Sarah Ertl: Protest als Ereignis
Rezensiert von Arnold Schmieder, 15.09.2015

Sarah Ertl: Protest als Ereignis. Zur medialen Inszenierung von Bürgerpartizipation. transcript (Bielefeld) 2015. 369 Seiten. ISBN 978-3-8376-3067-1. D: 37,99 EUR, A: 39,10 EUR, CH: 49,40 sFr.
Thema
Alle Formen des Protestes wollen Aufmerksamkeit. Dafür brauchen sie Öffentlichkeit und werden inszeniert. Und da liegt der Haken. Inszeniert werden die Proteste nicht nur von den Akteuren, sondern auch von den Medien. Oftmals nur unter dem Deckmantel von Ausgewogenheit und als Plattform demokratischer Öffentlichkeit qua umfassender Information können, nicht müssen, Proteste samt ihren Inhalten schon durch selektive Betonung emotionalisiert werden und unterschwellig normativ konterkariert, was auch über Akzentuierung und/oder Attributierung von Protestmerkmalen geschieht. In den neueren Kommunikationswissenschaften spricht man von ‚Framing‘. Sarah Ertl zeigt, dass allein über sprachliches Framing Proteste kriminalisiert oder nur marginalisiert werden (können). Protestierende, zumindest einige Gruppen, wissen darum: Organisationen, am Gewinn orientiert und sofern sie sich dadurch eine Durchsetzung ihrer Interessen versprechen, betreiben „Astroturfings“, an Werbekampagnen angelehnte Public Relations im Gewand dann nur vermeintlicher ‚Graswurzel-Proteste‘. Auch dem geht die Verfasserin in ihrem breit angelegten empirischen Teil an differenziert analysierten „Case Studies“ nach.
Aufbau und Inhalt
Die „journalistische Inszenierung von Protest und die damit einhergehende medial transportierte Bewertung“ oszilliere „zwischen Kriminalisierung und euphorischer Unterstützung, zwischen Ignoranz und spektakulärer Inszenierung, zwischen Abwertung und Jubel über die ‚undemokratische‘ oder ‚äußerst demokratische‘ Bürgerbeteiligung“, nimmt Frau Ertl die zentralen Ergebnisse in ihrer Einleitung vorweg. (S. 12) Pointierter dazu heißt es im Schlusswort: „Medien können bewusst oder unbewusst in die Rolle der Träger hegemonialer, ideologischer Konsense fallen, diskursiv und schleichend reproduzieren sie dann bestehende Herrschaftsverhältnisse zugunsten einer bestimmten herrschenden Gruppe über Agenda Setting, Inhaltsgewichtung und Framing – und über das Ignorieren von Fakten.“ (S. 333 f.)
Nebst Vorwort, Einleitung und Darlegung der methodischen Herangehensweise ist das Buch in sieben weitere Hauptkapitel untergliedert, wobei sich die Autorin zunächst mit der Erzeugung von Hegemonie über Sprache und Medien beschäftigt, wie es bei ihr heißt, also mit einem hoch relevanten Bereich der Reproduktion von Machtverhältnissen. Mit dieser Optik untersucht sie die mediale Realisierung von Astroturf- und Graswurzelprotest, setzt sich ebenso kritisch mit den London Riots und der Berichterstattung in den österreichischen Printmedien auseinander (was als paradigmatisch unterstellt werden darf), der Autobahnblockade protestierender Bürgermeister als Medienspektakel und einem griechischen Umweltprotest, an dem besonders deutlich aufzuzeigen ist, dass und warum und wie solcher nicht unwichtige Widerstand durch die Massenmedien ignoriert wird.
In der Gesamtanalyse werden „paradigmatische Tendenzen in der Protestberichterstattung“ hervorgehoben: „Überschneidet sich die Protestberichterstattung mit der Selbstdarstellung der ProtestinitiatorInnen zumindest weitgehend in einem bestimmten Raum und zu einer gewissen Zeit, so ist die Berichterstattung erfolgreich.“ Tendenziell nicht erfolgreich ist sie, „wenn Protest auf mediale Ignoranz, das Protestparadigma oder Rekuperation stößt.“ Die „zweithäufigste Form der Berichterstattung“ umfasse „Kriminalisierung, Marginalisierung und Diskreditierung sowie die negative Spektakularisierung von Protestaktionen.“ Eine dritte Form neben diesem Protestparadigma und dem Ignorieren stelle die „Rekuperation“ dar, ein „Umdeuten radikaler Protestinhalte zugunsten ihrer Verharmlosung“, was insbesondere „bei kapitalismuskritischen Protesten zu beobachten“ sei – weil auch diese (wie andere auch) „einen etablierten Status quo gefährden“. Allerdings führt die Autorin auch die „Kategorie der affirmativen Berichterstattung“ ein, was „möglicherweise direkt oder indirekt auf eine Ideologie, oder geopolitische oder andere Interessen zurückgeführt werden“ könne. (S. 289 ff.) In einem kürzeren Schlusswort werden (u.a.) noch Auswege und Alternativen vorgestellt und diskutiert.
Diskussion
Was Sarah Ertl reklamiert, sind „Forschungsbemühungen“, die für den Zweck der Erhaltung eines kritischen Journalismus die Frage verfolgen, wie „gegebenenfalls falsches Bewusstsein entlarvt, Ideologiekritik geübt und Hegemonie durchbrochen werden kann“. (S. 338) Ausführlich ist dargelegt, wie Herrschaft in Diskursen stabilisiert wird, wie das, was man anderenorts Narrative nennt, administrativ umgesetzt und massenmedial flankiert wird, wie es um den Strukturwandel der Öffentlichkeit und politische Partizipation bestellt ist. Welche Einflüsse sich auf die Etablierung von Nachrichten auswirken wird rekapituliert wie ebenso der so genannte Medialisierungseffekt: Die Autorin zitiert Becker et al., die mit Rückgriff auf Habermas u.a. hervorheben, dass herrschaftsrelevanten Kommunikation „unter Ausschluss des Publikums“ stattfindet, das Publikum in öffentlicher Kommunikation „dem Zweck der Akklamation“ dient und kritische durch „manipulative Publizität“ verdrängt wird. (zit. S. 57) Solche Tendenz scheint auch in der Protestberichterstattung auf: Wenn abweichende Vorstellungen kompromisshaft einbezogen werden, kann laut Gramsci kein Zweifel daran bestehen, „dass solche Opfer und ein solcher Kompromiss nicht das Wesentliche betreffen können“ (zit. S. 44) – wie etwa den Kapitalismus gleichviel in welchem Gewandt und welchen Auswüchsen. Ertl spricht hier von einer „Usurpation des Widerstandes“ und hält fest: „Liegt ein Konsens der Elite vor, übernimmt ihn die Berichterstattung tendenziell. Die mediale Berichterstattung kann zur Hegemonieproduktion beitragen, indem Diskurse eröffnet oder einzelne Aspekte unter (strategischem) Einsetzen der Schweigespirale verschwiegen und Diskurse verhindert bzw. die Schwerpunktsetzung betreffend umgelenkt werden.“ (ebd.)
Dass für jeden Ausbruchsversuch der Einfangmechanismus bereitsteht, ist spätestens mit der Untersuchung von Cohen/Taylor bekannt. Schon Sombart (1908) blickte höchst skeptisch auf den Einfluss der Werbung und Münsterberg (1912) bemerkte eher lakonisch, dass Zeitung ein Erwerbsunternehmen ist, Werbung transportiert und den redaktionellen Teil gleichsam mitliefert. Dass dies auch für alle anderen Medien gilt, davon kündeten bereits in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts kritische medienwissenschaftliche Untersuchungen unter Titeln wie etwa „Manipulation der Meinungsbildung“, „Medienindustrie und Demokratie“ oder „Massenpresse als Ideologiefabrik“. Bereits 1969 erschien unter dem Titel „Kapitalismus und Pressefreiheit“, herausgegeben im Auftrag des Republikanischen Clubs, Berlin, am Beispiel des Springer Verlages eine scharfe Auseinandersetzung mit u.a. den gesellschaftlichen Leitlinien dieses Verlages von 1967, auf welche die Journalisten verpflichtet wurden. Ob solche inhaltlichen Vorgaben darum von weniger Bedeutung sind oder nicht, weil sie durch ökonomische Zwänge substituiert sind, ob JournalistInnen auf Grund rarer werdender Festanstellungen ‚vorauseilend gehorsam‘ sind oder nicht, rührt nicht an den nervus rerum und zeigt einmal mehr, dass die „Bourgeoisie“ eben auch die Journalisten neben Ärzten und Juristen bis zum „Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt“ hat und alles „Heilige (…) entweiht“ wird, wie es Marx/Engels in „lapidaren Sätzen“ (Hobsbawm) im ‚Manifest‘ vermerkten, um deutlich zu machen, dass alles „auf ein reines Geldverhältnis zurückgeführt“ wird.
Natürlich helfen solche Reminiszenzen nicht weiter, machen nur eher auf Spurensuche nach Ursachen aufmerksam, zeigen die Fortdauer einer Problematik. Natürlich ist es notwendig, aktuelle Erscheinungsformen in den kritischen Blick zu nehmen, wie es Frau Ertl an ihrem Gegenstand ‚Protest‘ und seiner „medialen Inszenierung“ unternimmt. Und trotz aller Kritik an Presse, audio-visuellen und digitalen Medien, trotz „Lügenpresse“ und dem bösen Vorwurf einer „Gleichschaltung“ gibt es den kritischen Journalismus ‚noch‘. Und der hakt insbesondere da ein, wo „ökonomische Elemente stark präsent sind“ (womit ‚Hofberichterstattung‘ dann ihre Schwierigkeiten bekommt). Zwar würden Anzeigekunden oder Shareholder bei wirtschaftlich radikalen Protesten und ausführlicher Berichterstattung nicht unbedingt mit Sanktionen drohen, aber es wird zum riskanten Geschäft. Das ist umso fataler oder ein „Dilemma, denn mehr als die Hälfte der weltweiten Proteste zwischen 2006 und 2013 richten sich gegen die Auswirkungen des ungezügelten Kapitalismus.“ (S. 320 f.) Hier können die versprengten Reste kritischen Journalismus zum Zuge kommen, dann eben nicht nur durch Berichterstattung, sondern auch durch Aufklärung – oder Bildung, was vor Zeiten eine der Aufgaben von Medien war. Bezogen auf aktuelle Krisen und Proteste könnten sie da Henry Ford in die Parade fahren, der meinte: „Eigentlich ist es gut, dass die Menschen der Nation unser Banken- und Geldsystem nicht verstehen. Würden sie es nämlich, so hätten wir eine Revolution noch vor morgen früh.“
Sarah Ertl begnügt sich nicht mit ihrer profunden und wissenschaftlich sehr soliden Untersuchung und Kritik, sondern schaut abschließend nach Auswegen und Alternativen für Protestkollektive und JournalistInnen aus. Dabei kommt sie auf „alternative Onlinemedien und Blogs“, mit denen „tendenziöse Mainstreammedien umgangen werden“ können, was gerade in den Ländern der Fall sei, „wo das Vertrauen in die Medien nicht groß ist“, wobei zugleich als Frage bleibe, „wie zukunftsträchtig ein öffentlicher Raum ist, der von Misstrauen seiner BürgerInnen in die Informationsmedien geprägt ist“. (S. 340) Wohl darum liebäugelt die Verfasserin in ihrem Nachwort mit der „Zapatistischen Autonomie“, der zapatistischen „Rebellion der Würde“. Mit Holloway argumentiert sie, den kritisierten Neoliberalismus gelte es im eigenen Tun auszuhebeln, wobei die „ideologisch vorgebrachte Alternativlosigkeit (…) aufgedeckt und durchbrochen werden“ soll. Und in uns allen sei in irgendeiner Form, so Holloway, dieses Zapatistische vorhanden: „Wahrheit existiert im Ringen gegen Unwahrheit, Würde im Ringen gegen Erniedrigung, Nicht-Entfremdung im Ringen gegen Entfremdung, (…) das Noch-Nicht im Ringen gegen das Gegenwärtige (…) ‚Ya basta!‘“. (S. 341 ff.)
Fazit
Ya basta? So sympathisch solch ein Nachwort auch sein mag, als Handlungsanweisung ist das angeschnittene Problem zu komplex, was nicht nur die ökonomischen und soziökonomischen wie historischen und politischen Verhältnisse betrifft, sondern auch die durchaus relevante Frage nach der Zweck-Mittel-Relation. Dass Frau Ertl damit aber angesichts der Ergebnisse ihrer „Dissertation“ zum „von Komplexität geprägte(n) Verhältnis“ zwischen Protest und medialer Aufbereitung (S. 13) zum Weiterdenken auffordert, muss auch in einer solchen Arbeit statthaft sein und kann nicht Gegenstand kritischer Einlassungen werden. Was die Autorin gekonnt analysiert, ist am Beispiel von Protest und Medien, wie es konkret um jene „Dialektik zwischen Sein und Bewusstsein“ bestellt ist. (S. 35) Was einstens in der Folge von Adornos Kritik der Kulturindustrie und „Aufklärung als Massenbetrug“ im Zuge kritischer Medienanalysen als ‚Ideologieproduktion‘ etikettiert wurde, wird in der Arbeit von Sarah Ertl gehaltvoll gemacht und pointiert am Gegenstand demonstriert.
Müßig aufzuzählen, wem dieses Buch zu empfehlen ist. Man muss nicht MedienwissenschaftlerIn, PolitologIn oder SoziologIn sein, um dank dieser Arbeit auf Probleme gestoßen zu werden oder Fragen beantwortet zu bekommen, mit denen man eh beschäftigt ist und die jeden angehen, dem Partizipation, demokratische Öffentlichkeit, Information und Bildung ein Anliegen ist.
Rezension von
Arnold Schmieder
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Zitiervorschlag
Arnold Schmieder. Rezension vom 15.09.2015 zu:
Sarah Ertl: Protest als Ereignis. Zur medialen Inszenierung von Bürgerpartizipation. transcript
(Bielefeld) 2015.
ISBN 978-3-8376-3067-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19339.php, Datum des Zugriffs 10.12.2023.
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