Ende des Kapitalismus zu prophezeien, wie der Titel nahelegt. Er zeigt im letzten Teil lediglich Widersprüche auf, die vor allem in ihrem Zusammenwirken für das Kapital bedrohlich werden könnten. Dabei traut er dem Kapital eine große Fähigkeit der Krisenbewältigung zu (303, 308).
Autor
Harvey ist ein Sozialgeograph britischer Herkunft, der in England (Oxford, London) und in den USA (Baltimore, New York) gelehrt hat bzw. noch lehrt. 1973 wurde er mit dem Werk „Social Justice and the City“ zu einem der seltenen Vertreter des Marxismus in der Geographie. Innerhalb des Marxismus hat er sich mit der These profiliert, nicht nur in der Vorbereitungsperiode des Kapitalismus habe „ursprüngliche Akkumulation“ stattgefunden. Vielmehr lebe das System permanent nicht nur von der Ausbeutung der Arbeitskraft innerhalb der Produktion, sondern von „Akkumulation durch Enteignung“.
Aufbau
Nach einem „Prolog“, in dem Verf. an die jüngsten Krisenerfahrungen anknüpft, und der Einleitung, in der er den Widerspruchsbegriff verdeutlicht und seine Methode erläutert, werden die siebzehn Widersprüche untersucht, wobei Harvey „Grundwidersprüche“, „Bewegliche Widersprüche“ und „Gefährliche Widersprüche“ unterscheidet, was die Gliederung des Buches vorgibt.
Als „Grundwidersprüche“ werden in Teil eins behandelt: Gebrauchswert und Tauschwert – der gesellschaftliche Wert der Arbeit und seine Repräsentation durch Geld – Privateigentum und kapitalistischer Staat – private Aneignung und gemeinsamer Reichtum – Kapital und Arbeit – Kapital als Prozess oder Ding? – Produktion und Realisierung des Werts.
Als „Bewegliche Widersprüche“ in Teil zwei, ebenfalls sieben, betrachtet H.: Technologie, Arbeit und menschliche Verfügbarkeit – Arbeitsteilung – Monopol und Wettbewerb – geographische Ungleichheit – soziale Ungleichheit – gesellschaftliche Reproduktion – Freiheit und Herrschaft.
„Gefährliche Widersprüche“ werden in Teil drei unter folgenden Stichworten behandelt: exponentielles Wachstum – Kapital und Natur – die Revolte der menschlichen Natur: universelle Entfremdung.
Im „Schluss“ plädiert H. für einen „revolutionären Humanismus“, wobei er unter Berufung auf Frantz Fanon bei extremer struktureller Gewalt gewaltförmigen Widerstand nicht ausschließt. In einem „Epilog“ formuliert er unter dem Titel „Ideen für die politische Praxis“ siebzehn Forderungen, von denen er hofft, „dass sie unsere politische Praxis beflügeln können“ (343).
Ausgewählte Inhalte
Es wäre ein aussichtsloses Unterfangen, den Inhalt des Buches referieren zu wollen. Im Folgenden sollen nur exemplarisch einige Argumentationslinien nachgezeichnet werden. Den Widerspruch zwischen Gebrauchswert und Tauschwert, bei ihm eigentlich Marktwert, versucht H. am Wohnungsmarkt aufzuzeigen, der von der Spekulation bestimmt ist – ein dem Sozialgeographen vertrautes Thema. Problematisiert wird die Funktion des Geldes zur Repräsentation des Wertes, d.h. des Ergebnisses gesellschaftlicher Arbeit. Da die Möglichkeit endloser Geldschöpfung eine unglaubliche Machtsteigerung impliziert (49), versteigt sich H., angeregt durch Silvio Gesell, zu dem Plädoyer für eine Geldform, die Geld zur Akkumulation untauglich macht („Oxidationsplan“). H. identifiziert drei Strategien der privaten Aneignung des durch gesellschaftliche Arbeit geschaffenen Reichtums: erstens illegale Praktiken, zweitens die Kommodifizierung aller potentiellen Gebrauchswerte, so dass alles sein Branding erhält und seinen Preis kostet, drittens die Mehrwertabschöpfung in der Produktionssphäre. Diese genuin marxistische Perspektive relativiert H. auch da, wo er auf diesen Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital eingeht. Denn zusätzlich werde der Arbeiter z.B. durch überteuertes Wohnen geschröpft (90). Ein großer immanenter Widerspruch ergibt sich nach H. aus der Notwendigkeit der Realisierung des Mehrwerts auf den Märkten. – Stichwort Überproduktionskrisen. Das Kapital muss ständig bestrebt sein, „Zirkulationsbarrieren zu überwinden und die Umschlagszeit zu verkürzen“ (99). Daraus leitet sich für H. unter anderem die Macht des Zwischenhandels ab.
Zu den „beweglichen Widersprüchen“ gehören die Folgen des Zwangs zur ständigen technologischen Innovation und „schöpferischen Zerstörung“ (Schumpeter). Denn die fortgesetzte Automatisierung reduziert lebendige Arbeit, die Quelle der Wertschöpfung, aber auch die Massenkaufkraft aufgrund von Lohndumping und Erwerbslosigkeit. H. prognostiziert eine weitere Finanzialisierung der Wirtschaft hin zur Autonomie der Geldform. Und was wird mit der überzähligen Weltbevölkerung, so seine Frage (136f.). Ganz in seinem Element ist H. bei Widerspruch 11 „Geographische Ungleichheit“. Hier geht es nicht nur um ungleiche Terms of Trade. „Das Kapital strebt danach, eine Landschaft zu produzieren, die für seine eigene Produktion günstig ist“ (174). Kapital und Staat drücken den Räumen ihren Stempel auf (175). Regionen werden verwertungstauglich gemacht und bei De-industrialisierung als Brache zurückgelassen (181). Der zweite Gesichtspunkt ist die „Vernichtung des Raumes durch die Zeit“ (175) und die (nicht erst) mit der Globalisierung verschärfte räumliche Konkurrenz (176, 190). Hier kommt auch die Rolle der Staatsmacht ins Spiel. In dem Kapitel über gesellschaftliche Reproduktion, d.h. die Reproduktion der Arbeitskraft, werden Humankapital, kostenlose Hausarbeit und Tendenzen zur Kommodifizierung von Kindererziehung, Pflege und Elementen der Hausarbeit zum Thema gemacht. H. verweist auf „eine Reihe geographisch und historisch geprägter kultureller Formen und Praktiken“ der Reproduktion (229).
Häufige Referenzen im Text sind, was bisher nicht deutlich wurde: André Gorz, Karl Polanyi, Terry Eagleton, Frantz Fanon, aber auch Michel Foucault. Beim Kapitel über Entfremdung lehnt sich H. eng an die Arbeiten von André Gorz an.
Diskussion
Von vielen Publikationen marxistischer Provenienz hebt sich die vorliegende positiv ab durch die sparsame Verwendung von Zitaten. Der Verf. holt sich selten bei den marxistischen Klassikern Beistand, wenn dann übrigens nur bei Marx. Auch lebt die Argumentation nicht von der Auseinandersetzung mit anderen Arbeiten „linker“ Provenienz. Schätzenswert mag manchen erscheinen, dass H. bei aller Systemkritik und ungeachtet der teilweise apokalyptischen Perspektiven die historischen Leistungen des Kapitalismus anerkennt, damit ganz in der Tradition des Kommunistischen Manifests. Vielen Ausführungen ist der US-amerikanische Erfahrungshintergrund anzumerken, daneben selbstverständlich der fachspezifische Beobachterstandpunkt.
Rätselhaft bleibt für den Rezensenten die Unterscheidung zwischen Kapitalismus und Kapital (27). Den Tauschwert, einen Elementarbegriff marxistischer Theorie, bestimmt H., vorsichtig formuliert, unorthodox. Erstaunlich erscheint, dass der Geograph H. bei der Frage der individuellen Reproduktion die Einsparung von Reproduktionskosten (für Bildung etc.) durch Einwanderung unbeachtet lässt. Das gilt auch für die Bedeutsamkeit vorkapitalistischer Randzonen für das Zentrum (Rosa Luxemburg). Das mag man noch als Marginalien abtun. Problematischer erscheint, welch hohen Stellenwert die Klasse der Rentiers in der Ökonomie der Enteignung von H. einnimmt. Gemeint sind unproduktive Mitglieder der Gesellschaft, die sich außerhalb der Produktion Mehrwert aneignen, traditionell Grund- und Immobilienbesitzer. Aber heute ist diese Klasse äußerst vielfältig. Die starke Gewichtung dieses Aspekts (im Text 100f., 275, 284, 304) begünstigt eine nicht unproblematische Systemanalyse, auch mit entsprechenden Folgen für die politische Praxis (aufschlussreich hierzu der Seitenhieb auf die Linke, 91).
Fazit
Zweifellos ein äußerst anregendes Buch, besonders lesenswert für alle, denen Zweifel am System gekommen sind. Die einzelnen Widerspruchsanalysen sind unterschiedlich stringent und überzeugend.
Rezension von
Prof. Dr. Georg Auernheimer
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Zitiervorschlag
Georg Auernheimer. Rezension vom 14.08.2015 zu:
David Harvey: Siebzehn Widersprüche und das Ende des Kapitalismus. Ullstein Verlag
(München) 2015.
ISBN 978-3-550-08089-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19227.php, Datum des Zugriffs 05.06.2023.
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