Anti-Bias-Netz (Hrsg.): Vorurteilsbewusste Veränderungen mit dem Anti-Bias-Ansatz
Rezensiert von Prof. Dr. Christiane Vetter, 01.02.2016
Anti-Bias-Netz (Hrsg.): Vorurteilsbewusste Veränderungen mit dem Anti-Bias-Ansatz. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2015. 125 Seiten. ISBN 978-3-7841-2608-1. D: 19,00 EUR, A: 19,60 EUR, CH: 27,50 sFr.
Autorinnen
Die Autorinnen dieses Buches, Cvetka Bovha, Nele Kontzi, Jetti Hahn, Žaklina Mamutovič, Annette Kübler sowie Patricia Göthe sind freiberuflich tätige Fortbildnerinnen im Anti-Bias- Netzwerk Berlin. Sie wenden den antidiskriminierenden Ansatz zur vorurteilsbewussten Veränderung in Schulen, in der Kinder- und Jugendarbeit in Kindertages- und Bildungseinrichtungen sowie bei der Vorbereitung zum Freiwilligendienst an, und wollen Anti-Bias verbreiten. Die Autorinnen arbeiten darüber hinaus als Lehrerinnen und Diplompädagoginnen, Moderatorinnen, Beraterinnen und Fortbildnerinnen.
Thema und Zielsetzung
Mithilfe des Buches sollen Hintergründe und Erfahrungen zum Anti-Bias-Ansatz dargestellt und Praktikerinnen und Praktiker in einer kritischen Haltung und Arbeitsweise bestärkt werden (vgl. S. 9). „Anti-Bias ist ein provokatives, diversitätsbewusstes und diskriminierungskritisches Praxiskonzept.“ „Anti-Bias versteht sich als intersektionaler Ansatz, der die verschiedenen Formen von Diskriminierung als Ausdruck gesellschaftlich ungleicher Positionen und Machtverhältnisse und ihre vielschichtigen gegenseitigen Verstrickungen in den Blick nimmt“ (S.11)
Aufbau
Das Buch gliedert sich in neun Kapitel, die nach der Einleitung und vor einem Glossar, Literaturtipps zu Methodenhandbüchern, die im Internet angeboten werden in die Thematik des Anti-Bias- Ansatzes einführen. Biografische Informationen zu den Autorinnen golfen zum Schluss.
Inhalt
Einleitung
In der Einleitung erfahren die Leserinnen und Leser, was den Anti-Bias-Ansatz auszeichnet. Er entwickelte sich aus der politischen Strategie der antirassistischen amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der 1960er- Jahre. In den 1990er- Jahren konzipierte Louise Derman-Sparks, im Austausch mit der Fachstelle Kinderwelten in Berlin, das Konzept „vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung – ein inklusives Praxiskonzept für Kitas“, das bis heute praktiziert wird. Darüber hinaus wird der Anti-Bias- Ansatz in Deutschland für die politische Bildungsarbeit genutzt. Er setzte einen Change Prozess in Gang, der unter den Stichworten „vom Süden-lernen“, „neue Perspektiven für den globalen Norden und Süden“ den Entwicklungsdienst nachhaltig veränderte. Anti-Bias spielte auch bei der Beendigung und Aufarbeitung der Apartheid in Südafrika in den 1990er- Jahren eine wichtige Rolle (vgl. S. 12).
Kapitel 1 Denkanstöße für die Soziale Arbeit
Soziale Arbeit greift die Grundannahmen von Anti-Bias auf. „Gemeinsamkeiten finden sich in der Wahrnehmung und Einschätzung gesellschaftlicher Prozesse, in der eigenen Verortung innerhalb der sozialen Systeme, in denen wir agieren sowie im praktischen Vorgehen“ (S. 21). Der Anti-Bias- Ansatz fordert auf, gegen Diskriminierung einzutreten und ein vorurteilsbewusstes Handeln zu entwickeln, um das Menschenrecht auf Inklusion zu verwirklichen.
Bei Anti-Bias-Seminaren wird einerseits Wissen vermittelt und andererseits handlungs- und prozessorientiert mit Gruppen gearbeitet. Es geht um die Sensibilisierung für Macht- und Diskriminierungsprozesse. Die Privilegien der weißen Hautfarbe wahrzunehmen, Normalitätsvorstellungen in Frage zu stellen und Empathie für marginalisierte gesellschaftliche Gruppieren zu entwickeln sowie die eigene berufliche Praxis unter Anti-Bias- Gesichtspunkten zu reflektieren, ist mit einem Einstellungswechsel verbunden. In diesem Kapitel wird die Reichweite des Ansatzes aufgezeigt.
Kapitel 2 Anti-Bias – Ein Ansatz Menschenrechtsbildung in der Grundschule umsetzen
Den Autorinnen geht es darum, zu zeigen, dass Menschenrechtsbildung innerhalb des schulischen Unterrichts auf drei Ebenen möglich ist. Auf der Ebene der Wissensvermittlung werden Menschenrechte und ihre Entwicklungsgeschichte sowie Menschenrechtsverletzungen dargestellt. Auf der Ebene des Verstehens wird der Sinn der Menschenrechte nachvollzogen. Auf der Handlungsebene werden Kinder befähigt, ihre Rechte einzufordern. Bereits kleine Kinder können Menschenrechte achten und lernen, kein Kind auszugrenzen. Nach Louise Derman-Sparks können Kleinkinder unterstützt werden, Ungerechtigkeit zu erkennen und Empathie zu entwickeln, die nötig ist, um Ausgrenzung zu verhindern (vgl. S. 39). Das Anti-Bias- Netzwerk hat mittlerweile Unterrichtsmaterialen analysiert und neues erstellt, das in der Schule genutzt werden kann.
Kapitel 3 Anti-Bias kann vorurteilsbewusste Veränderungsprozesse in Schule unterstützen – Erfahrungen aus der Praxis
Beim Projekt MITEINANDER der Netzwerkstelle Marzahn wurde beim Modellprojekt 2003„starke Kinder machen Schule“ darauf geachtet, dass Schulentwicklung aus der Perspektive des pädagogischen Handelns heraus initiiert wird. Die kritische Auseinandersetzung mit der Unterschiedlichkeit der Geschlechter und die Folgen für eine Bildungsbenachteiligung, z.B. in naturwissenschaftlichen und sozialen Fächern, konnte damals aufgebrochen werden.
Mit der Anti-Bias-
Werkstatt, einer Weiterbildungsqualifikation durch das Netzwerk,
werden bis heute Schulen unterstützt, mit Vielfalt konstruktiv
umzugehen (vgl. S. 47). Mithilfe von Sensibilisierungsworkshops
werden Prozesse der Zugehörigkeit analysiert. Das Geschlecht, die
Hautfarbe/Ethnizität, die Sprachen und Religionen, sozialer Status
als auch Sexualität und körperliche Fähigkeiten tragen dazu bei,
dass Menschen typisiert und Ausgrenzungen ermöglicht werden (vgl. S.
49).
Bei Entwicklungswerkstätten geht es um die Sensibilisierung
für Macht und Diskriminierung sowie den Prozess des „Othering“.
Studientage, Gesamtkonferenzen und die Begleitung von
Steuerungsgruppen eignen sich, um Personalentwicklung zu
unterstützen. Das Kapitel beschreibt die Angebote des Netzwerkes.
Kapitel 4 Mit Eltern gemeinsame Sache machen – vorurteilsbewusste Zusammenarbeit von Schule und Eltern
In der Schule kann die Zusammenarbeit mit Eltern stärker berücksichtigt werden. Eltern können sowohl in Bezug auf die Wünsche für schulische Bildung als auch auf die familialen Kulturen als Bereicherung wahrgenommen werden. „Damit Schulen zukünftig noch mehr zu Orten werden, an denen sich Kinder und ihre Eltern wahrgenommen und zugehörig fühlen, braucht es unter den Pädago_innen einer Schule einen Verständigungsprozess“ (S. 67).
Kapitel 5 „Warum hängt die Weltkarte falsch herum?“ – „Weil ich was seh´, was du nicht siehst!“ Anti-Bias ermöglicht neue Perspektiven
Der Anti-Bias- Ansatz unterstützt globales Lernen. „Ein großes Potenzial von Anti-Bias- Arbeit liegt im aktiven Umgang mit verinnerlichter Dominanz und Unterdrückung. Damit meinen wir neben offensichtlichen Formen von Diskriminierung auch subtilere: Schon als normal empfundene Ausgrenzung muss zum Beispiel stets neu ins Bewusstsein gerufen werden“ (S. 69). Die Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus, der Rassismus ermöglichte, kann über unser Weltbild reflektiert werden. So hatte der Geograf Gehard Mercator 1569 Europa als Mittelpunkt der Welt gezeichnet. Der Norden war oberhalb und der Süden unterhalb Europas dargestellt. Seine Darstellung begünstigte die Entwicklung dominanter globaler Strukturen, mit denen unsere Normalität konstruiert wird. Anti-Bias Seminare stellen das gewohnte Denken in Frage.
Kapitel 6 (Un)Möglichkeiten des Anti-Bias-Ansatzes im Kontext von (internationalen) Freiwilligendiensten
Im Kontext des Freiwilligendienstes ist die politische Bildungsarbeit ein wichtiger Faktor, zur Vorbereitung auf den Einsatz in anderen Ländern. Damit diskriminierende Handlungen eingeschränkt werden, kann mithilfe des Anti-Bias-Ansatzes die Frage geklärt werden: „Wie vermeiden wir, einseitige Bilder von Menschen zu reproduzieren, sei es von Menschen mit Behinderung, Menschen, die von Obdachlosigkeit betroffen sind, die in verschiedenen Regionen der Welt leben etc.?“ (S. 83). Die Sensibilisierung für eine Macht- und Privilegien kritische Perspektive schließt auch die Frage ein, ob Menschen in ihrer Hilflosigkeit oder als handelnde Subjekte, die eine Notlage bewältigen, wahrgenommen werden.
Kapitel 7 Zwischen Colorline und Handlungsmöglichkeiten – für Kinder, Eltern und Pädagog_innen
Der Anti-Bias-Ansatz fordert zur Auseinandersetzung mit dem Prozess des Othering, des Anders-machens auf. Anti-Bias fragt nach Zuschreibungen, die Mädchen und Jungen mit ihrer Hautfarbe z.B. in Kinderbüchern erfahren. Gesellschaftlich relevant prägte die PISA Studie den Begriff „bildungsferne Schichten“. Bildungsforscherinnen und -Forscher entdeckten, „dass Kinder ‚bildungsferner‘ Eltern im deutschen Schulsystem deutlich schlechtere Ergebnisse erzielen als Kinder von Akademiker_innen. Die Nationale Armutskonferenz bezeichnet den Begriff als diskriminierend, da er die Schuld den Betroffenen zuschiebe. Dahinter steht die Frage, wer verantwortlich ist, wenn ein Schulsystem so einseitige Ergebnisse hervorbringt“ (S. 107). Die Sprache erzeugt Unterschiede. Im Anti-Bias- Ansatz ist die sprachliche Sensibilisierung ein zentraler Fokus.
Kapitel 8 Empowerment und Anti-Bias – Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Empowerment ist ein Befähigungsansatz, der in den 1990er- Jahren durch Soziale Arbeit verbreitet, aber bereits durch die soziale Bürgerrechtsbewegung der USA genutzt wird, um die Handlungsfähigkeit von Gruppen oder einzelnen Person zu stärken (vgl. S. 117) Anti-Bias ist als mehrdimensionaler Ansatz ebenfalls darauf ausgerichtet, Menschen zu befähigen. Anti-Bias richtet den Blick auf: verinnerlichte Dominanz und verinnerlichte Unterdrückung.
Kapitel 9 Wie ein Kieselstein im Wasser: Von Empowerment und Sensibilisierung zur gesellschaftlichen Transformation
Der Anti-Bias-Ansatz zielt als ressourcenorientiertes und machtkritisches Konzept auf die Selbstermächtigung gesellschaftlich unterdrückter Gruppen. Durch die „Critical Whiteness Studies“, die Aktivistinnen des „Black Feminism“ und die antirassistische Bildungsarbeit ist Anti-Bias ein intersektionaler Ansatz zur gesellschaftlichen Weiterentwicklung.
Diskussion
Den Autorinnen ist es meiner Ansicht nach gelungen, die vielfältigen Möglichkeiten einer vorurteilsbewussten Veränderung darzustellen, und den Anti-Bias-Ansatz zu differenzieren. Das Buch zeigt Potenziale des Ansatzes auf und macht deutlich, dass Anti-Bias-Arbeit normativ und nicht als Methode darstellbar ist. Das Buch regt die Leserin an, über die eigene Haltung nachzudenken. Gleichzeitig wirft es die Frage nach pauschalen Unterstellungen auf. Mit dem Kriterium der „verinnerlichten Dominanz“ findet eine pauschale Schuldzuweisung statt. Aufgrund der gesellschaftsverändernden Zielsetzung besteht die Gefahr, dogmatisch und selbst ausgrenzend zu werden. Die Grenzen des Ansatzes werden in diesem Buch jedenfalls nicht beleuchtet, und die Autorinnen verzichten darauf, die Schwierigkeiten der Implementierung einer vorurteilsbewussten Pädagogik zu beschreiben.
Fazit
Dieses Buch ermutigt durch die Beschreibung der Hintergründe und Erfahrungen mit dem Anti-Bias- Ansatz. Es macht auch deutlich, wie wichtig diese Arbeit ist und unterstreicht die im Vorwort genannte Situation. „In einer Zeit, in der gesellschaftliche Widersprüche so deutlich zutage treten, braucht es einmal mehr einen klaren, bewussten und kritischen Umgang mit ihnen“ (S.7). Der Umgang mit Unterschiedlichkeit wird das Überleben von Gesellschaften und das Leben in der globalisierten Welt maßgeblich beeinflussen. Aktuell erleben wir in Europa, dass marginalisierte Gruppen sich in Bewegung setzen und rassistische, sexistische und antisemitische Übergriffe erleben, die nicht toleriert werden dürfen. Im Vorwort des Buches heißt es darüber hinaus. „Eine gerechtere Gesellschaft braucht das tägliche kritische und solidarische Engagement vieler Menschen an vielen Orten. Und diese Menschen brauchen eine Bereitschaft zur kritischen Selbstreflexion, eine eindeutige Positionierung gegenüber gesellschaftlichen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten und ein Wissen darum, dass sie nicht alleine sind“ (S. 8). Die Autorinnen wollten einen Raum eröffnen, um die Perspektiven des Ansatzes aufzuzeigen, was ihnen mit diesem Buch gelungen ist.
Rezension von
Prof. Dr. Christiane Vetter
Leiterin der Studienrichtung Soziale Arbeit in der Elementarpädagogik an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart
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Zitiervorschlag
Christiane Vetter. Rezension vom 01.02.2016 zu:
Anti-Bias-Netz (Hrsg.): Vorurteilsbewusste Veränderungen mit dem Anti-Bias-Ansatz. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb
(Freiburg) 2015.
ISBN 978-3-7841-2608-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19316.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.
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