Peter Kauder, Peter Vogel (Hrsg.): Lehrbücher der Erziehungswissenschaft - ein Spiegel der Disziplin?
Rezensiert von Dr. Marion Aicher-Jakob, 09.05.2016

Peter Kauder, Peter Vogel (Hrsg.): Lehrbücher der Erziehungswissenschaft - ein Spiegel der Disziplin? Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2015. 164 Seiten. ISBN 978-3-7815-2038-7. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 40,90 sFr.
Thema
Die Publikation „Lehrbücher der Erziehungswissenschaft – ein Spiegel der Disziplin? Beiträge zur Theorie und Geschichte der Erziehungswissenschaft“ nimmt erziehungswissenschaftliche Lehrbücher aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick. Sie setzt sich zum Ziel, das Wissen über Lehrbücher zu vertiefen, denn der Terminus „Lehrbuch“ ist nicht festgelegt bzw. nicht eindeutig (S. 7). Kauder und Vogel, stellen in einer der Publikation angehängten Dokumentation 13 Artikel zum Stichwort „Lehrbuch“ chronologisch dar. Sie stellen hierbei fest, was unter einem Lehrbuch zu verstehen sei, variiert erheblich von Autor zu Autor. Dieser Unschärfe nehmen sich die insgesamt 13 Autorinnen und Autoren an und blicken aus unterschiedlichen Perspektiven auf erziehungswissenschaftliche Lehrbücher.
Herausgeber
Beide Autoren, Dr. Peter Kauder und Prof. Dr. Peter Vogel lehren am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft und Berufspädagogik der Technischen Universität Dortmund.
Entstehungshintergrund
Der vorliegende Band entstand im Kontext einer Tagung der Kommission Wissenschaftsforschung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft.
Aufbau
Nach einer einleitenden Problematisierung durch die Herausgeber Peter Kauder und Peter Vogel stellen die Autorinnen und Autoren des Bandes in ihren Beiträgen erziehungswissenschaftliche „Lehrbücher“ ins Zentrum ihrer Betrachtungsweisen. Die unterschiedlichen Perspektiven und Blickrichtungen zeigen die Notwendigkeit, sich aus der erziehungswissenschaftlichen Wissenschaftsforschung heraus, der Thematik anzunehmen.
Inhalt
Peter Kauder und Peter Vogel sichten 13 erziehungs-, buch- und bibliothekswissenschaftliche Lexika und Handbücher zum Stichwort „Lehrbuch“. Ihre Erkenntnisse dienen als Einleitung und problematisieren gleichermaßen die Thematik „Lehrbücher der Erziehungswissenschaft – ein Spiegel der Disziplin?“. Als Minimalkonsens zur Schärfung des Begriffs „Lehrbücher“ rekonstruieren sie anhand ihrer Durchsicht fünf Kriterien. Überraschend für die Autoren war hierbei, dass dieser minimalkriterielle Konsens gerade einmal bei etwas mehr als der Hälfte der Lexikonartikel zu finden war. Hierzu zählen folgende Kriterien:
- die Adressatenorientierung, Lehrbücher richten sich in der Regel an Studierende,
- die didaktische Aufbereitung des Stoffes,
- die Wiedergabe des aktuellen Forschungsstandes,
- die systematische Darstellung dessen,
- die didaktische und systematische Aufbereitung des Stoffes für ein Selbststudium.
Die Autoren zeigen, dass die gemeinsam geteilte Wissensbasis zur Thematik schmal ist (S. 9). Sie stellen weitgehende Ratlosigkeit über den Gegenstand fest und verweisen darauf, dass repräsentative Standards für das, was als „Lehrbuch“ bezeichnet wird, fehlen. Ihre Kritik zielt auch in Richtung der konsensuellen Kriterien, da diese bisweilen großen Interpretationsspielraum mit sich bringen. Bedenkenswert an der Analyse war für die Herausgeber abschließend, dass die gesichteten Beiträge auf einen Erkenntnisstand rekurrieren, der mehrere Jahrzehnte zurückzuliegen scheint.
Ausgehend von den einleitenden Ausführungen der Herausgeber, nehmen sich im weiteren Verlauf die Autorinnen und Autoren in ihren Beiträgen, unterschiedlichen Fragestellungen zur übergeordneten Problematik an:
Ulrich Papenkort zeigt in seinem Beitrag „Darstellungen der Pädagogik. Bibliographie deutschsprachiger Lehr-, Hand- und Wörterbücher 1945 bis 2012“ die breite Streuung wissenschaftlicher Literatur. Papenkort betont, dass die Publikationen im Wissenschaftsbetrieb ihre je spezifische Funktion erfüllen. Mit Bezug auf Ludwik Fleck bzw. Wolfgang Krohn und Günter Küppers stellt Papenkort wissenschaftliche Publikations- und Kommunikationsformen dar und erweitert deren Systematik um zwei weitere wissenschaftliche Publikationsformen, nämlich um die „Fachbücher“ und die „Theoriebücher“. Die Bibliographie umfasst drei Gattungen wissenschaftlicher Schriften: Lehrbücher, Handbücher und Wörterbücher.
Simone Austermann stellt in ihrem Beitrag „Die ‚Allgemeine Revision‘- Das erste Lehrbuch der Erziehungswissenschaft?!“ zunächst die Frage, wie aus dem Kontext der Aufklärungspädagogik ein Beitrag zur Thematik „Lehrbücher der Erziehungswissenschaft“ begründet werden kann, denn ein Buch dieser Epoche kann weder die Inhalte der Fachdisziplin, noch ein wissenschaftliches Weltbild von Studierenden der Erziehungswissenschaft abbilden (S. 33). Austermann verweist aber darauf, dass die Betrachtung der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Erziehungswissenschaft, ihr Bestehen bereits vor ihrem Einzug an die Universität offenbart. Mit der „Allgemeinen Revision“ schufen die Mitglieder der „Gesellschaft praktischer Erzieher“ ein Werk, das zentrale Erkenntnisse für Erziehende und an Erziehung Interessierte sammelt und aufbereitet (S. 34). Die „Allgemeine Revision“ wird als Frühform eines Lehrbuches dargestellt und in historischen und systematischen Begründungszusammenhang gestellt.
Henrik Hilbig und Katharina Schumann beziehen sich in ihrem Beitrag „Die Rolle von Lehrbüchern in Ludwik Flecks Lehre von Denkstil und Denkkollektiv“ zentral auf Flecks Gedanken zur Entstehung so genannter wissenschaftlicher Fakten und schließen hierin systematisch an Papenkort an. Ausgehend von Flecks Feststellung, dass so genannte wissenschaftliche Tatsachen nicht als überdauernde Wahrheiten begriffen werden können, richten Denkkollektive und von deren Mitgliedern geteilte Orientierungsrahmen, Begrifflichkeiten, Fähigkeiten und Fertigkeiten das Denken und die Wahrheiten aus (S. 44). Hilbig und Schumann konkretisieren in diesem Kontext den Gedanken an Denkstilgebundenheit bei Fleck hinsichtlich von Lehr- und Handbüchern. Die Autoren arbeiten heraus, inwiefern Flecks Soziologie des Wissens hilft, die Denkstilgebundenheit von Wissensformen aufzudecken und ermutigen, dass auch noch so autoritär auftretendes Wissen immer wieder hinterfragt werden muss.
Peter Kauders Beitrag „Die historische und systematische Unwissenschaftlichkeit von naturwissenschaftlichen Lehrbüchern im Spiegel von Thomas S. Kuhns Lehrbuchkritik der 1960er-Jahre“ steht im unmittelbaren Zusammenhang zu den Beiträgen von Papenkort und Hilbig und Schumann. Flecks Gedanken wurden in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts von Thomas Kuhn aufgegriffen. In einem ersten Schritt setzt sich Kauder mit Kuhns Befunden zu naturwissenschaftlichen Lehrbüchern auseinander und arbeitet zehn, meist kritisch gemeinte, Charakteristika heraus. In einem zweiten Schritt wirft Kauder einen interpretierenden Blick auf Kuhns Befunde und stellt fest, dass Kuhn den naturwissenschaftlichen Lehrbüchern Unwissenschaftlichkeit vorwirft (S. 57). Abschließend bilanziert Kauder Kuhns Lehrbuchkritik und verfolgt die Frage, inwiefern Kuhns Charakteristika für Lehrbücher der Naturwissenschaft hilfreich für die Erziehungswissenschaft und deren Lehrbücher sein können. Kauder legt in seinen Ausführungen dar, wie man mit Kuhns Lehrbuchkritik auf zu bearbeitende Aspekte bei Lehrbüchern aufmerksam werden kann.
Martin Rothland befasst sich in seinem Beitrag „Der ‚Ort der Allgemeinen Didaktik‘ in schulpädagogischen Studien- und Lehrbüchern. Disziplinäre Bestimmungen zwischen Willkür und Pragmatismus, Theorie und Praxis“ mit der Relevanz der Thematik für die Teildisziplin der Schulpädagogik. Rothland stellt eingangs die Frage nach den disziplinären Bestimmungen der Allgemeinen Didaktik in Studien- und Lehrbüchern und problematisiert die heterogene, widersprüchliche disziplinäre Verortung der Allgemeinen Didaktik im Verhältnis zur Erziehungswissenschaft. In einem zweiten Schritt geht Rothland der Frage nach, ob die Allgemeine Didaktik als Wissenschaft von der Praxis für die Praxis bezeichnet werden kann und kritisiert die Illusion, eine unmittelbare Praxisrelevanz aufrechtzuerhalten (S. 71). Hieraus entstünde der Eindruck, dass in der Lehre, vermittelt über Kompendien, die wissenschaftliche Disziplin gleichermaßen praktisch werde. Im Spiegel der Lehrbücher zeichnet Rothland ein problematisches Selbstbild der Allgemeinen Didaktik.
Sigrid Nolda ergänzt die Publikation um die Perspektive aus der Erwachsenenbildung. Sie zeigt in ihrem Beitrag „Entwicklungsphasen und Qualitätskriterien von Einführungen in die Erwachsenenbildung“ die Entstehung und den Wandel von Lehrwerken im Zuge der Verwissenschaftlichung und Akademisierung der Erwachsenenbildung auf. Hierbei nimmt sie die Entwicklungsphasen von Einführungen in die Erwachsenenbildung in den Blick, zeichnet diese seit den 1950er-Jahren systematisch und chronologisch nach und kennzeichnet drei Phasen. Die erste Phase, 1957-1979, etabliere und legitimiere die Erwachsenenbildung, die zweite Phase, 1988-2005, sei gekennzeichnet von der Gewinnung von Positionen im Feld der Erwachsenenbildung und schließlich vermittle die dritte Phase, 2008 bis heute, etabliertes Wissen über das Feld der Erwachsenenbildung.
Nicole Hoffmanns Beitrag nimmt gleichfalls die Perspektive der Erwachsenenbildung in den Blick. Ihr Beitrag „‚Was zählt ist das Preis-Leistungs-Verhältnis‘? Ein explorierender Blick auf Einführungsliteratur der Erwachsenen- und Weiterbildung im Spiegel studentischer Wahrnehmung“ ist als Evaluationsbericht zu Einführungen in die Erwachsenenbildung angelegt. Hoffmann geht in ihrem Beitrag der Frage nach, inwiefern Lehrbücher als „Rückgrat einer Disziplin mit identitätsverbürgender Funktion“ (S. 91) aus Sicht der Rezipienten wahrgenommen werden. Hierbei verfolgt Hoffmann in ihrer Studie drei Fragen: Wann und weshalb Einführungen gelesen und gekauft werden und was von einer guten Einführung erwartet wird. Es wird ersichtlich, dass Einführungen häufig an den Erwartungen ihrer Adressaten vorbeisteuern und die Erziehungswissenschaft noch zu wenig über ihre Rezipienten weiß.
Friedrich Rost gibt in seinem Beitrag „‚Erziehungswissenschaft. Ein Grundkurs‘ aus der Sicht von Experten und Studierenden. Ein Erfahrungsbericht in Sachen Evaluation erziehungswissenschaftlicher Lehrtexte“ Einblicke über sein Wirken als Mitherausgeber eines Lehrbuches und berichtet von den Erfahrungen, die er in diesem Kontext mit Autoren und Studierenden machte. Rost zeigt, mit welchen Herausforderungen die Herausgeberschaft einer Publikation konfrontiert ist und resümiert darauf aufbauend, welche Konsequenzen sich daraus auf die Konzeption von Lehrbüchern ergeben.
Klaus Stiller und Ludwig Kreuzpointner erweitern die Publikation um die psychologische Perspektive. In ihrem Beitrag „Zimbardo und Co – Die Rolle von Lehrbüchern in der Psychologie“ korrigieren sie den Eindruck, in anderen Wissenschaftsdisziplinen erarbeiten Studierende ein bestimmtes Lehrwerk, das allgemein in die Disziplin einführt. Stiller und Kreuzpointner machen deutlich, dass es in der Psychologie neben der Einführungs- und Überblicksliteratur für jedes Feld eine eigene Lehrbuchkultur gibt. Als Lehrbücher zur Einführung in die Psychologie stellen die Autoren acht Lehrbücher vor und erarbeiten vergleichend Informationen zu den Autoren, Inhalten, Zielgruppen, Lehrzielen und zur Nutzbarkeit. Anschließend wird die Rolle von Lehrbüchern beleuchtet, die zum einen in einer Selbstdarstellung der „Psychologie“, einer Art psychologischer Identität (S. 121) liegt, andererseits aber auch „Tore“ zur Psychologie darstellen, an denen Studierende der Disziplin kaum vorbeisteuern können. Die Ergebnisse einer Online-Befragung von Stiller und Kreuzpointner zur Rolle der Lehrbücher stimmt kritisch und regt zur Reflexion an.
Andreas Kemkas Beitrag „Lehrbücher der Pädagogik. Exemplarische Möglichkeiten der bibliometrischen Analyse“ geht der Frage nach, welche Aussagen bibliometrische Daten, die aus Lehrwerken gewonnen werden, über die in den Lehrbüchern dargestellte Diziplin zulassen. Kemka gibt Einblicke in erste bibliometriegestützte und quantitativ orientierte Analyseergebnisse von 16 Lehrbüchern der Erziehungswissenschaft. Die von ihm ausgewählten Lehrwerke wurden zwischen 1997 und 2014 neu aufgelegt. Kemka gibt zunächst einen Überblick über die Definitionsmerkmale von Lehrbüchern und expliziert im Anschluss daran die Bibliometrie als Methode zur Exploration der Struktur des Faches. Kemka zeigt anhand der Befunde das Potenzial bibliometrischer Analysen auf.
Peter Vogel beschließt mit seinem Beitrag „Die Rolle der Lehrbücher innerhalb der ‚Lehrgestalt‘ der Erziehungswissenschaft – eine Problemskizze“ bilanzierend die Publikation. Seine Ausführungen machen deutlich, wie relevant die bislang verwaiste Thematik für die Erziehungswissenschaft per se ist. Der Begriff „Lehrgestalt“ bezieht sich auf das „Lehr-Setting“ von Studien- und Prüfungsordnungen, Lehrbüchern, Lehrveranstaltungen, Prüfungsformen und Studienverhalten (S. 139). Seine Ausführungen verweisen aber auch darauf, dass die Bemühungen um die Lehrbücher der Erziehungswissenschaft allenfalls als Anfangsbemühungen gewertet werden können. Lehrbücher, so Vogels These, fungieren immer als Spiegel einer Disziplin. Hiermit meint er sowohl Spiegel ihres Zustandes als auch ihres Selbstverständnisses.
Diskussion und Fazit
Die Publikation bietet einen gewinnbringenden Einblick in eine vernachlässigte Fragestellung. Die unterschiedlichen Perspektiven auf den Untersuchungsgegenstand „Lehrbücher“ weiten den Blick und sensibilisieren für die Unschärfe eines bislang als einheitlich anmutenden Terminus „Lehrbuch“. Der Herausgeberband weckt das Interesse, sich näher mit der Thematik zu vertiefen.
Eine äußerst gelungene Abhandlung, die durch die Darbietungen aus den unterschiedlichen Blickrichtungen, die Vielschichtigkeit der Thematik abbildet und die Leserin und den Leser einlädt, sich näher und kritisch mit der Fragestellung zu beschäftigen.
Rezension von
Dr. Marion Aicher-Jakob
Dipl.-Päd., Akad. Oberrätin an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg
stellvertretende Leitung des Schulpraxisamts
Institut für Erziehungswissenschaft
Pädagogik und Didaktik des Elementar- und Primarbereichs
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