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Ingeborg Hedderich, Gottfried Biewer et al. (Hrsg.): Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik

Rezensiert von Dipl.-Hdl. Dr. phil. Klaus Halfpap, 17.12.2015

Cover Ingeborg Hedderich, Gottfried Biewer et al. (Hrsg.): Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik ISBN 978-3-8252-8643-9

Ingeborg Hedderich, Gottfried Biewer, Judith Hollenweger, Reinhard Markowetz (Hrsg.): Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2015. 704 Seiten. ISBN 978-3-8252-8643-9. D: 39,99 EUR, A: 41,20 EUR, CH: 52,00 sFr.

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Thema

Der 8643. utb-Band aus dem Verlag Klinkhardt in Kooperation mit anderen Verlagen hat das Ziel überzeugend erfüllt, ein Lehr- und Lernbuch für ein erfolgreiches Studium der Erziehungswissenschaft und Sonderpädagogik sowie für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Institutionen pädagogischer Berufsvorbereitung und der Begleitung bei beruflicher Aus- und Weiterbildung zu veröffentlichen. Aber nicht nur für diesen potenziellen Leserkreis ist dieses Buch anregend und informativ, sondern auch für alle auf der Wissenschaftsebene Tätige, die eine angesprochene interdisziplinäre Sichtweise z. B. in den Sozial-, Kultur- und Rechtswissenschaften diskutieren wollen. Es werden schulische und nichtschulische Handlungsfelder sowie auch internationale Perspektiven und Fragestellungen berücksichtigt; neuere Forschungszugänge zu Inklusion in sozialen Systemen werden entfaltet.

Autorenschaft und HerausgeberInnen

137 Autorinnen und Autoren haben die 117 Beiträge verfasst. Herausgegeben wurde das Buch von Autoren aus Zürich, Wien bzw. München: Prof. Dr. Ingeborg Hedderich, Prof. Dr. Gottfried Biewer, Prof. Dr. Judith Hollenweger und Prof. Dr. Reinhard Markowetz.

Aufbau

Die Herausgeber stellen in einer kurzen Einführung Intention und Konzept des Handbuches vor (13 f.). Die Beiträge sind folgenden Kapiteln und Abschnitten zugeordnet.

  1. Sonderpädagogik als Wissenschaft im Wandel (15 ff.)
    Historie – Theorie – Ethik – Leitbilder – Klassifizierungssysteme und Behinderungsbegriffe
  2. Inklusion in Erziehungs- und Bildungsprozessen (167 ff.)
    Entwicklungslinien inklusiver Pädagogik – Entwicklungsbereiche und Förderschwerpunkte -
    Bildungsorte und Bildungsprozesse – Handlungsfelder und Herausforderungen
  3. Inklusion in der Gesellschaft (385 ff.)
    Problemlagen – Lebensbereiche - Lebensspanne – Unterstützungsformen
  4. Neuere Zugänge zu Inklusion, Diversität und Behinderung (553 ff.)
    Interdisziplinäre und transdisziplinäre Zugänge – Internationale Perspektiven und Frage-
    stellungen – Neuere Forschungszugänge zu Inklusion Behinderung und Differenz – Neuere
    Forschungszugänge zu Inklusion und Exklusioin in sozialen Systemen

Es folgen ein Sachregister (695 ff.) und ein Verzeichnis der Autorinnen und Autoren (701 ff.).

Sicherlich ist verständlich, dass hier nur ein kurzer inhaltlicher Überblick über die Beiträge in diesem umfassenden Werk – selbst ohne vollständige Angabe aller Titel und deren Verfasser/innen – gegeben werden kann.

Zu I

Der „Historische Überblick“ (17 ff.) im Kapitel I beginnt mit dem „Motor der staatlichen Bildungsreformen in Preußen“ Wilhelm von Humboldt, durch die die Einschulungsquoten von ca. 60 % im Jahr 1816 auf etwa 90 % 1870 stiegen (18). „Die Trias aus heilpädagogischer Theorie, Profession und Institution bestand für den gesamten Entwicklungsprozess seit mehr als 200 Jahren …“ (25). Die Darstellung der Entwicklung der Heilpädagogik (27 ff.) und der Sonderpädagogik (32 ff.) endet mit der Feststellung, dass sich Sonderpädagogen/innen in einem inklusiven Bildungskontext „als Mitwirkende in multiprofessionellen Teams“ einbringen (36). Sehr informativ: die Geschichte der Behindertenbewegungen seit dem 19. Jahrhundert (44 ff.).

Im Theorie-Abschnitt werden„Wissenschaftstheoretische Fragestellungen“ (49 ff.), psychoanalytische, empirisch-analytische und phänomenologische Zugängen (55 ff.) sowie ökosystemische und konstruktivistische Strömungen (71 ff.) bearbeitet und zusammengefasst.

Der dann folgende Abschnitt wird eingeleitet mit „Ethischen Grundlagen“ (81 ff.), die u. a. erkennen lassen, „dass die Inklusion zu den zentralen ethischen Herausforderungen der Behindertenpädagogik gehört“ (83). Ein wesentliches Menschenrecht ist Bildung als das „Leitbild einer auf der Vielfalt menschlichen Lebens beruhenden Gesellschaft verstanden und gelebt“ (87). Das vielschichtige Phänomen „Anerkennung“ wird differenziert analysiert (96 ff.).

Normalisierung, Selbstbestimmung, Empowerment, Integration, Inklusion, Partizipation und Lebensqualität sind zentrale „Leitbilder“, die in diesem Abschnitt dargestellt werden (102 ff.). Dabei fand Inklusion erst ab 2000 Eingang in die deutschsprachige Fachdiskussion von Kindern und Jugendlichen, die übrigen Leitbilder in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts (124).

Im letzten Abschnitt des I. Kapitels werden „Klassifizierungssysteme und Behinderungsbegriffe“ analysiert (138 ff.):

  • als alltagspraktische, historische und erziehungswissenschaftliche Kategorie,
  • als sonderpädagogische Klassifizierungen,
  • im Kulturvergleich,
  • als konstruktivistische Perspektiven sowie
  • Klassifizierungen der Medizin und Gesundheitswissenschaft.

Zu II

Nach einem grundlegenden Beitrag „Erziehung, Bildung, Entwicklung und Heterogenität“(169 ff.) beginnt im Kapitel II die Bearbeitung der „Entwicklungslinien inklusiver Pädagogik“ mit einem Beitrag über die „Phasen der Entwicklung Inklusiver Bildung“ (179 ff.) und damit der Weg von der Sonder- zur Inklusionspädagogik. Danach wird der Blick gerichtet auf die „Inclusive Education“ in Nordamerika (184 ff.) sowie in Großbritannien und Skandinavien (189 ff.).

Themen der „Entwicklungsbereiche und Förderschwerpunkte“ (208 ff.) sind emotionale und soziale Entwicklung, geistige Entwicklung, Hören und Kommunikation, körperliche und motorischen Entwicklung sowie Lernen insbesondere gemeinsam in Regelschulen, Sehen insbesondere in den Institutionen der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik in ihrer mehr als 200jährigen Geschichte (234 ff.). Beiträge u. a. zur Sprache (241 ff.), Krankheit (246 ff.) und komplexen Behinderung (257 ff.) runden diesen Abschnitt ab.

Im Abschnitt „Bildungsorte und Bildungsprozesse“ (262 ff.) werden in neun Beiträgen diese Prozesse in folgenden Institutionen dargestellt und problematisiert: Krippe, Kindertageseinrichtungen, Primarstufe, Sekundarbereich, Erwachsenenbildung, Berufliche Bildung, Hochschule, Klinik, Jugendstrafvollzug.

„Handlungsfelder und Herausforderungen“ (314 ff.) sind (von insgesamt 12) u. a.: Prävention, Therapie, Diagnostik, Unterricht, Teamarbeit, Burnout sowie Medien und Neue Technologie. So wird z. B. hervorgehoben, dass die Burnout-Diskussion von hoher gesellschaftlicher Relevanz erst 1974 in New York begann, in Deutschland ab den 1990er Jahren; eine einheitliche Definition gibt es bis heue nicht (370 f.).

Zu III

Die theoretischen Grundlagen zum Kapitel III werden einführend gelegt (387 ff.). Es folgen in den Problemlagen theoretische Präzisierungen zu Inklusion/Exklusion (397 ff.) sowie die Bearbeitung der Themenaspekte Normalität, Stigma/Stigmatisierung, Migration, Armut und Vulnerabilität. Obwohl empirische Befunde zeigen, dass „verschiedene Vulnerabilitäten existieren“ (425), gehört die Verletzlichkeit „zum festen Begriffsrepertoire der Humanwissenschaften“ (423).

Folgende Lebensbereiche (427 ff.) sind Themenschwerpunkte der Beiträge zu Familie, Sexualität, institutionalisiertes Leben, staatsbürgerliches Leben, Arbeit, Wohnen, Freizeit.

Die Lebensspanne (466 ff.) reicht von den „Vorgeburtlichen Entwicklungen“, die bereits von umweltbezogenen Faktoren durch die Interaktionen zwischen Mutter und Kind abhängig und das „Resultat eines Entwicklungs- und Lernvorgangs“ sind, über die Frühförderung, die Bildung in der frühen Kindheit, den Übergang Schule-Beruf, das Aufwachsen in Peergruppen sowie das Erwachsenenalter, Altern und Alter zum Tod und Sterben (506 ff.).

Unterstürzungsformen (512 ff.) sind persönliche Assistenz für alle Menschen mit Beeinträchtigungen, persönliche Zukunftsplanung seit den 1980er Jahren in Nordamerika und nach 2000 in Deutschland, Selbsthilfe, Netzwerke, Community Care sowie das Modell der Arbeitsintegration „Supported Employment“ (544 ff.).

Zu IV

Der einführende Beitrag des IV. Kapitels schafft begriffliche Grundlagen zu „Disability Studies, Diversity und Inklusion“ (555 ff.). Mit einer radikal neuen Sichtweise von Behinderung entwickelte sich in den 1980er Jahren in Großbritannien und den USA das soziale Modell der Disability Studies als „Gegenentwurf zum vorherrschenden medizinischen bzw. individuellen Modell von Behinderung“ (556) – eine hoch interessante und bedeutsame Entwicklung! Behinderung wird „nicht mehr als Defizit, sondern als Teil menschlicher Vielfalt“ verstanden (560).

Interdisziplinäre und transdisziplinäre Zugänge“ (569 ff.) werden erschlossen aus der Sicht der Pädagogik, der Psychologie, der Philosophie und Ökonomie, der Theologie, der Philosophie und Soziologie des Rechts sowie von Inklusion und Gesundheit.

Der 100. Beitrag dieses Buches eröffnet „Internationale Perspektiven und Fragestellungen“ (601 ff.): Inklusion und Umsetzung der UNO-Behindertenrechtskonvention vom 13.12.2006 (von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet), die inzwischen von 155 Staaten und der Europäischen Union ratifiziert wurde (602). Einige weitere Beiträge dieses Abschnitts thematisieren „Internationales Bildungsmonitoring und Marginalisierung“ (607 ff.), Inklusive Bildung im Kontext von UNICEF und UNESCO (617 ff./621 ff.) sowie „Inklusion in der Entwicklungszusammenarbeit“ (630 ff.).

„Neuere Forschungszugänge zur Inklusion, Behinderung und Differenz“ (636 ff.) sind die Partizipative Forschung sowie die Inklusive Forschung, die erst 2003 breite internationale Aufmerksamkeit erlangte (645). Weiterhin: die Intersektionalitätsforschung, die auf „die Wechselbeziehungen von Diskriminierungsformen, sozialen Ungleichheiten und Subjetivierungsprozessen“ zielt (650) sowie biogafische und ethnografische Zugänge (655 ff.).

Mit sechs Beiträgen zum Abschnitt „Neure Forschungszugänge zu Inklusion und Exklusion in sozialen Systemen“ (665 ff.) wird das Handbuch beendet: u. a. zur Professionsforschung und systembezogenen Schulforschung, die „die Struktur und Organisation von Schulsystemen, ihre Steuerungsarchitektur und Steuerungsprozesse“ analysiert (671), sowie zum Neo-Institutionalismus und zur sozialen Netzwerkforschung, die „in den letzten Jahren eine zunehmende Verbreitung in den Sozialwissenschaften“ erfährt (689).

Diskussion

  • Rita Nikolai hebt in ihrem Beitrag zur Systembezogenen Schulforschung hervor, dass „die Abschaffung von Sonderschulen einen Kernkonflikt in der deutschen Schulstrukturdebatte“ berührt (672). Dies ist nicht nur eine „offene Forschungsfrage“, sondern eine mögliche „Entwicklungsfrage“, die jeden Theoretiker und Praktiker in diesem Lebensbereich betrifft. Welches ist Ihre Position als Lesende/r dazu?
  • Reinhard Burtscher arbeitet im o. g. Beitrag „Erwachsenenbildung“ (208 ff.) heraus, dass „Erwachsenenbildung und Lebenslanges Lernen an Bedeutung zunehmen“ (292). Wie vollzieht sich in Ihrer Region (der/des Lesenden) die Zusammenarbeit zwischen dem Bildungssystem und dem der Behindertenhilfe?
  • In mehreren Beiträgen wird die Arbeit im Team als herausforderndes Handlungsfeld in inklusiven Arbeitszusammenhängen hervorgehoben. Diesbezüglich ist noch „ein deutliches Forschungsdesiderat zu konstatieren“ (368). Hat in Ihrer Lebensregion des/der Lesenden die Teamarbeit auf den verschiedenen Ebenen der Schulentwicklungsprozesse bewusste Aufmerksamkeit?

Fazit

In der Rezension wird dieses lesenswerte sehr umfangreiche Lehr- und Lernbuch zur Inklusion und Sonderpädagogik inhaltlich beispielhaft vorgestellt. Es ist schwerpunktmäßig klar gegliedert: Sonderpädagogik als eine Wissenschaft im Wandel, Inklusion in Erziehungs- und Bildungsprozessen sowie in allen Lebensbereichen der Gesellschaft, neuere Zugänge zu Inklusion, Diversität und Behinderung.

Die fast 140 Autorinnen und Autoren entfalten ihren bearbeiteten Themenaspekt verständlich und gut strukturiert. In jeden Beitrag führt eine kurze Zusammenfassung ein. Auch auf aktuellste Literatur wird zurückgegriffen, deren Gesamtzusammenstellung zum Schluss jeden Beitrages teils sehr umfangreich erfolgt und gegebenenfalls zur weiter vertiefenden Lektüre anregt.

Das Buch ist sehr empfehlenswert und könnte (sollte?) zur Pflichtlektüre und zum Arbeitsbuch für jede(n) Lehramtsstudentin/en aller Schulstufen und Schulformen werden.

Rezension von
Dipl.-Hdl. Dr. phil. Klaus Halfpap
Ltd. Regierungsschuldirektor a. D.

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Zitiervorschlag
Klaus Halfpap. Rezension vom 17.12.2015 zu: Ingeborg Hedderich, Gottfried Biewer, Judith Hollenweger, Reinhard Markowetz (Hrsg.): Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2015. ISBN 978-3-8252-8643-9. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19265.php, Datum des Zugriffs 12.10.2024.


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