Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Armin Schäfer: Der Verlust politischer Gleichheit

Rezensiert von Prof. Dr. Uwe Helmert, 24.11.2015

Cover Armin Schäfer: Der Verlust politischer Gleichheit ISBN 978-3-593-50198-7

Armin Schäfer: Der Verlust politischer Gleichheit. Warum die sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet. Campus Verlag (Frankfurt) 2015. 332 Seiten. ISBN 978-3-593-50198-7. 39,90 EUR.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Kaufen beim socialnet Buchversand
Kaufen beim Verlag

Thema

Seit Jahren sinkt die Wahlbeteiligung in Deutschland. Was steht hinter diesem Trend und was bedeutet er für die Entwicklung der Demokratie? Der Autor beantwortet die Frage umfassend und zeigt, dass wachsende soziale Ungleichheit zu einer Verringerung der Wahlbeteiligung führt. Sozial benachteiligte Gruppen bleiben in großer Anzahl der Wahlurne fern. Die sozialen Unterschiede in der Wahlbeteiligung waren in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland noch nie so groß wie heute. Aktuelle Reformmaßnahmen, die die Partizipation ausweiten, verringern entgegen optimistischer Erwartungen die Beteiligungskluft nicht, sondern vergrößern sie sogar.

Autor

Armin Schäfer war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln, und ist heute Professor für Politikwissenschaft an der Universität Osnabrück.

Entstehungshintergrund

Bei dem Buch handelt es sich um die überarbeitete Habilitationsschrift des Autors. Betreuer waren Prof. Manfred Schmidt und Prof. Reimut Zohlnhöfer.

Aufbau …

Das Buch ist in die folgenden elf Kapitel unterteilt:

  1. Einleitung
  2. Wie viel Gleichheit benötigt die Demokratie?
  3. Ungleichheit im Zeitalter wirtschaftlicher Stabilisierung
  4. Führt soziale zu politischer Ungleichheit?
  5. Nichtwählerinnen und Nichtwähler in Deutschland
  6. Klassenlage und Wahlverhalten: Von der Parteien- zur Nichtwahl
  7. Soziale Segregation, Wahlbeteiligung und Parteiergebnisse
  8. Vom Ehrenamt zu den Mandatsträgern: Die Dominanz der Höhergebildeten
  9. Mehr Demokratie wagen?
  10. Ist eine Wahlpflicht gerechtfertigt?
  11. Reformoptionen und das republikanische Dilemma

Literatur

… und ausgewählte Inhalte

Zu Kapitel 2

In diesem Kapitel wird der theoretische Rahmen für die empirischen Analysen dargestellt. In ihm wird das Demokratieverständnis des Neorepublikanismus von anderen Perspektiven abgegrenzt, um zu verdeutlichen, weshalb ungleiche soziale Beteiligung demokratietheoretisch problematisch ist. Ausgehend von einem spezifischen, dem Liberalismus vorausgehenden Freiheitsverständnis wird die zentrale Rolle politischer Gleichheit hervorgehoben. Nicht allein formale Rechtsgleichheit, sondern nur die annähernd gleiche Ausübung dieser Rechte wahrt aus neorepublikanischr Sicht willkürliche Fremdherrschaft ab und erlaubt die volle Entfaltung der Persönlichkeit.

Zu den Kapiteln 3 und 4

In diesen beiden Kapiteln wird der Wirkungskette von Liberalismus über soziale Ungleichheit zur Wahlbeteiligung empirisch nachgegangen. Die empirische Analyse umfasst die folgenden 23 reichen OECD-Länder: Australien, Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Island, Italien, Japan, Kanada, Luxemburg, Neuseeland, Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden, Schweiz, Spanien und USA. Beide Kapitel untersuchen alle 23 Länder über einen Zeitraum von drei bis vier Jahrzehnten. In einem ersten Schritt zeigt sich, dass die untersuchten Länder seit 1980 einen Kurs der wirtschaftlichen Liberalisierung verfolgt haben. Der erstellte Liberalisierungsindex verdeutlicht einen zweifachen Konvergenzprozess. Alle Länder bewegen sich in die gleiche Richtung. Im selben Zeitraum ist die Verteilung der Einkommen in der Mehrzahl dieser Staaten ungleicher geworden. Zwischen der Liberalisierungspolitik und dem Anstieg der Einkommensungleichheit besteht ein systematischer Zusammenhang.

In der Mehrzahl der 23 untersuchten Länder hat in den letzten dreißig Jahren die Ungleichvetteilung der Einkommen zugenommen, während parallel dazu die Wahlbeteiligung abgenommen hat. Diese empirischen Befunde sind aus demokratietheoretischer Sicht beunruhigend, weil eine Wirkungskette aus wachsender sozialer Ungleichheit, ungleicher politischer Partizipation und schließlich Entscheidungen zugunsten der politisch Aktiven entstehen könnte, in deren Folge die Nichtbeteiligten benachteiligt werden.

Zu Kapitel 5

In dem Kapitel wird untersucht, wer die Nichtwählerinnen und die Nichtwähler sind und wie deren Entscheidung, der Wahlurne fernzubleiben, zu erklären ist. Ob jemand wählt oder nicht hängt nicht allein von individuellen Merkmalen ab, sondern auch vom sozialräumlichen Kontext. Wer sich in einem Netzwerk mit vielen andren bewegt, die nicht wählen, oder in Stadtvierteln mit geringer Wahlbeteiligung lebt, hat eine systematisch niedrigere Wahlneigung – nicht nur das Wählen kann anstecken, sondern auch die Nichtwahl.

Zu Kapitel 6

Im sechsten Kapitel wird das Wahlverhalten sozialer Klassen bei Bundestags- und Landtagswahlen in den letzten drei Jahrzehnten betrachtet. Arbeiter,so wird immer wieder argumentiert, wählen heute nicht mehr in stärkerem Maße linke Parteien als andere Klassen. Doch es zeigt sich kein Ende des Klassenwahlverhaltens, wenn kleinere Parteien und insbesondere die Nichtwahl in die empirische Analyse einbezogen werden, denn nicht nur die Unterstützung der Grünen und der FDP, sondern vor allem die Wahlabstinenz verläuft eindeutig entlang von Klassenlinien.

Zu Kapitel 7

Während bisher Umfragen ausgewertet wurden, greift dieses Kapitel auf Aggregatdaten zurück. Es erschließt damit eine bisher wenig genutzte Quelle, nämlich Daten zur Wahlbeteiligung und zur sozialen Lage auf Stadtteilebenein deutschen Großstädten. In allen Städten bestehen große Unterschiede in der Wahlbeteiligung unterschiedlicher Stadtteile. Je ärmer ein Stadtteil, desto niedriger fällt die Wahlbeteiligung aus. Korreliert man die Arbeitslosenquote mit der Wahlbeteiligung, zeigen sich so starke Zusammenhänge, wie sie in den Sozialwissenschaften nur selten entdeckt werden. Entgegen der vorherrschenden Forschungslage kann in diesem Kapitel gezeigt werden, dass sich der Rückgang der Wahlbeteiligung negativ aus das Abschneiden von Mitte-Links.Parteien auswirkt. Die Effekte einer sinkenden Wahlbeteiligung sind gravierender, so das Fazit des Kapitels, als dies in der vorwiegend mit Individualdaten operierenden Forschung angenommen wird.

Zu Kapitel 8

Das achte Kapitel bestätigt das „Gesetz zunehmender Disproportionalität“: Je wichtiger ein Amt, desto selektiver der Zugang. Obwohl sich die Parteimitglieder schon überproportional aus höheren Einkommensschichten rekrutieren, nimmt die Exklusivität bei der Kandidatenaufstellung und erfolgreichen Kandidaturen weiter zu, wodurch heute mehr als 90 Prozent der Bundestagsabgeordneten über ein abgeschlossenes Hochschulstudium verfügen. Ausschlaggebend für diese „Dominanz der Akademiker“ ist nicht allein die inhaltliche Qualifikation,sondern auch die Fähigkeit, den Wahlkampf privat zu finanzieren. Im Durchschnitt steuern Bundestagskandidaten mehrere tausend Euro bei, um der eigenen Kandidatur zum Erfolg zu verhelfen, was zumindest teilweise erklärt, warum bestimmte Berufsgruppen überrepräsentiert sind, was demokratietheoretisch problematisch ist, wenn die Einstellung der politischen Elite von denen der Bevölkerung abweichen.

Zu Kapitel 9

Dieses Kapitel beschäftigt sich mit

  • den Wahlrechtsreformen durch Panaschieren und Kumulieren in Hamburg und Bremen
  • der Hamburger Schulreform
  • dem Nichtraucherschutz in Bayern
  • und den Lehren aus der Schweizer Direktdemokratie

Diesen Reformen ist gemeinsam, dass sie die Stimmen der Bürgerinnen und Bürger gegenüber den Parteien stärken sollen. Diese „Demokratisierung der Demokratie“ wird überwiegend – auch vom Neorepublikanismus – positiv bewertet. Allerdings kann sie ungleichheitsverstärkend wirken, wenn ein zu kompliziertes Wahlrecht beteiligungshemmend für weniger politisch Interessierte wirkt oder den Anteil ungültiger Stimmen dort erhöht,wo ohnehin wenige wählen gehen. Bei vielen Themen verlaufen die Konfliktlinien quer zur sozialen Schicht. Aber auch, wenn das nicht der Fall ist, kann die direkte Demokratie zu einer Tyrannei jener Minderheit führen, die zur Partizipation bereit und fähig ist. Der Autor gelangt insgesamt zu folgendem Fazit: Die Fallstudien zu Wahlrechtsreformen in Bremen und Hamburg, sowie zum Hamburger Volksentscheid über die Schulreform und den Nichtraucherschutz in Bayern zeigen, wie mehr Beteiligungsmöglichkeiten zu weniger politischer Gleichheit führen können.

Zu Kapitel 10

Dieses Kapitel diskutiert mit der Wahlpflicht eine besonders umstrittene Reform. Zu den unstrittigen Befunden der Wahlforschung gehört, dass Länder mit sanktionierter Wahlpflicht eine deutlich höhere Wahlpflicht aufweisen als Länder, die darauf verzichten. Bei Wahlbeteiligungsraten von über 90 Prozent, die in Belgien, Luxemburg und Australien regelmäßig erzielt werden, fallen die sozialen Unterschiede in der Beteiligung gering aus. In Belgien und Luxemburg sind weder das politische Interesse noch das Vertrauen in die Politik ausgeprägter als in anderen Ländern. Aus normativer Sicht ist die Einführung einer gesetzlichen Wahlpflicht umstritten, weil sie ein Recht in eine Pflicht umwandelt und mit dem liberalen Freiheitsverständnis unvereinbar erscheint.

Zu Kapitel 11

In dem abschließenden Kapitel diskutiert der Autor Reformoptionen und die damit verbundenen republikanischen Dilemmata. Er formuliert abschließend die folgenden wissenschaftlichen Kontroversen:

  1. Die Debatte über die Retrenchmentpolitik, in der verhandelt wird, ob und wie stark der Sozialstaat in den OECD-Ländern in den letzten 30 Jahren beschnitten worden ist.
  2. Die Debatte darüber, ob und in welchem Maße soziale Ungleichheit die Wahlbeteiligung verringert.
  3. Die Debatte darüber, wer durch wachsende soziale Ungleichheit der Wahlurne fernbleibt.
  4. Die Debatte darüber, auf welche Weise sich soziale in politische Ungleichheit übersetzt.
  5. Die Debatte darüber, wer die Gruppe der Nichtwähler tatsächlich ist.
  6. Die Debatte darüber, ob sich „Klasse“ oder „soziale Schicht“ noch als Analysekategorie für die Gegenwartsdemokratien eignen.
  7. Die Debatte darüber, ob und wie sich die bestehende soziale Spreizung auf die Wahlergebnisse der politischen Parteien auswirkt.
  8. Die Debatte darüber, ob die sinkende Wahlbeteiligung tatsächlich ein demokratietheoretisches Problem darstellt.

Diskussion

Vermisst wird ein Kapitel zu der Frage, in welchem Maße es geschlechtsspezifische Unterschiede zu den aufgeworfenen Fragestellungen gibt.

Etwas zu kurz kommt auch die Frage, welche Parteien am meisten von der seit drei Jahrzehnten generell sinkenden Wahlbeteiligung profitieren

Stark vermisst wird eine Auseinandersetzung mit der Frage, in wieweit die Politiker selbst dazu beitragen, dass die Wahlbeteiligung sinkt (zum Beispiel durch wiederholt gebrochene Wahlversprechen, gewisse Ignoranz der Politiker gegenüber dem Wähler, verschiedene Spendenaffären von politischen Parteien).

Zielgruppen

Zielgruppen sind Politologen, Journalisten, Parteien- und Wahlforscher, sowie aktive Politiker.

Fazit

Das Buch setzt sich sowohl theoretisch als auch empirisch mit der Frage auseinander, warum in Deutschland seit 30 Jahren die Wahlbeteiligung bei Bundestags- und Landtagswahlen kontinuierlich sinkt. Ist dieses Phänomen ein Anzeichen für eine „Krise der deutschen Demokratie“?. Der Autor diskutiert Reformoptionen für das deutsche Wahlsystem, und gelangt dabei zu dem Fazit, dass mehr Beteiligungsmöglichkeiten möglicherweise zu weniger politischer Gleichheit führen können.

Insgesamt liefert das Buch einen fundierten Beitrag zu der Frage, ob ein weiteres Anwachsen der sozialen Ungleichheit zu einem Verlust an politischer Gleichheit führt.

Rezension von
Prof. Dr. Uwe Helmert
Sozialepidemiologe

Es gibt 101 Rezensionen von Uwe Helmert.

Besprochenes Werk kaufen
Sie fördern den Rezensionsdienst, wenn Sie diesen Titel – in Deutschland versandkostenfrei – über den socialnet Buchversand bestellen.


Zitiervorschlag
Uwe Helmert. Rezension vom 24.11.2015 zu: Armin Schäfer: Der Verlust politischer Gleichheit. Warum die sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet. Campus Verlag (Frankfurt) 2015. ISBN 978-3-593-50198-7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19342.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.


Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht