Agnes Dietzen, Justin J. W. Powell et al. (Hrsg.): Soziale Inwertsetzung von Wissen, Erfahrung und Kompetenz in der Berufsbildung
Rezensiert von Dipl.-Hdl. Dr. phil. Klaus Halfpap, 03.08.2015

Agnes Dietzen, Justin J. W. Powell, Anke Bahl, Lorenz Lassnigg (Hrsg.): Soziale Inwertsetzung von Wissen, Erfahrung und Kompetenz in der Berufsbildung. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2015. 427 Seiten. ISBN 978-3-7799-1591-1. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 51,90 sFr.
Thema
Der ursprünglich in der Geografie benutzte Begriff der Inwertsetzung (zur wirtschaftlichen Erschließung und Entwicklung von bisher nicht oder kaum genutzten Räumen) wurde in der sozialwissenschaftlichen Forschung zur (Berufs-)Bildung sowie vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) aufgegriffen, um der Frage nachzugehen: „Welches Wissen ist was wert?“, und zwar konkretisiert auf die „Soziale Inwertsetzung von Wissensformen, Wissensarbeit und Arbeitserfahrung in der Berufsbildung“. Die Beiträge dieses Buches basieren auf einer problemorientierten Vorgehensweise der 28 Autorinnen und Autoren aus „soziologischer, erziehungswissenschaftlicher, psychologischer und (berufs-)bildungswissenschaftlicher Perspektive“ – stellt Agnes Dietzen einführend fest. Das Buch gibt damit einen Einblick in die gegenwärtige Diskussion des Verständnisses von Wissen, Erfahrung und Kompetenz in der Berufsbildung(sforschung).
Herausgeber/in
und auch Autoren/innen sind: Dr. phil. Agnes Dietzen, BIBB, Prof. Dr. phil. Justin J. W. Powell, Universität Luxemburg, M. A. Anke Bahl, BIBB, Dr. phil. Lorenz Lassnigg, Institut für Höhere Studien in Wien.
Entstehungshintergrund
ist eine mit den oben zitierten Titeln im Oktober 2013 durchgeführte Tagung im BIBB in Bonn, um den „Diskurs zwischen Berufsbildungsforschung und sozialwissenschaftlicher (Bildungs-)Forschung zu festigen“ (10).
Aufbau
Nach einer ausführlichen Einführung (9 ff.) in dieses Buch und vor einem abschließenden Epilog (391 ff.) sind die 19 weiteren Beiträge folgenden Kapiteln zugeordnet:
- Zum Verhältnis von Wissen, Kompetenzen und Handeln (33 ff.)
- Institutionelle Strukturen der Wissensproduktion, Transformation und Distribution (143 ff.)
- Wissenskonzepte und Wissensformen in der Berufsbildung (235 ff.)
- Bildungs- und berufsbezogene Selbstbeschreibungen, subjektive Theorien (321 ff.)
Ausgewählte Inhalte
Es wird ausdrücklich betont, dass hier aus der Fülle der interessanten und bedeutsamen nur einige wenige Analyse- und Forschungsergebnisse beispielhaft wiedergegeben werden können.
Der Einblick in die aktuelle wissenschaftliche Diskussion zum Thema „Erfahrungswisssen jenseits von Erfahrungsschatz und Routine“ (34 ff.) führt u. a. zur Erkenntnis, dass nunmehr „zwischen einer Erkenntnis fordernden und einer Erkenntnis hindernden sinnlichen Wahrnehmung“ unterschieden werden muss (42). Erstere wird als „spürend-empfindende und gestaltende Wahrnehmung vor allem in ‚kritischen Situationen‘ angewandt und (erweist) sich hier als eine wichtige Voraussetzung zur Aufrechterhaltung der Handlungsfähigkeit“ (48). Erfahrungswissen „erweist sich als eigenständiges Wissen, das sich nicht nur auf einen Erfahrungsschatz und Routinen beschränkt“ (54).
Drei zentrale Perspektiven zum derzeitigen berufspädagogischen Forschungsgegenstand werden bei der Bearbeitung des Themas „Das Verhältnis von Wissen und Handeln – berufspädagogische Perspektiven und Erkenntnislagen“ (64 ff.) vorrangig untersucht: die normative, die empirische und die didaktische. Nicht nachvollziehbar ist die Feststellung, dass längere Übungsphasen zum Aufbau von Fertigkeiten „in den gegenwärtig präferierten didaktischen Konzeptionen für den schulischen Lernraum kaum noch in den Blick geraten“ (82).
Im Beitrag „Wissen und Sozialkompetenz aus Sicht der kognitiven Psychologie“ (89 ff.) insbesondere für kaufmännische dialogisch-interaktive Berufe wird u. a. ein Projekt zur Kompetenzdiagnostik vorgestellt: Modellierung und Entwicklung eines Diagnoseinstruments für die Beratungskompetenz der Bankkaufleute.
Ein Perspektivwechsel: „Wissen und Kompetenz in erkennntis- und handlungstheoretischer Perspektive“ (103 ff.) führt u. a. zu folgender Erkenntnis: „Experten können Situationen in besonderer Weise wahrnehmen – sie erkennen Ordnungsstrukturen, Handlungsaufforderungen, erforderliche Handlungsstrategien und -methoden“ unmittelbar, also ohne begriffliche Regelsysteme in intuitiver, holistischer Erkenntnis, was zu unfangreichen Reflexionen auffordert (115).
Interessant wird dieser Themenaspekt vertieft im dann folgenden Beitrag „Zur Bedeutung und zum Verhältnis von Wissen und Erfahrung im Kontext beruflicher Arbeit und Ausbildung“ (120 ff.), der andererseits auch zum „Nach“-Denken anregt, weil der Autor z. B. (!) „berufliche Erfahrung als Selektionskriterium für den Hochschulzugang“ für fragwürdig hält (129). Insgesamt: eine hoch anregende Studie zur generellen Selbstreflexion der Lesenden.
Ein Autorenteam stellt eine kritische Aktualitätsprüfung zum Thema vor: „Stratifizierung von Berufs- und Hochschulbildung in Europa: Deutschland und Frankreich im Spiegel klassischer Vergleichsstudien“ (144 ff.). Eine Schlussfolgerung: „Frankreich und Deutschland haben sich teilweise von ihren zugewiesenen Idealtypen der beruflichen und der Hochschulbildung entfernt“ (155).
Die Arbeit zum Thema „Die Verzahnung beruflichen und wissenschaftlichen Wissens – Perspektiven für Forschung und Praxis am Beispiel des Dritten Bildungswegs“ (160 ff.) geht u. a. von der Annahme aus, die das Konstrukt Beruflichkeit „in Deutschland traditionell Tätigkeiten auf dem mittleren Qualifikationsniveau“ kennzeichnet, dessen höchste Stufe die „Profession“ ist (165 f.).
„Soziale Inwertsetzung von Wissen in der wissenschaftlichen Weiterbildung“ (177 ff.) führt u. a. zur Frage, ob sich nunmehr die Wissensgesellschaft zur Weiterbildungsgesellschaft entwickelt (178 ff.). Aufgegriffen werden auch die aktuellen Trends der Akademisierung der Berufsbildung sowie der Verberuflichung hochschulischer Studiengänge (182 ff.).
„Zum Wandel von Wissensproduktions- und Transformationsprozessen: Konsequenzen für berufspädagogische Bildungspraxis“ (196 ff.) verdeutlicht der Autor u. a. die Wandlungsprozesse in der Wissenschaftsgesellschaft (209 ff.).
Das II. Kapitel wird abgerundet mit einem Beitrag: „Rekontextualisierung und pädagogischer Diskurs – zwei Konzepte aus dem Theoriegebäude Basil Bernsteins und ihre Manifestationen in der betrieblichen Bildung im deutschen dualen System“ (217 ff.).
Die Schwerpunktthematik des III. Kapitels (Titel s. o.) wird durch folgende Beiträge akzentuiert:
- „Der Aufbau von Erfahrungswissen in der betrieblichen Ausbildung von Ausbildungsverbünden: Potenziale und Bedingungen“ (236 ff.) Der Beitrag bezieht sich empirisch auf Ausbildungsverbünde in der Schweiz.
- „Die Bedeutung von Arbeitsprozesswissen am Beispiel des Arbeitsauftags in der Abschlussprüfung im Beruf Werkzeugmechaniker/-in“ (258 ff.) Eine ausgezeichnete, sehr ausführliche Darstellung (261 ff.).
- „Wissensintensität von Berufen und ihre Entlohnung. Klassifikation und empirische Ergebnisse“ (281 ff.).
- „Wissen im Übergangsraum. Schulische und außerschulische Maßnahmen der Übergangsvorbereitung aus wissenssoziologischer Perspektive“ (300 ff.). Das Verständnis der sozialen Übergangsprozesse als Raum eröffnet neue Sichtweisen!
Das umfangreiche IV. Kapitel beginnt mit einem Beitrag: „Erkenntnistheoretische Überzeugungen im Bezugsfeld von theoretisch-systematischem Wissen und Erfahrungswissen“ (322 ff.). Diese subjektbezogen empirisch begründete Betrachtung wird erweitert durch den folgenden Beitrag „‚Schule war angenehm‘ – Einige Anmerkungen zu Bildungsarmut, Anerkennung und Bildungsselbst“ (338 ff.). Viel Bekanntes für Insider – durch aktuelle Schülermeinungen (z. B. zum Frontalunterricht - S. 367 -) bestätigt – wird im Beitrag zusammengefügt: „Die Realisierung des lebenslangen Lernens in Berufsschulen. Die Bedeutung für das pädagogische Handeln von Berufsschullehrerinnen und -lehrern“ (355 ff.). Bei steigenden Kompetenzanforderungen sowie dem Verschwimmen der Grenzen zwischen Beruflichem und Privatem stellt Wissen „eine Chance zur Weiterentwicklung und Selbstentfaltung dar“. Die sich daraus ergebenden Spannungsverhältnisse sind Gegenstand des vorletzten Beitrages: „Subjektivierung in Soft Skill Trainings – die performative Kraft des Wissens“ (372 ff.).
Im Schlussbeitrag wird die soziale Inwertsetzung von der prozeduralen Seite aus analysiert: „Bewertung, Wertgebung, Inwertsetzung von Wissen – Jonglieren mit ‚Black-Boxes‘?“ (392 ff.). Eine interessante Abrundung des Gesamtthemas!
Diskussion
- Unter Bezugnahme auf o. g. Zitat zur Situationswahrnehmung als Basis des formalen Denkens (115) ist zu fragen, wie intuitive und holistische Erkenntnis ohne begriffliche Regelsysteme (nur) durch Wahrnehmung funktionieren können.
- Ist die oben wiedergegebene (Hypo-)These zutreffend, dass berufliche Erfahrung als Selektionskriterium für den Hochschulzugang fragwürdig ist (129)?
- Ist Mentoring tatsächlich ein wirksames und nachhaltiges Programm der Lehrerfortbildung, wie es beispielhaft in einem Beitrag aufgeführt wird (306 ff.)?
Fazit
Heute haben Gewinnung, Speicherung, Verarbeitung, Verbreitung und Nutzung von Wissen und damit Information zunehmende Bedeutung, so dass vor allem in den Sozialwissenschaften (seit den 1960er Jahren) von Wissensgesellschaft und Informationsgesellschaft gesprochen wird. Wie kam es dazu? Wie vollzog sich dieser dynamische Wandel? Wie können wissensbasierte Kompetenzen gefördert werden? Wie veränderten sich der Bildungsbereich – insbesondere das Berufsbildungssystem und der akademische Bildungsbereich? Welches Wissen benötigen wir in der heutigen und zukünftigen Gesellschaft? Lesen Sie aspektreiche Antworten – auch auf Fragen, die sich für Sie erst ergeben oder die die Autorinnen und Autoren bereits (auch) aufgeworfen haben.
Rezension von
Dipl.-Hdl. Dr. phil. Klaus Halfpap
Ltd. Regierungsschuldirektor a. D.
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