Dorota Praszałowicz, Anna Sosna-Schubert (Hrsg.): Deutsche und polnische Migrationserfahrungen
Rezensiert von Dr. Siegmund Pisarczyk, 04.09.2015

Dorota Praszałowicz, Anna Sosna-Schubert (Hrsg.): Deutsche und polnische Migrationserfahrungen. Vergangenheit und Gegenwart. Peter Lang Verlag (Bern · Bruxelles · Frankfurt am Main · New York · Oxford) 2014. 438 Seiten. ISBN 978-3-631-64788-2. D: 69,95 EUR, A: 71,90 EUR, CH: 79,00 sFr.
Thema
Deutschland und Polen, zwei große Nachbar im Herzen Europas, haben nach einem verheerenden Krieg gemeinsam einen Weg zu Versöhnung, Kooperation und Partnerschaft beschritten. Was zählt, sind die Gegenwart und die gemeinsame Zukunft. Die Migrationsforschung in beiden Ländern sucht nach Gemeinsamkeiten, um von einander zu lernen.
Herausgeberinnen
Die Herausgeberin für die polnische Sichtweise Dorota Praszałowicz ist Professorin für Soziologie und interethnische Beziehungen an der an der Krakau und sie ausgewiesene Migrationsforscherin.
Die Herausgeberin für die deutsche Sichtweise ist Anna Sosna-Schubert. Sie arbeitet am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück.
Entstehungshintergrund
Die Beiträge stammen aus einer deutsch-polnischen Tagung zum Thema Deutsch-polnische Migrationserfahrungen. Vergangenheit und Gegenwart. Sie wurde in Krakau an der Polnischen Akademie der Gelehrsamkeit (Polska Akademia Umiejetnosci) vom 6.-7. Dezember 2010 durchgeführt.
Aufbau
Das innovative Werk besteht auch zwei Teilen.
Im ersten werden unter der Überschrift: „Migration und Nachbarschaft. Deutsche und Polen auf dem Alten Kontinent und in Übersee“. Migrationsformen in Europa, Nordamerika und Australien dargestellt.
Zunächst werden die geschichtlichen Aspekte (anfangs des 20. Jahrhunderts) der Ein- und Auswanderung der Deutschen in Galizien beschrieben. Des Weiteren analysiert Zbigniew Kurcz „historische Migration“ der Polen in deutsch-polnischen Gebieten, indem er schreibt: „Sachsen nimmt als Zielland der polnischen politischen und wirtschaftlichen Auswanderung die erste Stelle ein.“ (S. 60).
Dorota Praszałowicz schildert in ihrem Beitrag „Deutsche und polnische Immigranten in den Vereinigten Staaten von Amerika – ausgewählte Beispiele wechselseitiger Beziehungen.“(S. 117-137) wichtige gemeinsame Gesichtspunkte.
Anitta Maksymowicz liefert mit ihrem Aufsatz „Nachbarn in der Heimat – Nachbar in Übersee. Barossa Valley und Clare Valley in Südaustralien als Ansiedlungsorte von Deutschen und Polen aus den drei preußischen Provinzen Brandenburg – Schlesien – Posen im 19. Jahrhundert“ wichtige Beispiele dafür, wie nach 1838 die ersten Gruppen preußischer Auswanderer nach Australien kamen. 1844 gelangte eine weitere Gruppe Polen von Bremen aus auf dem Schiff „Georg Washington“ nach Australien (S. 193). Dem folgt dann eine Beschreibung der polnischen und deutschen Einwanderern nach Kanada.
Dieser Teil endet mit Anna Sosna-Schuberts Beitrag über deutsche Spätaussiedler und polnische Repatrianten aus Kasachstan als Beispiel einer deutsch-polnischen Koexistenz in der Diaspora.
Der zweite Teil behandelt „Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Aspekte der Arbeitswanderung. Strategien der polnischen Migranten in Deutschland“. Das Besondere dabei ist die soziopolitische und kulturelle Rückkoppelung zwischen Migration und Rückwanderung.
Eingangs beschreibt Małgorzata Irek bestimmte negative Formen der illegalen polnischen Einwanderer nach Westberlin.
Kamila Fiałkowska und Maria Piechowska stellen die Geschichte der polnischen Saisonmigranten in Deutschland dar: „Die saisonale Wanderarbeit der polnischen Bevölkerung nach Deutschland setzte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein und wurde fortgeführt, unabhängig von den sich verändernden Grenzen und auf den auf diesen Gebieten aufeinander folgenden Staatsformen. Nach den Vereinigten Staaten stellt Deutschland das zweite traditionelle Zielland der polnischen Auswanderung dar.“ (S. 280). Exemplarisch wird die Bedeutung der polnischen Saisonarbeiter beleuchtet, wenn sie behaupten, dass die Deutschen ohne die Polen keinen Spargel in den Geschäften hätten (S. 296).
Romuald Jonczy beschreibt in seinem Aufsatz die Veränderungen der Emigration aus Oberschlesien nach Westeuropa. Er unterstreicht, dass viele junge Polen, die nach 2000 nach Großbritannien und Irland zuerst für kurze Zeit emigrierten (ohne starke Bindung an das Heimatland Polen), inzwischen dauerhaft in diesen Ländern leben (S. 371-394).
Schließlich analysiert Katrin Klein-Hitpaß die Remigrationsprozesse nach Polen seit 1989.
Diskussion
Die Vorzüge des Buches lassen sich auf einen Nenner bringen: Es ist ein wichtiger Versuch, die grundlegende Problematik der Migration aus Polen Richtung Westeuropa aus verschiedenen Perspektiven zu analysieren.
Das Manko des Buches ist, dass die Zeiten und die historischen Fakten der Flucht und der Vertreibung der Deutschen aus den ehemals deutschen Ostgebieten unberücksichtigt bleiben. Dafür gibt es Beispiele, dass Migration und Integration dialog- und friedensstiftende Aufgaben übernehmen können (vgl. Rainer Bendel 2013).
Des Weiteren fehlen Analysen über Migration von Deutschen, die ihre Geschäfte bzw. Firmen seit 1989 in Polen betreiben. Es wäre vielleicht ein wichtiger Diskurs, wie sich deutsche Migranten in Polen einlebten.
Die deutsch-polnischen Beziehungen bestehen nicht erst seit heute. Am Beispiel der polnisch-sächsischen Beziehungen wird deutlich, dass man hier von einer gelungenen Migration der Polen nach Deutschland sprechen kann, und zwar seit dem 10. Jahrhundert. Es stimmt optimistisch, dass Deutschland und Polen gemeinsame Wege der Migrationsforschung gehen möchten. Es ist ein Gebot der Stunde, dass beide Länder sich mit den Zuströmen der Flüchtlinge nach Europa partnerschaftlich im Sinne einer Quote befassen müssen. Dieser Aufgabe verweigert sich Polen allerdings bisher.
Fraglich ist, ob der Vergleich der Erfahrungswerte der polnischen und der deutschen Migration nach Australien (seit dem 19. Jahrhundert) zur Verbesserung der deutsch-polnischen Beziehungen beitragen konnte. Deutschland prägt nach dem Kriege eine Willkommenskultur, zuerst für Vertriebene, Flüchtlinge und Spätaussiedler; später für die Arbeitsmigranten aus Portugal, Spanien, Italien und der Türkei. Bis 1989 hat Deutschland außerdem viele politische Flüchtlinge aus der DDR, Polen und der Sowjetunion aufgenommen (wie kein anderes Land der Welt). Diese Entwicklung schreitet fort. 2015 Deutschland wird mindestens 800.000 Flüchtlinge aufnehmen. Diese Zahl besagt, dass Polen nach der Zahl der Bevölkerung mindesten 400.000 Flüchtlingen aufnehmen müsste. Migration und deutsch-polnische Beziehungen müssen gesamteuropäisch gesehen werden. Beide Länder müssen sich gleichmäßig bei der Lösung der Zuströme der Flüchtlinge nach Europa engagieren; anderenfalls verliert Europa an Glaubwürdigkeit.
Zu empfehlen ist das Buch grundsätzlich Politikern beider Länder, die sich mit Migration im Sinne einer deutsch-polnischen Verständigung befassen möchten.
Fazit
Der Migrationsbegriff meint Auswanderung ohne Angaben über den Zeitumfang und Motivation. Migration muss aus mehreren Perspektiven gesehen werden, als ein Kommen und Gehen. Aus deutscher Sicht meint Migration grundsätzlich nach Deutschland Kommende, aus polnischer Sicht eher aus Polen Auswandernde. Gegenwärtig müssen sich Deutschland und Polen an der Migrationsproblematik, der Solidarität und bei Aufnahme von Kriegsflüchtlingen z. B. aus Syrien und Sudan, gleichermaßen beteiligen.
Rezension von
Dr. Siegmund Pisarczyk
Diplompädagoge & Nonprofit Manager
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Zitiervorschlag
Siegmund Pisarczyk. Rezension vom 04.09.2015 zu:
Dorota Praszałowicz, Anna Sosna-Schubert (Hrsg.): Deutsche und polnische Migrationserfahrungen. Vergangenheit und Gegenwart. Peter Lang Verlag
(Bern · Bruxelles · Frankfurt am Main · New York · Oxford) 2014.
ISBN 978-3-631-64788-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19341.php, Datum des Zugriffs 28.09.2023.
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