Michael Richter: Fluchtpunkt Europa
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 27.10.2015
Michael Richter: Fluchtpunkt Europa. Unsere humanitäre Verantwortung. Edition Körber (Hamburg) 2015. 250 Seiten. ISBN 978-3-89684-172-8. D: 16,00 EUR, A: 16,50 EUR, CH: 23,50 sFr.
Ist Universalität eine europäische Vision?
Das Europäische Parlament in Straßburg veranstaltete vom 21. – 22. November 1991 ein internationales Kolloquium zum Thema „Weltkultur und Europa – ein Dialog der Zivilisationen“. Der damalige Präsident des Europäischen Parlaments, der spanische Europaabgeordnete Enrique Barón Crespo, gab eine Antwort und Ermutigung: „Weil jeder einzelne von uns tagtäglich die Verantwortung für die Zukunft der gesamten Menschheit trägt“ (UNESCO-Kurier 7/8-1992, S. 5). Im Entwurf einer „Verfassung für Europa“, die am 20. Juni 2003 vom Europäischen Konvent dem Europäischen Rat vorgelegt und bis heute nicht zustande gekommen ist, wird in der Präambel darauf hingewiesen, „dass der Kontinent Europa ein Träger der Zivilisation ist und dass seine Bewohner, die ihn seit den Anfängen der Menschheit in immer neuen Schüben besiedelt haben, im Laufe der Jahrhunderte die Werte entwickelt haben, die den Humanismus begründen: Gleichheit der Menschen, Freiheit, Geltung der Vernunft“. Daran sollte erinnert werden, angesichts der globalen Situation, dass derzeit mehr als 20 Millionen Flüchtlinge ihre Heimat verlassen haben und in Richtung Europa unterwegs sind; dazu noch mehr als 38 Millionen Binnenvertriebene und fast zwei Millionen Asylsuchende. Sie kommen von Orten, die durch Kriege, Staatszerfall, Umweltkatastrophen, undemokratischenund ideologischen Machtverhältnissen gekennzeichnet sind: Aus Afghanistan, Somalia, Eritrea, Mauretanien, den Sahelländern, Syrien, Irak… Über die Gründe und Schicksale von Flüchtlingen, die von organisierten Schleuser-Organisationen über das Mittelmeer nach Europa gebracht werden, gibt es zahlreiche Berichte und Dokumentationen. Der 1944 in Marokko geborene, seit 1971 in Frankreich lebende Schriftsteller Tahar Ben Jelloun schildert in seinem Roman „Verlassen“ die Motive und Erlebnisse von meist jungen Menschen, die sich mit der Hoffnungs- und Zukunftslosigkeit ihres Lebens in ihrer Heimat nicht zufrieden geben wollen und sich unter Lebensgefahr auf den Weg hin ins vermeintliche „Paradies Europa“ machen (Tahar Ben Jelloun, Verlassen. Roman, 2006, www.socialnet.de/rezensionen/4393.php). Der Chefredakteur der Wochenzeitung DIE ZEIT, Giovanni di Lorenzo, fragt zur aktuellen Flüchtlingssituation: „Zu viel des Guten?“ und mahnt, dass „wir das Reden über die Schwierigkeiten der Zuwanderung nicht Populisten und Hetzern überlassen dürfen“. In einer mehrseitigen Dokumentation reden die Journalisten nicht über die Asylbewerber und Flüchtlinge, sondern mit ihnen. Dabei kommen bemerkenswerte Aussagen zustande, die sich fokussieren lassen in der Formel: „Der Fremde, der Flüchtling bin ich selbst!“. Denn erst, wenn es gelingt, den Anderen, Hilfe- und Asylsuchenden in seiner Menschenwürde, die meine ist zu akzeptieren, kann Integration und Heimatverbundenheit gelingen.
Autor und Entstehungshintergrund
Der Politologe, Regisseur und Dokumentarfilmer Michael Richter hat in mehreren Radio- und Fernsehbeiträgen über Fluchtursachen und -situationen von Menschen berichtet, die sich von Afrika und Asien aus auf den lebensgefährlichen Weg machen, um über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Ihre Motive – Krieg, Verfolgung, Hunger – zeigt er in seinem Buch „Fluchtpunkt Europa“ an konkreten Beispielen und mit politischen Analysen auf. Er verweist darauf, dass sich aufgrund der „explosionsartig steigenden Flüchtlingszahlen der vergangenen Jahre…, dass auch Europa sich den Konflikten von Afghanistan bis Mauretanien, dem Zerfall der Staaten von Irak bis Somalia, den Nöten der Menschen südlich der Sahara bis nach Pakistan nicht mehr entziehen kann“. Es sind nicht Fingerzeige oder fatalistische Statements, sondern erlebte und empathische Informationen, die das Buch zu einem Diskussions- und Argumentationsmittel gegen Kakofonie, Bedenkenträgereien, Ethno- und Egozentrismen, fremdenfeindlichen und rassistischen Aktionismen macht.
Aufbau und Inhalt
Mit den Überschriften der einzelnen Kapitel markiert der Autor seine Berichterstattung:
„Nachbarn“, wenn es darum geht, die Herausforderungen darzustellen, wie sie sich etwa in Libanon ergeben, als in den letzten drei Jahren mehr als 1,2 Millionen Flüchtlinge aus Syrien in das Land kamen, das selbst nur etwa 4,5 Millionen Einwohner hat. Es sind die unzureichenden Lebensbedingungen in den Flüchtlingslagern und Zeltstädten, die nur unzureichend vom Staat und der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR bewältigt werden können. Für die Flüchtlinge mutet es wie ein Lottogewinn an, wenn die Wenigen, die offiziell die Erlaubnis erhalten, mit dem Flugzeug nach Deutschland einreisen und hier den langwierigen und langdauernden Prozess des Asylantrags begehen; deshalb machen sich viele andere auf den gefährlichen Weg übers Meer.
Oder mit der Überschrift „Tunesien“ die Schilderung der Situation, wie sie im wenige Kilometer von der libyisch-tunesischen Grenze, mitten in der Wüste gelegenen Flüchtlingslager Choucha, in dem, vertraglich mit europäischen Ländern vereinbart, Flüchtlinge erst einmal „geparkt“ werden, die auf den bekannten „Routen“, so die Überschrift im dritten Kapitel, von den nordafrikanischen Häfen in Richtung Italien und Spanien aufbrechen.
Es ist der „kalkulierte Zynismus“ der europäischen Länder, die Menschen zu dem nicht selten Unternehmen „Left to die“ veranlassen, sehenden (Radar-)Auges, wie der Autor von Vertretern der kleinen, humanen Hilfsorganisation „Watch the Med(iterranean)“ erfährt. Mit der Überschrift „Schmuggler“ setzt sich Richter im vierten Kapitel damit auseinander, dass „ohne Schlepper, Schleuser oder ‚Menschenschmuggler‘ ( ) Hunderttausende Flüchtlinge nicht an ihr Ziel, nach Europa, kommen (würden)“. Es sind die scheinbar pragmatischen Rechtsregelungen der Anlande-Länder wie z. B. Italien, die Grenzübertritte von Flüchtlingen mit dem Bossi-Fini-Gesetz wegen irregulärer Einreise ahndet; humanitäre Fluchthelfer und -retter, wie etwa Mitglieder der Organisation „Cap Anamur“ im übrigen in gleicher Weise wie professionelle und kriminalisierte Schleuser.
Als „Push-Back“ (5. Kapitel) wird die gängige, völkerrechtswidrige Praxis von europäischen Ländern bezeichnet, Flüchtlinge am Grenzübertritt zu hindern und sie gewaltsam zurück zu drängen. Der Autor dokumentiert mehrere Fälle dieser „Push-Back“- Praxis, die u. a. beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verhandelt und entschieden wurden.
Mit „Frontex“ (Kap.6) wurde von der Europäischen Union als Ergebnis des Schengen-Abkommens von 1995 eine Einrichtung geschaffen, die die europäischen Grenzen von Westafrika bis Osteuropa überwachen und Grenzübertritte verhindern soll. Als Beispiel schildert der Autor die Zielsetzungen, Strukturen und Arbeitsweisen der Operation „Indalo“, die vom Hauptquartier der Guardia Civil in Madrid aus gesteuert wird. Judith Sunderland von Human Right Watch bezeichnet Frotex als „Euroopas schmutzige Hände“, und Stefan Kessler vom Jesuit Refugee Service in Brüssel nennt die Frontex-Praxis „organisierte Verantwortungslosigkeit“. Als „Grenzfälle“ beschreibt Richter im siebten Kapitel Situationen, wie sie von der italienischen Organisation „Mare Nostrum“ durchgeführt wurden, um Flüchtlinge aus Seenot zu retten. Er diskutiert die Gründe, die zur Einstellung der Aktion Ende Oktober 2014 geführt und zur Einrichtung der neuen Initiative „Triton“ im Rahmen der Grenzschutzagentur Frontex geführt haben; ebenso das Vorhaben, das als „Khartoum-Prozess“ bezeichnet wird, dass nämlich Staaten wie Sudan oder Eritrea finanzielle Mittel von den EU-Staaten erhalten, „um Flüchtlinge schon tief in Afrika von einer Flucht abzuhalten“. Der Autor kritisiert dabei, „dass es ein politischer Skandal ist, wenn EU-Emissäre mit Vertretern von Diktaturen wie dem Sudan oder Eritrea über eine Bekämpfung der Flüchtlingsströme verhandeln“, und zwar weitgehend als polizeiliche und militärische Lösungen, und mit dem Ziel, nicht etwa für eine gerechtere Welt(wirtschaft-)Ordnung einzutreten, sondern zum Beispiel auch mit dem neuen Konzept „Eurosur“ ein noch effektiveres, satellitengesteuertes Abschreckungs- und Überwachungssystem an den europäischen Grenzen zu etablieren.
Mit dem bewusst gesetzten Ausrufe- und Fragezeichen „Asyl! Asyl?“ thematisiert der Autor im achten Kapitel das Menschenrecht, wie es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte eindeutig und ohne Wenn und Aber formuliert ist: „Jedermann hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen“. Dieses Recht, in allen demokratischen Staaten als Verfassungsrecht postuliert, wird jedoch nach dem Dubliner Übereinkommen dadurch relativiert, „dass der Asylsuchende in dem Land, in dem er zum ersten Mal europäischen Boden betritt, seinen Antrag stellt und dort auch bleiben muss, solange sein Asylverfahren läuft“. Deshalb ist es bisher für die Staaten, die keine „Grenzstaaten“ im Sinne der Vereinbarung sind, wie etwa auch Deutschland, ein leichtes, Asylanträge abzulehnen; was in der Praxis auch geschieht: „Jeder fünfte in Deutschland gestellte Asylantrag wurde 2014 deshalb abgelehnt, weil der Antragsteller schon in einem anderen EU-Land registriert war“. Diese Regelung öffnet illegalen Grenzübertritten Tür und Tor, was z. B. der Autor am Beispielen aus Griechenland, Bulgarien, Italien und Spanien dokumentiert. Mit der Frage „Wohin in Europa?“ setzt sich Richter damit auseinander, welche Zielländer Flüchtlinge und Asylbewerber bevorzugen, und welche Schwierigkeiten, Tricks und Widerstände ihnen dabei entgegen treten. Es sind allzu langwierige Zeiten zwischen Asylantrag und -entscheidung, es sind die menschenunwürdigen Unterbringungen und Versorgungen, es sind die kaum begründbaren Regelungen etwa bei der Frage nach Arbeitssuche und Beschäftigungsrechten, die für Flüchtlinge und Asylbewerber eher Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit denn Aufnahme- und Integrationsbereitschaft schafft. Dass die Einwanderungsbedingungen und Integrationschancen, wie sie z. B. nach deutschem Recht herrschen, nicht zwangsläufig so praktiziert werden müssen, zeigt der Autor am Beispiel Schweden auf.
Im zehnten Kapitel schließlich stellt Richter heraus: „Was zu tun ist“. Soeben meldet das Radio, dass in Mazedonien ein Flüchtling bei dem Versuch, die Grenze von Griechenland zu überwinden und möglichst schnell durch das Land, über Serbien und Ungarn dorthin zu gelangen, wo er sich eine humane Bleibe in Mitteleuropa erhofft, von der Grenzpolizei erschossen wurde; angeblich durch einen Querschläger. Das ist nicht nur ein Anzeichen dafür, dass die „Durchreise“- Länder für Flüchtlinge immer unsicherer und unmenschlicher werden, sondern auch, dass anscheinend alle europäischen Länder überfordert sind, Flüchtlingen das Menschenrecht auf Asyl zu gewähren. „Nichts deutet darauf hin, dass sich in den nächsten Wochen und Monaten weniger Flüchtlinge auf den Weg machen werden“; denn der Krieg in Syrien, und kriegerische und gewaltsame Auseinandersetzungen anderswo finden kein Ende! Die westlichen Länder müssen sich also darauf einstellen, dass weiterhin Menschen Hilfe und Schutz bei ihnen suchen werden. Deshalb bedarf es anderer Maßnahmen als immer perfekter ausgestattete Grenzsicherungsanlagen: „Europa darf keine Festung mehr sein“. In acht Punkten zählt der Autor auf, was notwendig ist, damit die vielgelobte Humanität in Europa Wirklichkeit werden kann; sie gipfeln in der Forderung: „Wir brauchen ein Einwanderungsgesetz, das darauf zielt, nicht mehr abzugrenzen und abzuschotten…, sondern in dem es darum geht, Menschen, die bei uns arbeiten und leben wollen, eine Perspektive nach klaren Kriterien zu bieten“ – und: Die Wege Asyl und Zuwanderung dürfen nicht mehr strikt voneinander getrennt werden: „Wer als Asylbewerber abgelehnt wird, sollte im Land bleiben dürfen, wenn er einen tariflich bezahlten Arbeitsplatz vorweisen kann“; Schweden wird hier als positives Beispiel genannt!
Im Anhang werden Auszüge aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der Genfer Flüchtlingskonvention und aus dem Verhaltenskodex Frontex abgedruckt.
Fazit
Michael Richters Bericht über die Situation von Flüchtlingen und Asylbewerbern, die auf dem Seeweg nach Europa gelangen wollen, beeindruckt vor allem wegen der je konkreten Schilderungen über die Schicksale der Menschen, die aus ihren Heimatländern fliehen müssen und Sicherheit, Schutz und humane Lebensperspektiven in europäischen Ländern suchen. Es sind ausgestreckte, empathische Hände, offene Arme und nicht abwehrende oder gar aggressiv-gewaltsame, egoistische, unbarmherzige oder rassistische Ablehnungen, die seinen Erfahrungsbericht ausmachen. Es ist unsere humanitäre Verantwortung, die der Autor fordert; und das eben nicht mit dem erhobenen Zeigefinger und mit Hinweisen alleine darauf, dass die europäischen Regierungen eine humane Arbeit leisten sollten, sondern mit dem Rat: „Wir müssen konstruktiv damit umgehen“, im Alltag und im gesellschaftlichen Miteinander!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 27.10.2015 zu:
Michael Richter: Fluchtpunkt Europa. Unsere humanitäre Verantwortung. Edition Körber
(Hamburg) 2015.
ISBN 978-3-89684-172-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19248.php, Datum des Zugriffs 11.09.2024.
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