Ulrike Stadler-Altmann (Hrsg.): Lernumgebungen
Rezensiert von Prof. Dr. Erich Hollenstein, 17.02.2016

Ulrike Stadler-Altmann (Hrsg.): Lernumgebungen. Erziehungswissenschaftliche Perspektiven auf Schulgebäude und Klassenzimmer. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2015. 180 Seiten. ISBN 978-3-8474-0709-6. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR, CH: 35,50 sFr.
Thema
Die Herausgeberin und an der Freien Universität Bozen lehrende Professorin für Allgemeine Didaktik und Schulpädagogik Ulrike Stadler-Altmann lenkt die fachliche Aufmerksamkeit auf ein eher nicht im Mittelpunkt stehendes Thema. Die Beschäftigung mit Lernen in der gebauten und gestalteten Umgebung und den daraus sich ergebenden Zusammenhängen wird allerdings in der Fachwelt völlig unangemessen vernachlässigt.
Die zehn vorgelegten Beiträge haben deshalb auch die Absicht, diese Aufmerksamkeit deutlich zu erhöhen.
Aufbau und Inhalt
Im ersten, in den Band einführenden, Beitrag von Stadler-Altmann „Lernumgebungen. Erziehungswissenschaftliche und architekturkritische Perspektiven auf Schulgebäude und Klassenzimmer“ werden aktuelle Entwicklungen und Forschungsansätze vorgestellt. Einen Schwerpunkt in diesem und den folgenden Beiträgen stellen auch internationale Forschungsaktivitäten dar, die sich u.a. in drei englischsprachigen Artikeln niederschlagen. Die Autoren und Autorinnen vertreten die Fachgebiete Erziehungswissenschaft, Architektur und Psychologie, woraus sich ein jeweils interdisziplinäres Bearbeitungsspektrum ergibt. Im Folgenden wird auf einige Beiträge näher eingegangen.
Der zweite Beitrag „Probleme und Perspektiven der Schulbau-Gestaltung“ von Christian Rittelmeyer beginnt mit einem Architekturvergleich mittels der Abbildung einer preisgekrönten Schule in Berlin und einer Schule in Köln. Letztere Schule ist allerdings die Zukunftsschule und findet Zuspruch in der befragten Schülerschaft: entspannend, fröhlich, menschenfreundlich. Die preisgekrönte Schule findet negativen Zuspruch: erdrückend, kalt, Bauchweh, unfreundlich. Auf diesem Hintergrund wird darauf verwiesen, dass eine gemeinsame Sprache zwischen Architekten und Nutzerinnen und Nutzern fehlt. Schularchitektur soll anregungs- und abwechslungsreich, das Interieur freilassend und befreiend sowie Wärme und Weichheit statt Kälte und Härte als Gestaltungsmerkmale ausbilden. Schulgebäude, Klassenzimmer, Flure und Bewegungsflächen sind in diesem Sinne „Interaktionspartner“ für Schülerinnen und Schüler. Empirische Untersuchungen zeigen, dass in positiv bewerteten Schulgebäuden bessere Lernleistungen erzielt werden, Vandalismus-Aktivitäten rückläufig sind und die Krankheitsauffälligkeit sinkt. Vornehmlich stammen die dorthin weisenden Forschungsergebnisse aus den Vereinigten Staaten und Großbritannien. Deshalb empfiehlt der Autor deutschen Schulbauplanern, endlich Ergebnisse der internationalen Schulbauforschung zu Kenntnis zu nehmen.
Der wichtigen Frage wie Schularchitektur Lernen beeinflussen kann geht Stadler-Altmann in ihrem Beitrag „Gebaute Umgebung als Lernumgebung: Haben Schulgebäude und Klassenzimmer Einfluss auf Lehren und Lernen?“ anhand empirischer Studien nach. Diese Studien zeigen, dass Luftqualität, Temperatur, Lärm, Licht und Farbe positiven Einfluss auf das Lernen haben. Klassenzimmer sollen Sicherheit und Geborgenheit, Gefälligkeit und Wohlbefinden, symbolische Identifikation, Zielunterstützung sowie sozialen Kontakt und Zusammenhalt vermitteln und unterstützen. Ein weiterer Gesichtspunkt ist die Interaktion im Klassenraum. So gibt es Bewegungsmuster einer Lehrkraft im Klassenzimmer, die darüber Auskunft geben, ob es sich um einen Lehrer- oder um einen Schülerzentrierten Unterricht handelt. Andere Untersuchungen konzentrieren sich auf die Lehrer-Schüler-Interaktion. Bedeutsam ist hier die Sitzordnung im Klassenzimmer wie auch der Gestaltungsfreiraum für unterschiedliche Unterrichtsformen. Die Autorin stellt allerdings auch Unklarheiten und ungeklärte Fragen bezüglich des Zusammenhangs zwischen räumlicher Lernumgebung und Lernerfolg heraus. Deshalb ist ihrer Meinung nach vermehrte Forschung aus erziehungswissenschaftlicher und architekturpsychologischer Perspektive erforderlich.
Im siebten und achten Beitrag kommt zunächst der US-amerikanische Architekturprofessor Henry Sanoff mit seinem Beitrag „Evidence Based School Design: A Case Study“ und daran anschließend der deutsche Architekt Peter Hübner mit seinem Beitrag „Lernlandschaften entwerfen“ zu Wort. Beide Architekten verfolgen partizipative Bau- und Gestaltungsansätze und beschreiben die dazugehörende Praxis. Sanoff beschreibt wie er in seinem Projekt Schülerinnen und Schüler, Lehrer und Eltern in die Planung und Gestaltung der Gibsonville Elementary School einbezog. Die Lehrkräfte entwarfen z.B. im Rahmen des partizipativen Gestaltungsprozesses ein Klassenzimmer in „L“-Form. Diese Form wurde dann zu einem Grundmodul des gesamten 24 Klassenzimmer umfassenden und aus vier Häusern bestehenden Schulgebäudes. Ein anderes bauliches Merkmal ist, dass jeder Klassenraum einen Zugang zu dem offen und naturnah gestalteten Schulhof hat. Eine spätere Evaluation ergab eine hohe Zufriedenheit bei allen Planungsbeteiligten. Dieses Projekt hatte darüber hinaus Einfluss auf die Planung und Gestaltung weiterer Schulen.
Hübner versteht Bauen als einen sozialen Prozess weshalb Beteiligung der Nutzerinnen und Nutzer ein grundsätzliches Anliegen ist. Dadurch, dass Schüler- und Lehrerschaft zu „kundigen“ Bauherren werden gibt es eine hohe Identifikation mit der „sprechenden“ Architektur. Für Schülerinnen und Schüler sind individualisierbare Lernorte von großer Wichtigkeit. Das bedeutet u.a., dass große und kleine Räume sowie freie Bereiche mit vielfältig nutzbaren Verbindungswegen eine Lernlandschaft ergeben, die flexibel gestaltet werden kann. Für Schülerinnen und Schüler bedeuten diese Gestaltungsherausforderungen auch, dass selbstständige Aneignungsprozesse stattfinden können. Im Rahmen von sechs Beispielen des Schulbaus zeigt Hübner wie sich Architekturphantasie baulich realisieren lässt. So zeigt das Beispiel der „Evangelischen Gesamtschule Gelsenkirchen“ wie an einer Seitenstraße sechs Klassengebäude entstehen mit jeweils fünf individuellen Klassen für einen Jahrgang. Die jeweilige Schülerschaft bleibt während der gesamten Schulzeit in diesen Häusern und wird an Umgestaltungen beteiligt. „Lernräume sind immer dann am besten, wenn nicht alles in Reih und Glied steht und eine Art kreative Unordnung herrscht, wenn das pralle Leben spürbar ist (…)“ (S.115).
Diskussion
Das thematische Anliegen sowie die wissenschaftliche und praktische Arbeit der Autorinnen und Autoren des Bandes stellen einen Schritt dar, zu einer Schule der Zukunft. Selbstverständlich gehört das Thema in die Lehrerausbildung und in die Aufmerksamkeit der jeweils agierenden Schulleitungen. Darüber hinaus, so scheint es, ist aber ebenso die Überarbeitung der behördlichen Schulbaurichtlinien erforderlich. Schulbau und Leben in der Schule und in Klassenzimmern ist dabei ein hochgradig an Partizipation ausgerichtetes Dauerprojekt. Der Band ist ein Plädoyer nicht nur für die Verbesserung von Lernleistungen, sondern auch für die vielbeschworene Verzahnung von Lernwelt und Lebenswelt in der Schule.
Fazit
Beeindruckend werden empirische Forschungsergebnisse zum positiven Zusammenhang von gestalteter Umgebung und der Förderung des Lernens erörtert. Richtungsweisend ist die zum Ausdruck kommende Interdisziplinarität zwischen den beteiligten Disziplinen der Erziehungswissenschaft, der Architektur und der Psychologie. Praxisbeispiele zur guten Schularchitektur und zu entsprechenden Partizipationsprozessen machen das nicht ganz einfache Thema anschaulich.
Rezension von
Prof. Dr. Erich Hollenstein
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