Ahmet Cavuldak, Oliver Hidalgo et al. (Hrsg.): Demokratie und Islam
Rezensiert von Prof. Dr. Uwe Helmert, 14.08.2015

Ahmet Cavuldak, Oliver Hidalgo, Philipp W. Hildmann, Holger Zapf (Hrsg.): Demokratie und Islam. Theoretische und empirische Studien. Springer VS (Wiesbaden) 2014. 487 Seiten. ISBN 978-3-531-19832-3. D: 39,99 EUR, A: 41,11 EUR, CH: 50,00 sFr.
Thema
Der Islam stellt heute eine der größten Herausforderungen für den demokratischen Rechtsstaat dar. Außenpolitisch stehen dabei die Transformationsprozesse in der arabischen Welt und innenpolitisch die Integration muslimischer MigrantInnen im Fokus. Die Angst vor fundamentalistischer Unterwanderung der Demokratie sowie die oft nur schwer zu ziehende Grenze zwischen Islam und Islamismus sorgen in der Öffentlichkeit für Verunsicherung. Nur selten wird der Islam als demokratieaffiner Faktor wahrgenommen. Der Sammelband legt in diesem schwierigen Forschungsfeld fundierte und differenzierte Expertisen vor. Er reflektiert die Komplexität des Verhältnisses von Demokratie und Islam, taxiert Chancen und Risiken und gleicht vorhandene Befunde ab. Dabei wird geprüft, welchen Beitrag islamische Demokratievorstellungen in der Debatte leisten und ob die westlichen Gesellschaften ihrerseits zur Neubestimmung der Beziehung zwischen Politik und Religion gezwungen sind.
Herausgeber
- Dr. Ahmet Cavuldak ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität Berlin
- Dr. Oliver Hidalgo ist Privatdozent am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Regensburg
- Dr. Philipp W. Hildmann ist Leiter des Büros für Vorstandsangelegenheiten der Hanns-Seidel-Stiftung
- Dr. Holger Zapf ist akademischer Rat am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen
Entstehungshintergrund
Die Beiträge des Sammelbandes gehen mehrheitlich auf eine Kooperationstagung des DVPW-Arbeitskreises „Politik und Religion“, der DVPW-Themengruppe „Transkulturell vergleichende Politische Theorie“ und der Hanns-Seidel-Stiftung im April 2012 in Wildbad Kreuth zurück.
Aufbau
Der Band enthält neben einer Einführung vier Teile.
Zur Einführung
Ob Demokratie und Islam vereinbar sind und wie es gegebenenfalls um die Legitimität eines spezifisch islamischen Typus der Volksherrschaft bestellt ist, wird in der Literatur seit geraumer Zeit kontrovers diskutiert. Die bisweilen recht polemisch gerührte Debatte stand gerade im deutschsprachigen Raum lange im Zeichen der Diskursmacht, die von Huntingtons „Clash of Civilizations“ ausging. Das hartnäckige (Vor-)Urteil, es mit einer Form des Kulturkampfes zu tun zu haben, wurde dabei von einer Reihe populärwissenschaftlicher Studien unterfüttert, die der Öffentlichkeit ein Bild islamischer Parallelgesellschaften präsentierten. Auf jene Bedrohung reagierten Deutschland und Europa angeblich mit falscher Zurückhaltung und leichtsinniger Toleranz (Broder 2006, Raddatz 2007). Dem stehen allerdings ebenso zahlreiche wie vielfältige Ansätze und Selbstbeschreibungen gegenüber, die eine Verbindung von islamischen und demokratischen Ideen durchaus in Aussicht stellen (Khan 2006, Kamrava 2006).
Die theoretische Kontroverse erhält ihre besondere politische Brisanz derzeit aus dem Umstand, dass nicht nur der demokratische Rechtsstaat angesichts stetig wachsender Migrationsströme nach Möglichkeiten sucht, den Islam konstruktiv in Gesellschaft und Verfassungsordnung zu integrieren, sondern dass auch die arabische Welt nach den Rebellionen im Frühjahr 2011 nach wie vor nach einem tragfähigen politischen Ordnungsmodell sucht, das bei strenggläubigen wie liberalen Muslimen Akzeptanz findet. Schon jetzt ist abzusehen, dass es in beiden Fällen eine Gratwanderung bedeuten wird, um einerseits die Offenheit und Spielräume der Demokratie zu nutzen, ohne zugleich einen normativen Ausverkauf des Konzepts zu provozieren oder sie womöglich sogar zu Tode zu schützen. Die klassischen Antinomien und Autoimmunitäten der Demokratie sind im Hinblick auf ihre Herausforderung durch den Islam in besonderem Maße am Werk und verlangen nach differenzierten Argumentationen sowie einer engen Verzahnung von Theorie und Empirie. Der vorliegende Sammelband versucht dem gerecht zu werden.
Zu Teil I Die Demokratie im islamischen Denken
In seinem Eröffnungsbeitrag zum innerislamischen Diskurs über die Demokratie entfaltet Alexander Flores die These, dass der Islam in seiner Vielgestaltigkeit und Flexibilität sehr offen für eine konstruktive Verbindung mit der Demokratie wäre. Ausgehend von dem Befund, dass in den Grundlagentexten des Islam, dem Koran und der Sunna, keine eindeutigen Aussagen zur Politik, geschweige denn zur Demokratie getätigt werden, zeichnet Flores zunächst die funktionelle Trennung der politischen und religiösen Sphäre nach, wie sie sich im islamischen Bereich lange Zeit vor den neuzeitlichen Säkularisierungsprozessen in Europa etabliert hat. Das demgegenüber verbreitete Fehlurteil, im Islam bilden Politik und Religion eine unverrückbare, demokratiefeindliche Einheit, führt er auf eine von zahlreichen Muslimen und Nicht-Muslimen geteilte Fiktion zurück. Die Entwicklung seit dem „arabischen Frühling“ sei insofern als eine Chance zu sehen, alte Vorurteile auf beiden Seiten aufzubrechen und eine nachhaltige demokratische Umgestaltung der Region voranzutreiben.
Im Anschluss untersucht Lino Klevesath, wie zwei prominente islamische Intellektuelle und Politiker das für liberale Demokratien konstitutive Problem der Religionsfreiheit behandeln. Dabei geht er einerseits auf den Tunesier Rachid al-Ghannouchi ein, der als Mitbegründer und Anführer der gemäßigt islamistischen Ennahda-Partei höchst einflussreich ist; andererseits thematisiert Klevesath die Arbeiten von Abu al-´Ala Madi, der mit der ägyptischen Wasat-Partei ebenfalls für eine gemäßigte islamische Richtung steht. Um die politischen Ideen der beiden Autoren besser einordnen zu können, wird zudem zum einen der gegenwärtige Stand der Religionsfreiheit in Ägypten und Tunesien skizziert; zum anderen werden die Überlegungen wichtiger Referenzautoren wie Sayyid Qutb und Abul A´la Maududi rekonstruiert. Im Vergleich gelingt es Klevesath, sowohl die zunehmende Liberalisierung wie auch die verbleibenden Ambivalenzen im Werk der letzteren Intellektuellen herauszustellen.
An das Problem der „Freiheit der Anderen“ knüpft Stephan Kokew an, der verschiedene Rechtfertigungen der Toleranzidee im gegenwärtigen schiitischen Denken vorstellt. Dabei greift er auf die Arbeiten des irakischen Theologen Magid al-Garbawi ebenso zurück wie auf die der Iraner Mohammed Mogtahed Sabestari und ´Abdelkarim Sorus. Nachdem er die historischen und semantischen Hintergründe des Toleranzdiskurses in Erinnerung gerufen hat, zeigt Kokew die Strategien auf, die zur Begründung der jeweiligen Positionen gewählt werden. Dabei versäumt er es nicht, auch die innergesellschaftlichen Lagen aufzuzeigen, die erst deutlich machen, weshalb gerade die Idee der Toleranz als Problemlösung ins Spiel gebracht wird. Trotz der Unterschiedlichkeit der Begründungsstrategien entstehen hier ganz ähnliche Toleranzkonzepte, womit ausdrücklich unterstrichen wird, das die Konzepte über den Rahmen des schiitischen Islam hinaus paradigmatisch für gesamtislamische Toleranzideen stehen können.
Jochen Lobah setzt sich hingegen mit dem Phänomen des Salafismus auseinander, das nicht nur innerhalb genuin muslimischer Gesellschaften, sondern mittlerweile auch unter Muslimen in der Diaspora zunehmend an Bedeutung gewinnt. Dabei unterstreicht er, dass der Salafismus nicht nur die ethisch-moralische Richtschnur des originären Islam zu repräsentieren beansprucht, sondern in diesem Kontext auch als reformorientierte Rückbesinnung auf wesentliche Grundzüge des Islam dessen kreative Wiederbelebung im 21. Jahrhundert beabsichtige. Hervorgerufen durch die teilweise gewaltsamen Konflikte des Westens mit der islamischen Welt und gestärkt durch die Intransparenz den neuen „Social Media“ dient salafistisches Gedankengut auch als Propaganda gegen den Westen sowie als Rechtfertigung für den Dshihad. Die Komplexität sowie die strukturellen Ursachen dieser Wendung ins Extreme werden anhand von Analysen entsprechender Internetforen und Fallbeispielen erörtert.
Im letzten Beitrag des ersten Teils wirft Holger Zapf die Frage auf, inwieweit sich das Problem des Zusammenhangs von Islam und Demokratie überhaupt sinnvoll mit inhaltlichen Analysen politischer Ideen erschließen lässt, weil diese letztlich immer kulturalistisch argumentieren und somit problematische Konnotationen von Authentizität generieren. Daher schlägt er vor, die Genese politiktheoretischer Diskurse vor dem Hintergrund von Semantiken und Argumentationsmustern zu untersuchen, in denen sich widerspiegelt, was gesellschaftlich resonanzfähig erscheint. Exemplarisch wird dabei auch auf die Semantik von Staat und Gesellschaft sowie auf religiöse Argumentationsmuster eingegangen.
Zu Teil II Politik, Religion und Säkularität
Der zweite Themenblock beginnt mit Nader Hashemi, der die problematische westliche Sicht auf Islam und Säkularität eindrücklich am Beispiel des Orientalisten Bernard Lewis darstellt. Hashemi kann in diesem Zusammenhang zeigen, dass die Mängel von Lewis´ Analysen nicht so sehr in einer falschen Einschätzung des Orients als vielmehr in einer Fehlinterpretation der politischen Geschichte des Christentums liegen. Diese Sichtweise baut auf der grundlegenden Überlegung auf, dass Institutionen wie säkulare Staaten nicht in erster Linie durch kulturell verankerte und insofern primordiale Ideen entstehen, sondern durch kontingente historische Lernprozesse, wodurch die Unterschiede zwischen der islamischen Welt und dem Westen Hashemi zufolge deutlich besser zu erklären ist.
Tilman Nagel setzt sich daraufhin mit dem Denken des bekannten marokkanischen Gelehrten Muhammed ´Abid al-Gabri (1936-2010) auseinander. Dies erfolgt unter der Fragestellung, ob und inwiefern er als ein Aufklärer und Verfechter der Säkularisierung gelten könne. Das Ringen um eine islamische Begründung der Menschenrechte, Demokratie und Säkularität wird am Beispiel al-Gabri veranschaulicht. Nagel thematisiert in seiner Mikrostudie auch die Rezeption des Marxismus im islamischen Erfahrungshorizont und die damit verbundenen Rechtfertigungszwänge. Er erklärt die ursprüngliche Hinwendung des Intellektuellen zum Marxismus und später wieder zum Islam durch die strukturelle Ähnlichkeit ihrer Wahrheitsansprüche.
Ahmet Cavuldak thematisiert demgegenüber die Legitimität der Trennung von Islam und Politik am Beispiel der Türkei. Zunächst betont er im Zuge einer kritischen Beschäftigung mit den Thesen einiger westlicher Orientalisten die Notwendigkeit zur differenzierten Betrachtung der religionspolitischen Ordnungssituation in den islamisch geprägten Gesellschaften. Nicht nur die dogmatischen Unterschiede zwischen dem sunnitischen Islam und dem Schiitentum, den verschiedenen Rechtsschulen und der Mystik müssten im Auge behalten, sondern auch die mannigfaltigen Gestalten und Kontexte politischer Herrschaftspraxis stärker ins Blickfeld gerückt werden. In einem zweiten Schritt geht Cavuldak auf das Beispiel der Türkei ein und zeigt, in welchem Ausmaß das Gewicht der Geschichte im Verhältnis von Religion und Politik zu Buche schlägt. Festzuhalten ist der Befund, dass es im Osmanischen Reich neben der religiösen auch funktionale Rechtfertigungsansätze politischer Herrschaft gegeben hat, die sich an den weltlichen Belangen und Erfordernissen des Staates orientieren; und dass diese Ansätze später durch Atatürk unter dem Einfluss des französischen Laizismus in der republikanischen Türkei radikalisiert worden sind.
Lukas Wick widmet sich im Rahmen seines Beitrags der theologischen Dimension des Verhältnisses von Demokratie und Islam. Dabei geht er von der Annahme aus, dass in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema die sozialwissenschaftliche Perspektive dominiert und der theologische Diskurs nicht die verdiente Beachtung findet. Wick gelangt in seiner Analyse der religiösen Diskurse der Ulema im näheren und weiteren Umkreis der berühmten Azhar Universität in Kairo zu der ernüchternden Einschätzung, dass die überwiegende Mehrheit der Theologen den traditionellen Vorstellungen verhaftet bleibt und jegliches theologisches Problembewusstsein für die freiheits- und individualrechtlichen Dimensionen des modernen Konstitutionalismus vermissen lässt. Sie stehen den Errungenschaften der politischen Moderne wie etwa der Trennung von Religion und Staat, den demokratischen Verfahrensregeln, der Gewaltenteilung, Säkularität und Religionsfreiheit insgesamt kritisch bis ablehnend gegenüber. Die Brisanz des Befundes wird etwas relativiert durch die Aussage, dass der Einfluss religiöser Würdenträger auf den individuellen Lebensvollzug der Muslime begrenzt ist und die ablehnende Haltung der Theologen zu den demokratischen Errungenschaften ihrerseits von politischen und sozio-ökonomischen Faktoren bedingt ist.
Am Ende des zweiten Teils des Buches stellt Oliver Hidalgo die sehr grundsätzliche Frage, inwieweit sich die Demokratie überhaupt durch ein spezifisches Verhältnis zu Religion auszeichnet und politische Legitimität dort per se jenseits göttlicher Offenbarung zu veranschlagen ist. Zur terminologischen Erfassung der diesbezüglichen Janusköpfigkeit der Demokratie, die sowohl die Emanzipation des Politischen von der Religion voraussetzt als auch dezidierte Verbindungslinie zwischen beiden Sphären respektiert, schlägt Hidalgo ein Säkularisierungkonzept vor, das sein Pendant im berühmt-berüchtigten Begriff der Politischen Theologie findet. Vor diesem Hintergrund sei nicht nur die Vielschichtigkeit und Ambivalenz im Verhältnis von Religion und Politik in der Demokratie zu konturieren, sondern ebenso die konstitutive Gleichzeitigkeit von Säkularem und Nicht-Säkularem. Infolge der Rekonstruktion der Frage nach Demokratie und Islam als politisch-theologisches Problem sowie des diesbezüglichen Vergleichs zwischen Christentum und Islam vermag der Beitrag außerdem eine Vorstellung der Spielräume und Grenzen zu vermitteln, in denen sich eine authentische Demokratie islamischer Provenienz realisieren könnte.
Zu Teil III Die Transformationsprozesse in der islamischen Welt – Empirische Befunde
Der dritte Teil des Buches, der zugleich den Anfang des empirischen Teils markiert, wird von Thomas Demmelhuber eingeleitet, der die Vielfalt der derzeit sichtbaren politischen Wandlungsprozesse in der arabischen Welt systematisch diskutiert – ist es doch nicht nur das Erdbeben des „arabischen Frühlings“ in einigen Ländern, das aufhorchen lässt, sondern gerade vor diesem Hintergrund die wiederum überraschende Stabilität anderer Regime. Hier fokussiert der Beitrag vor allem die Unterschiede zwischen Republiken und Monarchien, die über jeweils sehr unterschiedliche Legitimitätsressourcen verfügen – im Falle der Monarchien sind dies Demmelhuber zufolge auch deutlich über die bekannte Rentierstaats-These hinaus Gründungs- und Modernisierungsnarrative, die insbesondere die bereits inkludierten Bevölkerungsanteile ansprechen und so für ausreichende Massenloyalität sorgen können. Die auf eine lounge-durée-Perspektive gestützte Analyse der Ursachen und Hintergründe von Wandel und Stabilität macht damit deutlich, dass unklar ist, ob sich Monarchien eher so wie Syrien und Libyen auf den Staatszerfall zubewegen oder wie Tunesien und Ägypten in ergebnisoffene Transformationsphasen eintreten werden. – oder ob überhaupt vor vergleichbaren Veränderungen stehen.
Der Beitrag von Tonia Schüller nimmt konkret die Siege der islamistischen Parteien bei den Wahlen in Tunesien und Ägypten in Augenschein. Dabei extrapoliert die Autorin eine breite Palette von Gründen, welche die nachhaltige Popularität der am Sturz Ben Alis und Mubaraks zuvor kaum beteiligten religiösen Gruppen erläutern, zugleich aber auch die Schwierigkeiten konturieren, mit denen die Islamisten in der Folge bei der Umsetzung ihrer politischen Programmatik bzw. ihrer Ideologie konfrontiert waren. Durch den historischen Rückgriff auf die Anfänge der Nahda in Tunesien und der Muslimbrüderschaft in Ägypten gelingt es Schüller zudem, die Kontinuitäten nachzuzeichnen, die in beiden Ländern seit langem für eine zwiespältige und gefährliche Verbindung zwischen Religion und Politik sorgen, ohne dass dies im Gegenzug dazu führen dürfte, die Chancen einer trotz allem positiven Verbindung vom Demokratie und Islam zu ignorieren.
Auch Nina Guérin bemüht sich um eine Einordnung der gegenwärtigen Transformationsprozesse. Dabei greift sie auf die Hypothese zurück, derzufolge sich das politische System und die politische Kultur (im Sinne der aggregierten individuellen Einstellungen) in den betreffenden Staaten zu weit auseinanderentwickelt haben, wodurch den Regimes letztlich die Legitimität entzogen wurde. Gestützt wird diese Hypothese durch den empirischen Befund, dass Demokratie in den betroffenen Staaten von den Bevölkerungen hoch geschätzt wird. Unter Rückgriff auf Daten aus Marokko und Ägypten kann Guérin zeigen, dass diese Hochschätzung der Demokratie nicht notwendig mit den demokratischen Werten einhergeht – gesellschaftlicher Pluralismus und Protestbereitschaft fallen demgegenüber deutlich geringer aus, was für die grundlegende Hypothese nicht unproblematisch ist. Darüber hinaus ergeben sich aus ihrer Analyse Hinweise darauf, dass es entgegen einer vielfach anzutreffenden Behauptung gar nicht die jungen, wohlhabenden und gebildeten Menschen in den Städten sind, die in erster Linie demokratische Werte vertreten.
Der daran anschließende Beitrag von Anja Schoeller-Schletter hat mit der unter dem dominanten Einfluss der Muslimbrüder und Salafisten verabschiedeten ägyptischen Verfassung von 2012 zwar einen Gegenstand, der faktisch bereits wieder der Geschichte verantwortet wurde; ihre Analyse betrifft gleichwohl ein für die Fragestellung des Bandes hochinteressantes Dokument. Dieses zeigt, welche spezifischen Ideen und (Rechts-)Grundsätze sich hinter einem nominell islamischen Demokratiebegriff verbergen (können) und welche Möglichkeiten und Probleme sich dabei nicht zuletzt aus westlicher Sicht auftun. Schoeller-Schletters verfassungsrechtliche Perspektive ist zudem aufschlussreich für die Frage, inwiefern auf Basis islamischer Prinzipien postautoritäre Ausrichtungen von Staat und Gesellschaft zu begründen sind oder sich daraus nicht mehr oder weniger zwangsläufig neue Formen des Autoritarismus ergeben. Bemerkenswert scheint überdies, dass die Autorin weit davon entfernt ist, den Islam als Alleinstellungsmerkmal der Verfassung von 2012 zu identifizieren: Was sie stattdessen vorlegt, ist eine Untersuchung, die neben mancher Zäsur auch zahlreiche Kontinuitäten zur Tradition der ägyptischen Verfassungsgeschichte belegt.
Cemal Karakas erörtert zum Abschluss des dritten Teils des Buches die neueren Entwicklungen im Beziehungsfeld von Islam und Politik in der Türkei, wobei der Aufstieg und das Wirken der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP (Adalet ve Kaalkinma Partisi – Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) im Mittelpunkt stehen. Dabei lässt er sich von der oft aufgeworfenen Frage leiten, ob und inwiefern die türkische Demokratie eine Vorbildfunktion für die arabischen Gesellschaften erfüllen kann. Zwar sei es der Türkei gelungen, im Rahmen der Kemalistischen Trinität Republikanismus, Nationalismus und Laizismus den politischen Islam in den demokratischen Pluralismus zu inkorporieren und dadurch zu mäßigen. Doch begünstigten eine Reihe von Demokratiedefekten ihrerseits die Politisierung des Islam und die Autoritarisierung der Regierungspartei zwecks Absicherung der eigenen Macht. Im Ergebnis käme es zu einer weiteren Perpetuierung der Demokratiedefekte in der Türkei und aus diesem Grund könne das Land nur bedingt ein Leitbild für muslimische Demokratien im arabischen Erfahrungsraum sein.
Zu Teil IV Zwischen Integration und Parallelwelt
Den vierten und letzten Themenblock eröffnet Stefan Luft mit Anmerkungen zur Integrationsdebatte in Deutschland und in Frankreich. Er gibt zunächst einen Überblick über die wesentlichen Indikatoren, an denen die Integration der Gruppe der Muslime abzulesen ist, wobei fehlende Datengrundlagen zur Religionszugehörigkeit eine Erfassung erschweren. Daran schließt sich eine Darstellung der Zuwanderung von Muslimen an, die die mangelnde Steuerung durch die Aufnahmestaaten als Charakteristikum für beide Länder identifiziert. Obwohl Integrations- und Islampolitik in Frankreich und Deutschland ansonsten unterschiedliche Schwerpunkte aufweisen, ähneln sie sich doch darin, dass die politischen Akteure die Aspekte „Integration“ und „Islam“ dort häufig zusammenfassen. Während die einen dabei islamische Organisationen als Integrationsagenturen in die Pflicht nehmen wollen, sehen Islamkritiker sie unverändert als Integrationsbarriere an. Damit wurde – so die von Luft vertretene These – einer Islamisierung der Probleme Vorschub geleistet.
Anita Schönfeld behandelt in ihrem Artikel die staatlichen Versuche einer Institutionalisierung der Ausbildung von Imamen in Deutschland. Sie zeigt zunächst, wie der Imam in den letzten Jahren als Objekt der deutschen Islampolitik ins Blickfeld rückte, sodann wie der Staat gezielt durch die Produktion theologischen Wissens Einfluss auf die Integrationsbereitschaft der Muslime zu nehmen versucht. Durch die institutionelle Inkorporation der muslimischen Pastoralmacht in Gestalt einer universitären Theologie verfolge der Staat das Ziel, die Überzeugungen, Einstellungen und Lebensweisen der muslimischen Subjekte in Einklang mit liberal-demokratischen Ordnungsvorstellungen zu bringen. Begünstigt durch die Anpassungsforderungen der säkularen Umgebung, werde der islamischen Theologie die Aufgabe zugedacht, als „Agentur der Selbstsäkularisierung und Selbstmodernisierung des Islam“ zu dienen. Die selektive Einbeziehung islamischer Verbände zeige schließlich, dass sich der Staat auf eine Gratwanderung zwischen Anerkennung und Vereinnahmung begeben habe.
Ebenfalls die deutsche Religionspolitik gegenüber dem Islam hat Khadija Katja Wöhler-Khalfallah im Visier, wenn sie zu belegen sucht, das die Islamische Gemeinschaft in Deutschland (IGD), die starken Einfluss auf den Zentralrat der Muslime in Deutschland ausübt, sowie die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG), die wiederum die größte Mitgliederorganisation im Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland ist, infolge ihrer ideologischen, neosalafistischen Ausrichtungen höchst prekäre Partner auf dem Weg zur Integration der Muslime in den demokratischen Rechtsstaat wären. Ihr äußerst kritischer, bisweilen alarmierender Beitrag bestätigt nicht nur, weshalb die von der IGD und der IGMG dominierten islamischen Spitzenverbände derzeit nicht (mehr) an der Deutschen Islam Konferenz teilnehmen, sondern stellt indirekt auch die Frage, welche Gruppierungen die hier lebenden Muslime de facto angemessen vertreten. Die Tatsache, dass längst theoretische Ansätze für einen liberalen Reformislam existieren, auf deren Basis ein Konvenieren von islamischer Religion und demokratischem Verfassungsstaat zweifellos möglich wäre, ändert deshalb nicht daran, dass die politische Realisierung eines solchen Projekts unverändert auf gravierende Widerstände stößt.
Der Schlussbeitrag von Alexander Yendell thematisiert das Phänomen, dass die Wahrnehmung in der Bevölkerung die islamische Religion als Integrationshindernis bisweilen stark überschätzt, anstatt die Integrationspolitik selbst einer Überprüfung zu unterziehen. In einem Vergleich europäischer Staaten weist Yendell nach, dass diese Haltung in Deutschland noch stärker als in anderen Ländern Fuß gefasst hat und vor allem in den neuen Bundesländern Höchstwerte erreicht. Zur Erklärung bemüht er sowohl mikro- als auch makro-soziale Einflussfaktoren, was einerseits die Bedeutung der Kontaktthese für die Ausbildung von differenzierten Urteilen über Muslime sowie andererseits die Wirkungen, die das ethnische Staatskonzept bis heute auf das Bild der Muslime hierzulande ausübt, unterstreicht. Angesichts der konstatierten islamophoben Einstellungen innerhalb der deutschen Bevölkerung ergibt sich aus seinem Beitrag der dringende Bedarf, den öffentlichen Selbstverständigungsdiskurs der Gesellschaft voranzutreiben.
Diskussion
Etwa 60 Prozent aller Muslime weltweit leben in Süd- und Südostasien, in der arabischen Welt leben dagegen nur etwa 20 Prozent aller Muslime. Die vier Länder mit den meisten Muslimen sind Indonesien, Pakistan, Indien und Bangladesch. Deshalb ist der Titel des Buches etwas irreführend. Er hätte besser lauten sollen: Demokratie und Islam in der arabischen Welt (und der Türkei).
Zielgruppen
Zielgruppen sind Forschende, Lehrende und Studierende aus den Disziplinen Politik-, Sozial- und Religionswissenschaft, Theologie und Philosophie sowie Journalisten und Politikberater
Fazit
Der Sammelband enthält eine aktuelle und fundierte theoretische und empirische politikwissenschaftliche Analyse zum Thema „Demokratie und Islam in den Ländern der arabischen Welt“.
Rezension von
Prof. Dr. Uwe Helmert
Sozialepidemiologe
Es gibt 101 Rezensionen von Uwe Helmert.