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Michael Reitz: Helm Stierlin

Rezensiert von Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens, 10.08.2015

Cover Michael Reitz: Helm Stierlin ISBN 978-3-8497-0032-4

Michael Reitz: Helm Stierlin. Zeitzeuge und Pionier der systemischen Therapie. Carl Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2014. 176 Seiten. ISBN 978-3-8497-0032-4. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 28,50 sFr.

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Thema

Das vorliegende Buch beinhaltet die erste Biografie von Helm Stierlin (Jg. 1926; https://de.wikipedia.org/wiki/Helm_Stierlin), dessen Name im deutschsprachigen Raum wie kein zweiter verbunden ist mit der Entfaltung der Familientherapie und deren Fortentwicklung zur Systemischen Therapie. Eine Biografie verfassen meint: eine Figur zu zeichnen (oder dies zumindest zu versuchen). Das Zeichnen von Figuren setzt einen Hintergrund voraus – oder auch mehrere Hintergründe; familiärer / familiengeschichtlicher Art oder auch zeit- und professionsgeschichtlicher.

Den letzten malt der Autor im vorliegenden Falle in gleich zwei Kapiteln aus: Im 2. („Die Geburt der systemischen Familientherapie aus dem Geist der Kommunikation – Der Sinn von Krankheit“) und im 4. („Das Heidelberger Modell der systemischen Familientherapie“). Dieser beiden Kapitel wegen könnte man das vorliegende Buch auch als eines zur Geschichte der Familien- und Systemischen Therapie – mit Schwerpunkt auf dem deutschsprachigen Raum – ansehen. Man läge damit nicht falsch. Das Buch ist beides: Eines zu jener Geschichte und eines zur Historie des Helm Stierlin.

Autor

Der Kölner Michael Reitz, Jg.1957, hat nach Verlagsangaben (www.carl-auer.de/programm/autor/michael-reitz/) Philosophie und Kunstgeschichte studiert sowie eine Ausbildung in Tiefenpsychologischer Körpertherapie – sie wird hierzulande meist von Heilpraktiker(inne)n angeboten – absolviert. Seit rund zwei Jahrzehnten ist er als freier Hörfunkjournalist sowie Publizist tätig und Autor von über 200 längeren Features, Radioessays, Wissenssendungen und Hörfunkporträts zu den Themen Psychologie, Lebenshilfe, Philosophie, Literatur, Kulturwissenschaften und -theorien. Darunter sind (vgl. S. 174 – 175) Beiträge zur (nonverbalen) Kommunikation, zum Konstruktivismus und zur Kybernetik sowie zu philosophischen Fragen, die auch die moderne Systemtheorie interessieren (vgl. etwa „Der Geist ist sich selbst voraus“: www.deutschlandfunk.de/der-geist-ist-sich-selbst-voraus).

Entstehungshintergrund

Der Autor ist kein Insider und auch nicht „vom Fach“. Aber möglicherweise erklärt gerade dies, weshalb er und nicht jemand, der Helm Stierlin näher stand / steht und / oder in der Familientherapie bzw. Systemischen Therapie beheimatet ist, die erste Stierlin-Biografie vorlegt. Und das genau 40 Jahre, nachdem Helm Stierlin 1974 an die neu gegründete Abteilung „Psychoanalytische Grundlagenforschung und Familientherapie“ des Heidelberger Universitätsklinikums berufen worden war. Dieser Jubiläumstermin dürfte eine Rolle bei der Entstehung des Buches, zumindest seines Erscheinungstermins gespielt haben.

Die Idee dazu wurde nach Bericht des Autors (vgl. S. 9) im Mai 2012 geboren. Damals hatte er Helm Stierlin auf dem Heidelberger Symposion „Wie kommt Neues in die Welt“ zufällig (!) getroffen und war von jenem auf Bitte um ein Interview hin nach Hause eingeladen worden. Auf diesem und weiteren Interviews beruhen viele Angaben und machen einen Teil des Textes aus (vgl. S. 7). Helm Stierlins Ehefrau und frühere Mitarbeiterin sowie die Tochter des Paares trugen korrigierend und ergänzend zur biographischen Darstellung bei (vgl. S. 160). All dies in Rechnung gestellt, hat man in der vorliegenden Biografie eine „autorisierte“ zu sehen. Und ohne den Segen des wissenschaftlichen Beirats, in dem sich viele namhafte Vertreter der deutsch(sprachig)en Systemischen Therapie finden, wäre das Buch nicht im Carl-Auer Verlag erschienen.

Informationen anderer Art verdankt der Autor Fritz B. Simon (https://de.wikipedia.org/wiki/Fritz_B._Simon), „der wertvolle Informationen über die Heidelberger Gruppe beisteuerte“ (S. 160) und als Informant als höchst wertvoll einzuschätzen ist, auch wenn er nicht der ersten Generation der „Heidelberger“ angehört(e), sondern erst ab Anfang der 1980er dabei war, dann aber dort und für die gesamte deutsch(sprachig)e Systemische Therapie große Bedeutung erlangte. Auf eine andere Quelle, eine von „geradezu unschätzbarem Wert“ (S. 160) fand der Autor für die in Kapitel 2 erfolgte Darstellung der (Entwicklung der) Familien- und Systemischen Therapie. Im SS 2009 hatte das Institut für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie – in dieses war das frühere Stierlin-Institut umgewidmet worden – in Kooperation mit dem Helm Stierlin Institut (www.hsi-heidelberg.com/) zu einer Reise durch die Geschichte der Familien- und Systemischen Therapie eingeladen. Die Mitschnitte dieser Semesterveranstaltung wurden dem Autor von Rüdiger Retzlaff (www.ruediger-retzlaff.de) und Manfred Cierpka (www.cierpka.de), dem Ärztlichen Direktor des genannten Instituts und damit in gewissem Sinne Stierlin-Nachfolger, zur Verfügung gestellt.

Aufbau und Inhalt

Das Buch besteht aus fünf Kapiteln und je drei kleinen Buchteilen davor und danach. Zu den voran stehenden gehören eine sehr kurze Vorbemerkung, deren zentrale Botschaft lautet: „Personen, die diese Biographie als akademischen Aufsatz missverstehen, werden verbannt“ (S. 7). In Prolog einer Individuation schildert der Autor ein Krankheitsszenario des damals elfjährigen Helm Stierlin, die er als eine Schlüsselszene bewertet. Der Einleitung sind Angaben über die Entstehungsgeschichte des Buches zu entnehmen.

Nach den gleich noch näher zu betrachtenden fünf Kapiteln, die den Kern des Buches ausmachen, findet sich zunächst eine Danksagung, die weitere Angaben über die Entstehungsgeschichte des Buches beinhaltet, dann unter der Überschrift Biografie auf zweieinhalb Seiten gedrängte Angaben zu Leben, Werk und Wirken Helm Stierlins zwischen 1926 und 2010 und schließlich eine Bibliografie, in der zunächst Publikationen und Radiosendungen von sowie Interviews mit Helm Stierlin aufgelistet sind. Anschließend finden sich weitere Literatur und Hörfunksendungen – ohne dass markiert wäre, ob sie als Quellen dienten. Und schließlich wird eine Auflistung von Zeitschriften zur Familien- und Systemischen Therapie geboten.

Das erste der fünf, den Kern des Buches ausmachenden Kapitel, trägt die Überschrift

1 Kindheit, Jugend und Studium (rund 30 Seiten), in dem uns die drei Jahrzehnte zwischen 1926, dem Geburtsjahr Helm Stierlins, und 1957, dem Jahr seines ersten Ortswechsels in die USA vor Augen geführt werden.

Die Überschrift von Kapitel

2 Die Geburt der systemischen Familientherapie aus dem Geist der Kommunikation – Der Sinn von Krankheit (bald 40 Seiten) ist dem Titel von Friedrich Nietzsches „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ nachempfunden. Nicht zu Unrecht, geht es doch hier wie dort um Klärung einer Entwicklung, die vielleicht weniger Verwandlung als Entpuppung ist. Dass „Krankheit“, von wem, unter welcher Perspektive und zu welchem Zweck auch immer definiert, nicht Sinn-los ist, sondern einen Sinn hat oder zumindest haben kann, gehört spätestens seit Sigmund Freud zum Allgemeinwissen; Fragen nach einem eventuellen „Krankheitsgewinn“ (vgl. etwa Heekerens, 2008) sind lediglich Varianten der Sinn-Frage. Die die Frage nach dem Sinn (und dem „Gewinn“) von Krankheit wurde noch einmal neu und in radikalerer Weise als zuvor gestellt von der Es war die Familien- und Systemische Therapie. Und an deren US-amerikanischer Entwicklungsgeschichte hatte Helm Stierlin, damals in den USA weilend, direkt und indirekt, als Beobachtender wie als Mitwirkender teil.

Kapitel 3 Rückkehr nach Deutschland (knapp 10 Seiten). Die an Fragen der Psychotherapie interessierte Öffentlichkeit – und eben nicht nur das Fachpublikum – wusste oder ahnte zumindest, wer da 1974 nach Heidelberg kam: Drei Jahre zuvor war Helm Stierlins „Das Tun des Einen ist das Tun des Anderen“ erschienen – bei suhrkamp taschenbuch, das in eben diesem Jahr gegründet worden war, bei den Linksalternativen des Landes aber schon damals große Beachtung fand. Mit der Betrachtung dieses Buches beginnt das vorliegende Kapitel, das uns dann Helm Stierlin als Leiter seines Instituts und Führungskraft seiner über die Jahre wechselnden Mitarbeiter(innen) zeigt. Das war, darauf sei an dieser Stelle eigens hingewiesen, weil dies angesichts der Strahlkraft des „alten“ Heidelberger Instituts meist überschätzt wird, eine kurze Zeit: von 1974 bis 1991, knappe 17 Jahre.

In Kapitel 4 Das Heidelberger Modell der systemischen Familientherapie (bald 50 Seiten) wird zunächst das Heidelberger Modell dargestellt: mit seinen zuerst vier „Perspektiven“ (eigentlich „Tiefenschärfen“, wie Helm Stierlin immer wieder betonte): Bezogene Individuation, Bindung / Ausstoßung, Delegation, Vermächtnis / Schuld, wozu sich noch vor 1980 „Gegenseitigkeit“ gesellte. Das nach der Begegnung mit und unter dem Einfluss der Mailänder Gruppe, die auch in Fragen des Therapiesettings vorbildhaft wirkte. Allgemeine Arbeitsprinzipien waren schon vor 1980 Allparteilichkeit, Aktivität, Nichtpathologisierung und Ressourcenaktivierung. Nach 1980 kam es dann unter dem Einfluss radikalkonstruktivistischen und hypnotherapeutischen Gedankenguts zu einer weiteren Revolutionierung der Theorie und Praxis der Heidelberger Arbeit, die ab dann zunehmend mehr Züge einer wahrlich Systemischen Therapie trug.

Mit 5 Helm Stierlin als Zeitdiagnostiker und Sozialphilosoph (knapp 20 Seiten) schließt der Zentralteil des Buches. Helm Stierlin war Philosoph vom Fach. Vor der Promotion in Medizin, wurde er 1950 in Philosophie bei Karl Jaspers mit Der Begriff der Verantwortung: Versuch einer Erörterung der pragmatischen Wissenschaftsethik John Deweys in Gegenüberstellung mit der Ethik Kants unter Berücksichtigung von Max Webers Wissenschaftsbegriff“. Seine o.g. Arbeit „Das Tun des Einen ist das Tun des Anderen“, seine Konzeptualisierung von „Gegenseitigkeit“ und überhaupt seine Art, über den Tellerrand der Medizin hinaus zu blicken, war immer philosophisch be- und gegründet – was in Heidelberg eine lange Tradition hatte.

Als 1992 im Carl Auer – Verlag sein Buch „Nietzsche, Hölderlin und das Verrückte. Systemische Exkurse“ erscheint, ist den üblichen Eingeweihten klar: Der Emeritus denkt keineswegs an Ruhestand. Betrachtungen zu diesem Buch und ein längeres Interview des Autors mit Helm Stierlin, der sich v. a. als Zeitdiagnostiker zeigt, machen den Großteil dieses letzten Kapitels aus.

Diskussion

In seiner Vorbemerkung (S. 7) zitiert der Autor folgende Passage aus Thomas Fuchs´ Mark Twains-Biografie von 2012: „Personen, die in dieser Biografie nach Fußnoten suchen, werden gerichtlich verfolgt. Personen, die diese Biographie als akademischen Aufsatz missverstehen, werden verbannt. Auf Befehl des Autors.“ Manche möglichen Leser(innen) mögen an dieser Stelle das Buch beiseite legen – verbunden mit dem Wunsch, es möge doch eines Tages eine „wissenschaftliche“ Biografie über Helm Stierlin erscheinen. Solches Beiseitelegen könnte ein Fehler sein, denn erst nach der Lektüre des vorliegenden Buches kann man (und frau) klarer definieren, welche Wünsche (im Wissenschaftsjargon: „Desiderata“) an eine solche zukünftige Biografie zu stellen seien. Der Rezensent formuliert einige davon weiter unten. Zunächst aber sei doch, die o.g. Vorbemerkungen wohl eingedenk, an Hand dreier Punkte auf Schwächen des vorliegenden Buches aufmerksam gemacht; so viel „immanente“ Kritik muss sein.

Da gibt es erstens Passagen, die doch zu wenig in die Breite und/oder in die Tiefe gehen. Nehmen wir etwa das Kapitel über Helm Stierlins Zeit an seinem Heidelberger Institut. Wer sich beispielsweise eingehender darüber informieren möchte, wie Helm Stierlin von seinen früheren Mitarbeiter(inne)n gesehen wurde, sei auf zwei Aufsätze in Heft 1/2006 (in dem Jahr wurde Helm Stierlin 80) der Zeitschrift „Kontext“ verwiesen: Fritz B. Simonsund Gunthard Webers „Das eine Tun ist das andere Tun – Helm Stierlins Erfolgsstrategien“ (S. 49-59) und Michael WirschingsFamilien-(Psycho-)Somatik – Heidelberger Beiträge. Zum 80. Geburtstag von Helm Stierlin“ (S. 60-63). Und über Entwicklungsprozesse im Heidelberger Team informiert ein vierter „Heidelberger“, Gunther Schmidt in / mit „Wer einigermaßen der Gleiche bleiben will, muß sich ständig verändern … oder: die Metamorphose der Heidelberger Therapiegruppe als Beispiel für die Entwicklung eines kooperativen Nicht-Nullsummenspiels“ (Familiendynamik, 1991, 16, S. 145 – 163).

Dann gibt es zweitens Ausführungen, die doch allzu sehr durchscheinen lassen, wie wenig tief der Autor mit der von ihm behandelten Materie vertraut ist. Da heißt es etwa: „In Deutschland und Europa beginnt die Verankerung der systemischen Familientherapie gegen Ende der 1970er Jahre, zunächst im klinischen Bereich.“ (S. 79) Da scheint mir übersehen, dass die (frühere) Familien- und (spätere) Systemische Therapie ihren Nährboden in zumindest gleichem Maße wie im Geltungsbereich des SGB V auch in jenem des SGB VIII findet. Das gilt nicht nur für heute, sondern auch für gestern: Nicht nur in medizinischen Einrichtungen, sondern auch in solchen der Sozialen Arbeit fand die Familientherapie schnell Verbreitung und schlug tiefe Wurzeln (vgl. etwa Heekerens, 1986; Heekerens & Henkelmann-Strickler, 1980).

Und dann gibt es, drittens, Geschmacksfragen. Ich habe allen Respekt für literarische Freiheit, ein großes Verständnis für literarische Gestaltungsmittel und empfinde es meist als belebend, wenn der Autor vom oft allzu eintönigen Wissenschaftsjargon abweicht. Aber er überschreitet dabei mitunter die Grenzen des guten Geschmacks. Und an einem Punkt wird das allzu deutlich. Da formuliert der Autor im Zusammenhang der Darstellung von Theodore Lidz (1910 – 2001): „Ein weiteres Charakteristikum solch abschüssiger Verhältnisse ist nach Lidz die schismatische Konstellation: Der Kampf wird offen und mit allen Mitteln ausgetragen – so vehement, dass Goebbels´s megalomane Sportpalast-Frage (‚Wollt Ihr den totalen Krieg?’) daneben wie die Präambel eines Friedensvertrages wirkt.“ (S. 49) Im Protokoll jener Rede findet sich u. a. die Passage (www.1000dokumente.de): „Das Ziel des Bolschewismus ist die Weltrevolution der Juden. Sie wollen das Chaos über das Reich und über Europa hereinführen, um in der daraus entstehenden Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung der Völker ihre internationale, bolschewistisch verschleierte kapitalistische Tyrannei aufzurichten. (Die Menge gibt ihrer Entrüstung durch laute Pfui-Rufe Ausdruck.)“ Jede Konnotion der Goebbelschen Sportpalast-Rede, die von Opfern der Nazi-Verbrechen oder deren Sprecher(innen) als „Verharmlosung“ angesehen werden könnte, hat nach meiner Beurteilung kein Recht.

Nach diesen drei kritischen Anmerkungen zum Buch, seien abschließend vier bei dessen Lektüre aktualisierte Wünsche („Desiderata“) an eine künftige Biografie über Helm Stierlin genannt.

  1. Da ist zunächst einmal in hinreichender Breite und Tiefe die Frage zu klären: In was für ein Deutschland, in welches Heidelberg kommt denn Helm Stierlin 1974? Da kann man Notizen einer sachkundigen externen Beobachterin wie Ruth Cohn ((Farau & Cohn, 1984) heran ziehen oder sich von Sven Reichardt, (2014) darüber aufklären lassen, welchen Beitrag die „Linksalternativen“ auch und gerade in Heidelberg in den frühen 1970ern zum Entstehen es „Psychobooms“ beitragen. Einen Beitrag zu vermehrtem Interesse an Psychotherapie, und hier gälte es tiefer zu forschen, leistete in Heidelberg auch die 1973 erfolgte Berufung des Tausch-Schüler Reiner Bastine (https://de.wikipedia.org/wiki/Reiner_Bastine) auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für Klinische Psychologie am Psychologischen Institut; erstmals konnten – und sie taten das in reichlichem Maße – angehende Diplom-Psycholog(inn)en den Studienschwerpunkt Klinische Psychologie studieren. Deren obligatorische Psychopathologieprüfung nahm der (noch am „Göring-Institut“ ausgebildete) Psychoanalytiker Walter Bräutigam (www.klinikum.uni-heidelberg.de) ab. Ihn und sein Tun müsste man unter dem Gesichtspunkt der Wegbereitung für die deutsche Familientherapie näher betrachten. Er war seit 1968 – in der Nachfolge Alexander Mitscherlichs – Leiter der Psychosomatischen Klinik. Die Gründungen der Institute für Medizinische Psychologie (heute ist dort Jochen Schweitzer Leiter der Sektion Medizinische Organisationspsychologie) und des Stierlin-Instituts wurden von ihm initiiert. Und auch später zeigte er sich sehr entgegen kommend, beispielsweise indem er Räumlichkeiten seines Instituts für familientherapeutische Ausbildungen zur Verfügung stellte.
  2. Eine zweite Frage, zu der man sich eine Antwort wünscht lautet: Was ist / war sein Verhältnis zu „Weinheim“. Offensichtlich den gedanklichen Vorgaben Helm Stierlins folgend, kommen dem Autor neben „Heidelberg“ nur „Gießen“ (Horst-Eberhard Richter; https://de.wikipedia.org/wiki/Horst-Eberhard_Richter) und „Göttingen“ (Eckhard Sperling; https://de.wikipedia.org/wiki/Eckhard_Sperling) in den Blick – nicht aber „Weinheim“. In dem Kleinstädtchen Weinheim, unweit Heidelbergs gelegen, eröffnet 1975 die Virginia-Satir-Schülerin Maria Bosch das Maria-Bosch-Institut für Familientherapie und ebnet damit hierzulande der humanistisch-experientiellen Familientherapie den Weg. Eine Erfolgsgeschichte begann: Das IF Weinheim – Institut für systemische Ausbildung und Entwicklung, eine der beiden Weinheimer Geschwisterinstitute, lässt auf ihrer Homepage wissen: „1975 gegründet, engagieren wir uns seit nunmehr 40 Jahren als ältestes systemisches Institut in Deutschland für die Entwicklung und Verbreitung systemischer Ideen.“
  3. Die dritte Frage betrifft Bert Hellinger: Gehört er zu „Heidelberg“ oder nicht? Tatsache ist: Als Bert Hellinger Anfang der 1990er die Bühne der deutsch(sprachig)en Familien- und Systemischen Therapie betrat, hatte ihm kein anderer den Weg dahin mehr geebnet und dort in der Szene mehr „salonfähig“ gemacht als der „Heidelberger“ Gunthard Weber (www.gunthard-weber.de/). Das von ihm heraus gegebene Buch „Zweierlei Glück“ ist ein Bestseller: 1995 erstmals erschienen wurde es (bislang) in 18 Sprachen übersetzt und erschien in der deutschen Ausgabe 2013 in 17. Auflage. Verändert wurde seither allerdings der Untertitel, lautete der frühere „Die systemische Psychotherapie Bert Hellingers“ so heißt es heute „Das Familienstellen Bert Hellingers“. Um die Frage zu präzisieren, zunächst eine Verneinung: Es soll nicht um ein weiteres Für und Wider in Sachen Bert Hellinger gehen. Vielmehr wäre die Frage zu klären, warum er gerade für „Heidelberg“ eine solche Faszination ausübte? Konnte er eine Leer-Stelle besetzen, die „Heidelberg“ geschaffen hatte?
  4. Eine vierte und letzte mir offen erscheinende Frage ist folgende: Wie eigentlich kam es von Helm Stierlins Seite her zur Zusammenarbeit mit Ronald Grossarth-Maticek (https://de.wikipedia.org/wiki/Ronald_Grossarth-Maticek), deren gemeinsames Buch „Krebsrisiken – Überlebenschancen. Wie Körper, Seele und soziale Umwelt zusammenwirken“ (Heidelberg: Carl-Auer) 2006 seine dritte Auflage erfuhr? Viele, die beide seit alten Heidelberger Tagen einigermaßen kennen, wundern sich darüber.

Rezeptionsgeschichte

Man kann die Diskussion des vorliegenden Buches nicht abschließen, ohne einige Bemerkungen zu seiner Rezeptionsgeschichte zu machen. In der Presseinformation des Verlags wird Gunthard Weber – er ist dessen Geschäftsführender Gesellschafter – zitiert mit den Worten: „Obwohl ich 40 Jahre mit Helm Stierlin befreundet bin und dachte, ihn hinreichend zu kennen, habe ich Neues erfahren und dieses Buch gerne gelesen.“ Aber rezensiert hat er es (bislang zumindest) nicht, ebenso wenig wie andere „Heidelberger(innen)“ oder sonstige Systemische Therapeut(inn)en. Warum eigentlich nicht?

Die einzige Rezension von fachlicher Seite hat der Psychoanalytiker Tilmann Moser, der zwar kein Systemiker ist, aber Helm Stierlin schätzt (vgl. www.schoah.org/zweite-generation/wardi-0.htm), im Februar 2015 im Deutschen Ärzteblatt PP veröffentlicht (www.aerzteblatt.de/archiv/): „ausgezeichnete Monografie über Stierlins Ausbildung und allmähliche Modifikation der Methode“, „einfühlsam beschriebene Biografie“. In den beiden großen deutsch(sprachig)en Zeitschriften für Systemische Therapie, der „Familiendynamik“ und der „Systhema“ ist sehr wohl Platz für Rezensionen – und wäre damit Raum für eine Rezension des vorliegenden Buches. An mangelndem Interesse für historische / biographische Betrachtungen dürfte das nicht scheitern. Die „Familiendynamik“ wartet in Heft 4/2014 mit vier „Im Fokus“-Artikeln und einem Interview zu Virginia Satir auf, und Heft 1/2015 der „Systhema“ ist dem Themenschwerpunkt „40 Jahre IF Weinheim“ gewidmet.

Fazit

Solange es keine zweite Biografie über Helm Stierlin gibt, ist die vorliegende die beste. Und was das Buch als Beitrag zur Geschichte der Familien- und Systemischen Therapie anbelangt: Ja sicher, es gibt (aber woher kommen die jeweiligen Maßstäbe?) vielleicht „seriösere“ Darstellungen -kürzerer (wie etwa bei Sydow, 2015) oder länger Art (wie z. B. bei Schlippe & Schweitzer, 2012). Für die meisten an Fragen der „Wissenschaft(lichkeit)“ weniger interessierten Leser(innen) dürften die Ausführungen im vorliegenden Buch schlichtweg unterhaltsamer wirken. Kurzum: Das vorliegende Buch ist allen in der Sozialen Arbeit Tätigen, Lehrenden oder sich darin Ausbildenden, die sich für die Familien- Systemische Therapie gestern und heute interessieren, zur Lektüre zu empfehlen. Angehörige anderer Professionen und Disziplinen, die auf (Nicht-)Empfehlung aus ihrer jeweiligen Referenzgruppe nicht warten wollen, sollten das Wagnis einer Lektüre ebenfalls eingehen.

Literatur

  • Farau, A. & Cohn, R. C. (1984). Gelebte Geschichte der Psychotherapie. Zwei Perspektiven. Stuttgart: Klett – Cotta.
  • Heekerens, H.-P. (1986). Zehn Jahre Familientherapie in Erziehungsberatungsstellen Entwicklung und Fehlentwicklung. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 35, 294 302.
  • Heekerens, H.-P. (2008). Funktion, Krankheitsgewinn und Passung – Variationen eines therapeutischen Themas. Psychotherapie, 13, 147-154.
  • Heekerens, H.-P. & Strickler-Henkelmann, S. (1980) Von der herkömmlichen zur familientherapeutischen Beratung. Mitteilungen der Ev. Landeskirche in Baden, H. 10, 38 42.
  • Reichardt, S. (2014). Authentizität und Gemeinschaft. Berlin: Suhrkamp (Socialnet Rezension: www.socialnet.de/rezensionen/16987.php).
  • Hans-Peter Heekerens. Rezension vom 17.07.2014 zu: Sven Reichardt, S. (2014). Authentizität und Gemeinschaft. Berlin: Suhrkamp (Socialnet Rezension: www.socialnet.de/rezensionen/16987.php, Datum des Zugriffs 05.08.2015).
  • Schlippe, A. v. & Schweitzer, J. (2012). Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung I. Das Grundlagenwissen. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht (Socialnet Rezension: www.socialnet.de/rezensionen/13565.php).
  • Sydow, K. v. (2015). Systemische Therapie. München: Reinhardt (Socialnet Rezension: www.socialnet.de/rezensionen/18991.php).

Rezension von
Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens
Hochschullehrer i.R. für Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Pädagogik an der Hochschule München
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Es gibt 174 Rezensionen von Hans-Peter Heekerens.

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Zitiervorschlag
Hans-Peter Heekerens. Rezension vom 10.08.2015 zu: Michael Reitz: Helm Stierlin. Zeitzeuge und Pionier der systemischen Therapie. Carl Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2014. ISBN 978-3-8497-0032-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19284.php, Datum des Zugriffs 04.06.2023.


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