Thomas Sutter: Lesen und Gefangen-Sein
Rezensiert von Prof. Dr. Uwe Helmert, 30.09.2015
Thomas Sutter: Lesen und Gefangen-Sein. Gefängnisbibliotheken in der Schweiz. Springer VS (Wiesbaden) 2015. 491 Seiten. ISBN 978-3-658-09715-8. D: 59,99 EUR, A: 61,67 EUR, CH: 63,50 sFr.
Thema
In der ersten umfassenden Untersuchung zum Bücherverleih und zu den Bibliotheken in Schweizer Gefängnissen und Justizvollzugseinrichtungen zeigt Thomas Sutter auf, wie Organisation, Strukturen und personelle Faktoren die Gefängnisbibliotheksarbeit beeinflussen und welche Lektüremodalitäten in Gefangenschaft an Bedeutung gewinnen. Zusätzlich geht der Autor in einer komparativen Analyse von fünf ausgewählten Gefängnisromanen der literarischen Darstellung des Bücherlesens, der Bibliotheken und der Leserfiguren nach. In einem übergreifenden Fazit werden schließlich die Bedeutung des Lesens im Gefängnis(roman) diskutiert und Handlungsempfehlungen für die Gefängnisbibliotheksarbeit formuliert.
Autor
Dr. Thomas Sutter arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Amt für Justizvollzug des Kantons Zürich.
Entstehungshintergrund
Bei dem Buch handelt es sich um die Dissertationsschrift des Autors, die 2014 von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich angenommen wurde. Die Gutachter waren Prof. Dr. Heinz Bonfadelli und Prof. Dr. Thomas Fries.
Aufbau
- Einleitung
- Strafe – Gefängnis
- Bücher – Lesen
- Exkurs: „Lesen & Gefangen-Sein“ in der Literatur
- Gefängnisbibliotheken als Untersuchungsgegenstand
- Gefängnisbibliotheken in internationaler Perspektive
- Gefängnisbibliotheken in der Schweiz – Ausgangslagen
- Gefängnisbibliotheken in der Schweiz – Befunde
- Fazit
Das Schwerpunktthema des Buches bildet eine sozialwissenschaftliche Untersuchung über Gefängnisbibliotheken in der Schweiz und deren Ausgestaltung (Kapitel 5 bis 9). Vorab findet sich in Kapitel 4 ein längerer literaturwissenschaftlicher Exkurs zum Thema „Lesen und Gefangen-Sein“.
Zu Kapitel 1
Es hat sich gezeigt, dass die jeweilige gerade im Vordergrund stehenden Maximen der Strafvollzugs und des Haftzwecks immer auch ihren Niederschlag finden im gewährten bzw. geförderten Zugang zu Büchern im Gefängnis. Einerseits kann das Lesen im Gefängnis zum Zweck der Bestrafung und Sicherung restriktiert werden. Durch ungenügende Ausstattung/Bücherentzug als Disziplinarsanktion und Zensurmaßnahmen werden somit die deprivativen Wirkungen des Gefängnisaufenthalts unmittelbar verstärkt. Andererseits stellt der Strafzweck der Besserung, welcher die Wiedereingliederung des Gefangenen in die Gesellschaft zum Ziel hat, bis heute einen unmittelbaren Anknüpfungspunkt für die Einrichtung von Gefängnisbibliotheken dar. Das Auswählen von Büchern in der Gefängnisbibliothek stellt gewissermaßen einen der wenigen möglichen Akte der Selbstbestimmung innerhalb des Gefängnisalltags und somit einen Beitrag zur „Bildung eines positiven Selbstkonzepts“ dar.
Für die Untersuchung von Gefängnisbibliotheken sind auch die spezifischen Rahmenbedingungen für das Lesen im Gefängnis von entscheidender Bedeutung. So unterscheiden sich Insassenpopulationen in der Regel von der Allgemeinbevölkerung unter anderem in Bezug auf deren Voraussetzungen für eine konstruktive Lesetätigkeit entscheidend. Denn einerseits sind im Gefängnis generell höhere Analphabetismusraten und auch tiefere Bildungsniveaus zu beobachten. Andererseits ist in Gefängnissen der Zugang erschwert und das Bücherangebot begrenzt. Dies gilt insbesondere für fremdsprachliche Literatur bei gleichzeitig hohen Ausländeranteilen.
Eine weitere Differenz des Lesen im Gefängnis im Vergleich zum Leseverhalten in Freiheit besteht im besonderen Umstand des Einschlusses. Während Personen in Freiheit vielfältige Arbeits- und Freizeitangebote zur Verfügung stehen und sie über ihre Zeit verhältnismäßig frei verfügen können, sind die Beschäftigungsmöglichkeiten für Gefangene sehr beschränkt. Sie verfügen aufgrund der Absenz von familiären und anderen sozialen Verpflichtungen in der Regel über mehr freie Zeit mit sich allein. Heute sind in den meisten westeuropäischen Ländern in den meisten Gefängnissen auch Fernseher in der Zelle installiert und teilweise ist auch die Anschaffung eine Computers erlaubt. Es ist zu vermuten, dass eine Mehrheit der Gefangenen analog der Gesamtbevölkerung einen großen Teil ihrer freien Zeit vor dem Fernseher verbringt. Fabiani (1995) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass das Fernsehen und das Lesen zwei grundsätzlich verschiedene Tätigkeiten sind, deren jeweilige Bevorzugung nicht primär von den Umständen, sondern von der sozialen Herkunft sowie den früheren Gewohnheiten abhängen. Während das Lesen ein eher individueller und aktiver Vorgang ist,wird das Fernsehen in vielen Fällen passiv und als kollektive Handlung ausgeübt. Viele Gefangene scheinen zudem in erster Linie zu einem Buch zu greifen, wenn der Gefängnisalltag ruhig verläuft und sie keine größeren Probleme beschäftigt. Das Lesen von Büchern bedingt ein eigenes Erschaffens einer inneren Vorstellungswelt, welche der Leser mit seinen Erfahrungen und Lebenswelten in Verbindung bringen kann.
Zu Kapitel 2
In diesem Kapitel wird die Geschichte der modernen Freiheitsstrafe sowie die wichtigsten theoretischen Beiträge dazu nachgezeichnet. Denn erst auf Grundlage der historischen und theoretischen Positionierung des Strafwesens lassen sich sowohl die literarische Auseinandersetzung mit dem Gefängnis als Einschlussort als auch die Entwicklung der Gefängnisbibliotheken in ihrer ganzen Komplexität erfassen.
Wissenschaftliche Untersuchungen von Gefängnissen als soziale Institutionen sind hauptsächlich im angelsächsischen Raum zu finden. Als eigentlicher Vater der soziologischen Gefängnisforschung gilt Donald Clemmer. Basierend auf rund 30 000 Konversationen, 50 Biografien, 200 Essays von Gefangenen, 190 leitfadengestützten Interviews und der Auswertung von 174 Fragebögen veröffentlichte er 1940 seine umfassende und bis heute in dieser Fülle an Daten nicht erreichte Untersuchung über das „Menard State Prison“ (Illinois) – genannt Big House – unter dem Titel „The Prison Community“. Die Einzelfallstudie ist weniger an Theoriebildung als an einer explorativen und ethnografischen Aufnahme der Gefängnispopulation in möglichst vielen Facetten interessiert. Die Leistung Clemmers liegt neben der Sammlung von über 1000 Ausdrücken aus der Gefängnissprache (argot terms), einer Untersuchung der Gruppenstruktur und des sexuellen Verhaltens der Gefangenen vor allem in der Herausarbeitung der beiden Analysekategorien der „Prisonisierung“ und des „Code“. Unter Prisonisierung wird der Assimilationsprozess an die Gefängniskultur verstanden. Sie kann also als sekundärer Sozialisationsprozess definiert werden , welcher die Aneignung spezifischer , dem Gefängnis eigener Verhaltensweisen und Regeln beinhaltet. Diese werden als „Prisoner´s Code“ bezeichnet. Unter dem Code werden die gefängniseigenen Generalregeln inklusive ihrer Ableitungen verstanden, welche sich aus der spezifischen Opposition der Ziele, Absichten und Interessen der Anstalt und der Gefangenenpopulation ergibt.
Erwin Goffman hat sich in verschiedenen Essays, die 1961 unter dem Titel „Asylums: Essays on the Social Situation of Mental Patients and Other Inmates“ in gesammelter Form erschienen, mit der „totalen Institution“ befasst. Dieses Standardwerk der Soziologie, welches den Fokus weniger auf die Organisation von sozialer Ordnung, sondern vielmehr auf die Wirkungen von Institutionen auf das Individuum legt, beruht auf Studien, die Goffman von 1954 bis 1957 im „National Institute of Mental Health“ (NIMH) in Bethesda. Maryland, durchgeführt hatte. Sein Forschungsinteresse gilt der totalen Institution, wie beispielhaft dem Gefängnis. Ein Hauptaugenmerk richtet Goffman auf die „Depersoanalisationsprozesse“ zum Zwecke einer einfacheren und effizienteren Aufsicht und Behandlung der Insassen als Teile eines gleichartigen Kollektivs. Nachfolgend wird die Regulation der Aktivitäten durch ein Privilegiensystem, welches das institutionskonforme Verhalten anhand des Grades des Gehorsams misst, näher beleuchtet. Typischerweise bestehen diese Privilegien in auf den ersten Blick nebensächlichen Dingen wie zusätzlichen Zigaretten, Zeitungen etc. oder Erlaubnis für eine kurzzeitige Tätigkeit außerhalb des vorgegebenen Rahmens, so zum Beispiel auch in der Gefängnisbibliothek. Während solche Dingen im Leben außerhalb keine große Bedeutung geschenkt wird, entwickeln in totalen Institutionen einige Personen ein großes Verlangen nach diesen kleinen Privilegien und sinnen ausgreifend darüber, wie diese erlangt oder dann nach der Entlassung im Übermaß konsumiert werden können. Auf das Lesen und die verschieden Formen des Gebrauchs von Büchern wird in der Gefängnisforschung nicht oder nur deskriptiv bzw. punktuell zur Illustration bestimmter Sachverhalte eingegangen. .
Zu Kapitel 3
In Bezug aus das Lesen von Büchern allgemein sind in theoretischer Perspektive insbesondere die Ansätze der aus dem Feld der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft angesiedelten Mediennutzungsforschung sowie die spezifischen Befunde aus der (Buch-)Leseforschung von Relevanz. Im Hinblick auf die vorliegende Studie sind aus der Buch-Lese-Forschung insbesondere die soziodemografischen Segmentierungen hinsichtlich Herkunft, Bildungshintergrund und Geschlecht im Auge zu behalten, weil die Gefängnispopulation gerade hinsichtlich dieser Faktoren oftmals stark einseitig determiniert ist. In Bezug auf die Funktionen und Erwartungen an das Lesen im Gefängnis kommt bei den von der Buch-Lese-Forschung diskutierten Motiven dem durch das Lesen respektive die Buchausleihe erhofften Zugewinn an Sozialprestige im Umfeld einer totalen Institution zudem größere Relevanz zu und schließlich können soziale Effekte des Lesens im Gefängnis eine Rolle spielen, insofern durch die Auswahl von bestimmten Lesestoffen die Zugehörigkeit zu einer Gruppe markiert oder auch der Tagesablauf durch das Aufsuchen der Gefängnisbibliothek mit strukturiert werden kann.
Zu Kapitel 4
Exkurs: Lesen und Gefangen-Sein in der Literatur
Für diesen literaturwissenschaftlichen Exkurs wurden fünf Werke aus verschiedenen Epochen und Sprachräumen berücksichtigt, in welchen Lesen, Bücher und Gefängnisbibliotheken thematisch aufgegriffen werden:
- Hans Fallada: Wer einmal aus dem Blechnapf frisst. Berlin: Rowohlt, 1934
- Henry Jaeger: Die bestrafte Zeit. Wien: Desch, 1964
- Ilsa Aichinger: „Der Gefesselte“. In: Die Neue Rundschau 62:2 (1951), S.98-109
- Albert Maltz: A Long Day in a Short Life. New York: International Publishers, 1957
- Malcolm Braly: On the Yard. Boston and Toronto: Little, Brown and Company, 1967
- Maria Joan Hyland: This is How. Edinburgh: Canongate, 2009
In einer thematischen und theoretischen Eingrenzung werden die verschiedenen interessierenden Motive der Gefangenschaft, des Gefängnisse, des Lesers und der Bibliothek in der Literatur sowie die darauf bezogenen literaturwissenschaftlichen Zugriffe einführend dargestellt und anschließend die Schwerpunkte und die Werkauswahl des Exkurses begründet. Danach folgen die textanalytischen Unterkapitel zu den ausgewählten Werken.
In Bezug auf das Lesen und die Bibliothek im Gefängnis werden in allen fünf Romanen verschiedene Leserfiguren, -stoffe, -orte, -akte sowie eine organisierte Bücherausgabe an die Gefangenen literarisch ausdifferenziert. Für den Bücherbezug im Gefängnis wird in den besprochenen Werken ein Regime der wöchentlichen Bücherausgabe vorwiegend als Axiom des Wartens und des reglementierten Anstaltslebens literarischen eingesetzt. Bei für die Gefangenen zugänglichen Bibliotheksräumen werden diese dagegen dagegen als differente, dem Gefängnisalltag enthobene Schauplätze der Zuflucht und der Sicherheit dargestellt.
Leserfiguren werden in den Romanen fast durchwegs positiv in Bezug auf ihren sozialen Umgang mit Mitgefangenen konnotiert und setzen sich in der Regel reflektierter mit dem herrschenden Vollzugssystem und ihrer Umgebung auseinander. Die Autoren lassen jedoch die Mehrzahl der identifizierten Leserfiguren ein tragisches Ende nehmen. Bezüglich der in den Romanen dargestellten Lesemotive genießen diejenigen der Unterhaltung und Ablenkung sowie diejenigen zum Zweck der der Information Priorität. Die in den Romanen bezüglich ihres Verhaltens gegenüber Mitgefangenen vorwiegen positiv konnotierten Leserfiguren verweisen auf möglicherweise sozialstabilisierende Funktionen der Lektüretätigkeit. Andererseits verweisen die in den fünf Gefängnisromanen herausgearbeiteten Darstellungen der Schwierigkeiten und Hindernisse beim Versuch der Figuren, sich im Gefängnis konstruktive Leseerlebnisse zu verschaffen, aber auch auf mögliche Herausforderungen und Grenzen der Bibliotheksarbeit im Gefängnis.
Zu Kapitel 5
In diesem Kapitel wird zunächst der Stand der Forschung und die Geschichte der Bibliothek im Gefängnis nachgezeichnet. Im deutschsprachigen Raum wurde eine der ersten systematischen und vergleichenden Untersuchungen 1976 durch Hundrieser durchgeführt. Dabei wurden drei Justizvollzugsanstalten in Niedersachsen (Celle, Wolfenbüttel, Hameln) untersucht. Das Hauptinteresse galt dem allgemeinen Zustand der Büchereien und der Beitrag zur Resozialisierung von Gefangenen. Die Autorin gelangt dabei zu dem Fazit, dass es in jeder der untersuchten Anstalten eine der Bestandszahl nach nicht unerhebliche Bücherei und einen ständigen Leserkreis gibt, die Bücher jedoch überwiegend veraltet sind, und Sachbücher nicht in ausreichender Anzahl angeboten werden. Die aktuellste Übersichtsarbeit für den deutschsprachigen Raum stammt von Peschers mit dem Titel „Bücher öffnen Welten“ aus dem Jahr 2013.
Ziele, Nutzen und Bestimmung einer Bibliothek im Gefängnis haben sich über die letzten zweihundert Jahre beträchtlich gewandelt. Die Gefängnisbibliothek ist von einer auf Besserung und Erziehung ausgerichteten Institution zu einer Einrichtung geworden, die neben dem Lesen als Therapie, die Rechte Gefangenen auf Informationszugang im Alltag verwirklichen soll.
Zu Kapitel 6
Nun wird die internationale Fachliteratur zur Gefängnisbibliotheksarbeit vergleichend aufgearbeitet. Die Fachliteratur über Gefängnisbibliotheken besteht in der Mehrzahl aus Beiträgen aus dem angelsächsischen Raum. In den folgenden Unterkapiteln werden die mit den modernen Gefängnisbibliotheken verknüpften Grundlagen und Themenbereiche (gesetzliche Grundlagen, Richtlinien und Standards, Organisationen, Angebot, Benutzung, Zensur und Sicherung, Personal) basierend auf den in der Fachliteratur publizierten Forschungsergebnissen dargestellt. Im Hinblick auf die geplante Untersuchung der Gefängnisbibliotheken in der Schweiz soll das Hauptaugenmerk hierbei auf die Situation in den europäischen Ländern und insbesondere den Nachbarländern der Schweiz gelegt werden.
Zu Kapitel 7
Die heutige Situation der Gefängnisbibliotheken in der Schweiz, deren Rahmenbedingungen und die sie betreffenden rechtlichen Grundlagen sind eng mit der historischen Entwicklung des Kriminal- und Strafrechts im Allgemeinen und der Ausgestaltung des Vollzugs von Haft- und Freiheitsstrafen im Besonderen verknüpft. Deshalb werden in den beiden folgenden Unterkapiteln die Geschichte des schweizerischen Gefängniswesens und Strafrechts mit einem besonderen Augenmerk auf die historische Entwicklung der Gefängnisbibliotheken in der Schweiz kurz beleuchtet und darauf aufbauend die aktuellen Rahmenbedingungen und rechtlichen Grundlagen für die Gefängnisbibliotheksarbeit in der Schweiz dargestellt.
Während das Gefängniswesen in der Schweiz bis zum letzten Viertel des 20. Jahrhunderts noch verhältnismäßig friktionslos funktionierte und auch nur ein eingeschränktes Interesse seitens der Wissenschaft an der praktischen Vollzugsarbeit bestand, konnten ab den frühen Siebzigerjahren vermehrte Auseinandersetzungen mit den Funktionen und der praktischen Ausgestaltung des Strafvollzugs auf wissenschaftlichem und gesellschaftlichem Feld beobachtet werden. Die vermehrte Drogendelinquenz in den Achtziger- und Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts sowie das Ansteigen des Ausländeranteils in den schweizerischen Institutionen des Freiheitsentzugs in den letzten Dekaden sollten schließlich bedeutende Auswirkungen auf die Unterbringungs- und Betreuungspraxis für diese spezifische Klientel haben. Zusammenfassung erkennt Baechtold (2005) für die Entwicklung des schweizerischen Strafvollzugs im 20. Jahrhundert insbesondere ein Zurückdrängen repressiver Vollzugszwecke zugunsten kriminalpolitischer Zielsetzungen (Verhütung zukünftiger Straftaten), eine weitgehende Differenzierung und Individualisierung des Freiheitsentzugs, eine Öffnung der Vollzugsanstalten nach außen (Erleichterung der Brief-, Telefon- und Besuchskontakte sowie Ausbau der Beurlaubungsmöglichkeiten), eine Verbesserung der Rechtsstellung der Gefangenen sowie die Einführung alternativer Vollzugsformen.
Für die vorliegende Untersuchung mit ihrem Fokus auf eine Gesamtaufnahme der Situation der Gefängnisbibliotheken in der Schweiz gestalten sich die Modalitäten aus diesen Gründen wie folgt: Einerseits wurde eine Fragebogenerhebung unter Einschluss aller relevanten Justizvollzugsanstalten der Schweiz und andererseits ein Reihe von ergänzenden Interviews mit den Verantwortlichen der größten Gefängnisse durchgeführt. Insgesamt wurden 87 Vollzugsanstalten in die Untersuchung einbezogen. 87% davon waren geschlossene Anstalten, bei 62% war die primäre Vollzugsart die Untersuchungshaft und 77% entstammten der deutschen Sprachregion.
Zu Kapitel 8
In diesem Kapitel werden die empirischen Befunde der Untersuchung dargestellt. Neben Radio und Fernsehen, das in der Regel in allen Gefängnissen in den Zellen zur Verfügung steht und der Möglichkeit, von außen Zeitungen oder Bücher auf private Kosten zu beziehen, werden vielerorts regelmäßig auch eine beschränkte Anzahl lokaler und überregionaler Zeitungen aboniert und für die Gefangenen ausgelegt. Des weiteren erfreuen sich Gratiszeitungen großer Beliebtheit. Eine Gefängnisbibliothek gibt es in 96% der Einrichtungen. Die Möglichkeit zur Nutzung externer Bibliotheksangebote besteht in 23% der Einrichtungen. 63% der Gefangenen haben innerhalb der Öffnungszeiten direkten Zugang zur Gefängnisbibliothek. In 49% der Gefängnisbibliotheken gibt es einen Katalog mit allen angebotenen Büchern/Medien und in 36% der Einrichtungen arbeiten auch Gefangene in der Gefängnisbibliothek mit. Nur ein Drittel der Gefängnisbibliotheken verfügt über ein festes Jahresbudget. Innerhalb der letzten zehn Jahre sind die finanziellen Mittel nur in 16% der Gefängnisbibliotheken angestiegen.
Unter Einschluss aller Medieneinheiten (Bücher, Zeitschriften und CD/CVD) wird von den befragten Justizvollzugsanstalten in der Schweiz ein Gesamtbestand von zwischen 60 und 15 000 Einheiten ausgewiesen. Durchschnittlich verfügt eine Institution über 2019 Einheiten, während der von einigen Ausreißern weniger beeinflusste Median 1000 Einheiten beträgt. Werden die absoluten Bestände aller Medieneinheiten in ein Verhältnis zu den Platzzahlen der jeweiligen Institutionen gesetzt, ergibt sich ein Mittelwert von 21 Medieneinheiten pro Insasse, bei einem Minimum von 2 und einem Maximum von 78. Die Themengruppen für die vorhandenen Bücher sind Romane/Erzählungen (60%), Sachbücher (20%), sowie Comics/Bildbände und Anderes (je 10%). Die fünf häufigsten spezifischeren Themen der Bücher sind: Liebesromane (15%), Religion (17%), Lexika/Wörterbücher (15%), Geschichte (10%) und Biografien (10%). Nur 2% der Gefangenen gaben an, dass sie Kriminalromane ausleihen. 80% der Gefangenen gaben an, dass Unterhaltung der wichtigste Grund für die Nutzung der Gefängnisbibliothek ist.
Hinsichtlich der Ziele und Normen der Gefängnisbibliotheksarbeit zeigt sich bei den Gefängnisbibliotheksverantwortlichen in der Schweiz eine leichte Präferenz für teleologisch-normative unterlegte Zielsetzungen, bei welchen ein Beitrag der Bibliothek zu einer sinnvollen Nutzung der Haftzeit im Vordergrund steht.
Zu Kapitel 9
In der Untersuchung wurden nicht nur große Spannbreiten zwischen den einzelnen Institutionen bei allen wichtigen Indikatoren zur Gefängnisbibliotheksarbeit, sondern auch bedeutende Diskrepanzen zwischen normativen Zielsetzungen und praktischer Umsetzung zutage gefördert. Abschließend formuliert der Autor neun Handlungsempfehlungen für eine Verbesserung der Gefängnisbibliotheksarbeit in der Schweiz:
- Ausrichtung der Gefängnisbibliotheksstandards und Evaluation durch externe Stellen
- Einrichtung von Informations- und Koordinationsstellen (Vernetzung und Beschaffung fremdsprachlicher Literatur)
- Organisation von Weiterbildungsangeboten
- Erarbeitung finanzieller Richtlinien auf Kantons- oder Konkordatebene
- Unterstützung lokaler Initiativen und Stärkung der Gefängnisbibliotheksverantwortlichen
- Bereitstellung von adäquaten Räumlichkeiten mit dem Fokus auf Freihandbibliotheken
- Einbindung der Aufseherschaft zur breiteren Abstützung der Gefängnisbibliotheksarbeit
- Bereitstellung eines Jahresbudgets für die Gefängnisbibliothek
- Erhöhung der finanziellen Mittel (Durchschnitt heute: 3 Rappen pro Tag/Insasse)
Zuletzt darf aber nicht vergessen werden, dass insbesondere den Gefängnisbibliothekaren eine entscheidende Funktion in der Vermittlung zwischen Buch und Lesern zukommt. Insofern haben die Forderungen von Hafner (1925) nach einem Bibliothekar, welcher „die Leser kenne“, und von Feigel (1949) nach einem „berufenen“ Bibliothekar nichts von ihrer Aktualität eingebüßt.
Diskussion
Es wäre wünschenswert, dass der Autor auch der Frage nachgeht, ob die Bedeutung und Nutzung von Büchern angesichts der rasanten Zunahme der Digitalisierung in dem gleichem Maße wie außerhalb der Gefängnisse sehr stark zurückgedrängt worden ist. Es fragt sich auch, wie Gefängnisbibliotheken attraktiver gestaltet werden können, damit die spezifische Gruppe der Insassen, die in der Regel über weniger positive Leseerfahrungen verfügen als die Allgemeinbevölkerung an das Lesen im Gefängnis herangeführt werden kann. Da mittlerweile in den meisten Gefängnissen in den Zellen Fernseher installiert sind, ist es dadurch möglicherweise inzwischen schwieriger geworden, das Bücherlesen im Gefängnis stärker zu fördern. Außerdem wäre es wünschenswert, dass in stärkerem Maße gut ausgebildete Bibliothekare mit speziellen Kenntnissen und Erfahrungen zu Gefängnisbibliotheken eingestellt werden, um die Qualität der Betreuung und Förderung von am Lesen interessierten Gefangenen zu verbessern.
Zielgruppen
Zielgruppen für das Buch sind Dozierende und Studierende der Fachbereiche Medien-, Kommunikations- und Literaturwissenschaften mit den Schwerpunkten Bibliothekswesen und Buch- und Lese(r)forschung, sowie Mitarbeiter von Organisationen, Institutionen und Bibliotheken des Justizvollzugs.
Fazit
Die Untersuchung zum Bücherverleih und zu den Bibliotheken in Schweizer Gefängnissen und Justizvollzugseinrichtungen zeigt, wie Organisation, Strukturen und personelle Faktoren die Gefängnisbibliotheksarbeit beeinflussen und welche Lektüremodalitäten in Gefangenschaft an Bedeutung gewinnen. Zusätzlich geht der Autor in einem Exkurs von fünf ausgewählten Gefängnisromanen der literarischen Darstellung des Bücherlesens, der Bibliotheken und der Leserfiguren nach. In dem abschließenden Fazit werden die Bedeutung des Lesens in Gefängnisromanen diskutiert und Handlungsempfehlungen für die qualitative Verbesserung der Gefängnisbibliotheksarbeit formuliert.
Rezension von
Prof. Dr. Uwe Helmert
Sozialepidemiologe
Es gibt 101 Rezensionen von Uwe Helmert.
Zitiervorschlag
Uwe Helmert. Rezension vom 30.09.2015 zu:
Thomas Sutter: Lesen und Gefangen-Sein. Gefängnisbibliotheken in der Schweiz. Springer VS
(Wiesbaden) 2015.
ISBN 978-3-658-09715-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19351.php, Datum des Zugriffs 08.09.2024.
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