Andreas Reckwitz, Sophia Prinz et al. (Hrsg.): Ästhetik und Gesellschaft
Rezensiert von Dr. Maurice Schulze, 04.09.2017

Andreas Reckwitz, Sophia Prinz, Hilmar Schäfer (Hrsg.): Ästhetik und Gesellschaft. Grundlagentexte aus Soziologie und Kulturwissenschaften.
Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2015.
455 Seiten.
ISBN 978-3-518-29718-6.
D: 18,00 EUR,
A: 18,50 EUR,
CH: 25,90 sFr.
Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Band 2118.
Thema
Bezeichnend für den Umgang mit dem Ästhetischen in der gegenwärtigen Zeit, ist die Verortung ins Überall oder ins Nirgendwo. Auf den ersten Blick meint man, das Ästhetische findet sich marginalisiert in den Nischen und Subkulturen. Fokussiert man dann auf die sozialen Praktiken, oder wie im besprochenen Band als ästhetische Praktiken spezifiziert, zeichnet sich ein Bild, in denen sich das Ästhetische für die Manifestation moderner Gesellschaft allgegenwärtig zeigt. „Die Leitfrage der Texte […] lautet vielmehr, wie sich das Verhältnis von ästhetischen Praktiken und (moderner) Gesellschaft darstellt und wie es zu bewerten ist“ (S. 10). Entgrenzt durchdringt die Idee des Ästhetischen alle Bereiche, die der soziologischen Analyse unterzogen werde: Körper, Lebensstile und -räume, Arbeit, Freizeit, Beziehungen zwischen Subjekten und zu sich selbst. Damit steht die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Ästhetik und Gesellschaft auch im Spannungsverhältnis ihrer Kritiken.
Aufbau
Systematisch führt Andreas Reckwitz mit einem Aufsatz zu seinem Verständnis vom Zusammenhang von Ästhetik und Gesellschaft hin. Daran anschließend bildet der Hauptteil des Buches fünf Phasen gesellschaftlicher Entwicklungen ab, die sich ausgehend vom 18. Jahrhundert glieder lassen.
Hierzu finden sich einleitende Aufsätze zu den jeweiligen Phasen von Sophia Prinz und Hilmar Schäfer, Mitarbeiter am Lehrstuhl von Andreas Reckwitz. Anschließend werden Auszüge aus opulenten klassischen Werken zusammengeführt, die sich unter den Aspekten ästhetischer Gesellschaftsentwicklung in einem neuen Licht lesen und verstehen lassen.
Inhalt
Kapitalisierung, Kommerzialisierung, Unterhaltungs- und Kulturindustrie, sowie die Ökonomisierung sämtlicher Lebensbereiche unterliegen dem Zwang zur Ästhetisierung, der einleitend besonders in den Zusammenhang mit Max Webers Rationalisierung gestellt wird. Neben Selbstreferenzialität und Kreativität, sieht Reckwitz in der Auseinandersetzung von Affiziertheit und Affektneutralität, Interpretation und Information, sowie Spiel und Ordnung, fünf Merkmale ästhetischer Praktiken.
Als ein Dreiphasenmodell ordnet Reckwitz die Entwicklung des Ästhetischen nach Schüben. Die bürgerliche Moderne des 18. Jahrhunderts steht am Anfang dieser Entwicklung und bildet als ein Modell europäischen Ursprungs, in welchem das Bürgertum mit der ihm eigenen „'methodischen Lebensführung' den Prototyp einer zweckmäßigen und/oder moralisch rationalisierten Lebensform bildet“ (S. 32). Die Massenkultur, die sich über die aufstrebende Arbeiterschaft und die Mittelschicht ausbreitet, wird durch Transformationen im Konsum und dem medialen Wandel hin zu den Massenmedien befördert. Hier zeigt sie die Widersprüchlichkeit moderner Entwicklung: Während der Fordismus die Rationalisierung der bürgerlichen Moderne vorantreibt, fördert er andererseits die Ästhetisierung der Alltagswelt. Im dritten Schub breitet sie die Ästhetisierung durch Postfordismus und digitale Kultur vor allem über ästhetische Innovationen und die Kreativökonomie aus. Selbstverwirklichung und Inszenierung des Alltags bilden eine Kultur des Selbst, für die „der kreative Ausdruck und das ästhetische Erleben den motivationalen Kern der Lebensführung bildet“ (S. 41).
Historisch geordnet, gliedert sich das Buch in fünf Abschnitte, in denen zugehörige Auszüge klassischer AutorInnen gebündelt zu finden sind.
Beginnend mit der I. Jahrhundertwende des ausgehenden 18. Jh. hinein in das 19. Jh., werden die Klassiker Georg Simmel und Werner Sombart angeführt.
In den Jahren 1920 bis in die 1940er Jahre spielt sich die zweite Phase ästhetischer Entwicklungen ab. Dabei verweist Sophia Prinz in der Einleitung darauf, dass die Verstädterung die Anonymität befördert, „das enorme Anwachsen von industriell hergestellten Konsumgütern und massenkulturellen Vergnügungseinrichtungen und nicht zuletzt die zunehmende wissenschaftliche Durchdringung und Technisierung aller gesellschaftlichen Bereiche […] zu einer grundlegenden Infragestellung bürgerlicher Weltanschauungen und Lebensweisen“ (S. 101) führt. Von Boris Arvatov, über John Dewey hin zu Walter Benjamin, Max Horkheimer und Theodor Adorno, spannt sich eine Sicht auf Kultur und Ästhetik, wie sie sich zusammenfassen lässt, als Krise der bürgerlichen Kultur.
Phase III umschließt die 50er und 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Marshall McLuhan, Susan Sontag und Herbert Marcuse stehen hier unter anderem für die Transformationen der Ökonomie und der (Massen-)Medien, wie bspw. dem Fernsehen. Drei Stränge lassen sich in dieser Phase unterscheiden. Neben einer bestehenden marxistischen Position, sehen sich „semiotische und strukturalistische Ansätze zur Analyse der Alltagskultur“ (S. 194) und eine eigenständige Medienwissenschaft gegenüber gestellt.
Pierre Bourdieu, Michel Foucault, aber auch Frederic Jameson prägen als Vertreter der 70er und 80er Jahre die IV. Phase, in welcher die Gegenwart neu mit den Begriffen von Spät- und Postmoderne beschrieben werden.
Letztlich schließt Phase V. mit John Ury, Luc Boltanski und Ève Chiapello bis zu Erika Fischer-Lichte die Sammlung ab und beschreibt die 90er Jahre bis zur letzten Jahrhundertwende.
Das Buch bietet eine Sammlung klassischer Texte, die im Zusammenhang mit Ästhetik und Gesellschaft stehen. Als ein Einstieg in diesen thematischen Blickwinkel, ist es vor allem für Studenten und Interessierte dienlich. Doch selbst für Leser, die mit den klassischen Texten von Bourdieu, Adorno, Foucault etc. vertraut sind, lassen sich in den gewählten Auszügen Ansätze und Verbindungen finden, die imstande sind, innerhalb einer Soziologie der Ästhetik neue Parallelen aufzuweisen.
Fazit
Als eine geführte Einleitung in soziologische Grundlagentexte, bietet dieses Buch einerseits einen Überblick in die Auseinandersetzung kultursoziologischer Entwicklungen anhand von Klassikern. Interessant macht diese Lektüre hier allerdings der Kontext, vor dem diese Texte sich mit dem Fokus auf den Zusammenhang von Gesellschaft und Ästhetik lesen lassen. Im Anschluss an Reckwitz „Erfindung der Kreativität“ (www.socialnet.de/rezensionen/14393.php) bietet diese Buch fundierte Quellen und Ansätze für weitere Auseinandersetzungen, die sich mit Gernot Böhmes „Ästhetischer Kapitalismus“ weiterführen lassen.
Rezension von
Dr. Maurice Schulze
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