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Michael Lausberg: Antiziganismus in Deutschland

Rezensiert von Mag. Tobias Neuburger, 12.02.2016

Cover Michael Lausberg: Antiziganismus in Deutschland ISBN 978-3-8288-3548-1

Michael Lausberg: Antiziganismus in Deutschland. Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien. Tectum-Verlag (Marburg) 2015. 277 Seiten. ISBN 978-3-8288-3548-1. D: 24,95 EUR, A: 25,70 EUR, CH: 35,50 sFr.

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Thema und Autor

Die Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien nach Deutschland war und ist über die letzten Jahre Gegenstand einer breiten medialen wie auch politischen Debatte. Michael Lausberg, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS), untersucht in seinem neuesten Buch diese Zuwanderungsdebatte und zeigt eindringlich, dass Antiziganismus kein exklusives Problem der rechten Ränder ist, sondern vor allem auch in der „Mitte“ der Gesellschaft salonfähig ist und (re)produziert wird.

Aufbau

Lausbergs Studie „Antiziganismus in Deutschland“ kann in fünf Abschnitte gegliedert werden:

  1. Zu Beginn stehen zwei Kapitel, die Begriffsbestimmungen und Begriffsklärungen vornehmen.
  2. Kapitel 4 zeichnet skizzenhaft die Geschichte des Antiziganismus seit dem Spätmittelalter.
  3. Kapitel 5 und 6 führen in die öffentliche Debatte um die Aufhebung der Freizügigkeitsbeschränkungen für rumänische und bulgarische EU-BürgerInnen ein und beschreiben die sich hieran anknüpfende Stigmatisierung dieser EU Binnen-MigrantInnen.
  4. Kapitel 7 illustriert die prekäre Situation von Roma in Bulgarien und Rumänien und verschiebt damit die Perspektive auf die beiden Herkunftsländer.
  5. Daran anschließend untersucht Lausberg anhand zweier Fallbeispiele (Dortmund und Duisburg) antiziganistische Stimmungsmache auf kommunaler Ebene.

Inhalt

Wissenschaftliche Forschung operiert mit Begriffen. Doch Begriffe existieren nicht im luftleeren Raum, sondern sind selbst auch Gegenstand von mitunter emotionalen Auseinandersetzungen. Der Begriff Antiziganismus ist ein solch umstrittener Begriff. Auf wenigen Seiten beschäftigt sich Lausberg mit der Kritik am Antiziganismus-Begriff: Gegen diesen Begriff wird insbesondere der Einwand erhoben, dass durch ihn „der Terminus ‚Zigeuner‘ neue Legitimität gewinnen könnte“ (S. 10). Dieser Problematik bewusst, argumentiert Lausberg, „dass der Begriff Antiziganismus explizit die Fremdbezeichnung übernimmt, um damit bewusst den Fokus auf die Projektionen der Mehrheitsgesellschaft zu legen“ (ebd.).

Im darauf folgenden Kapitel 3 (S. 15-19) weist Lausberg darauf hin, dass Eigenbezeichnungen (wie Roma oder Sinti) und stigmatisierende Kategorien der Fremdbezeichnung („Zigeuner“) voneinander getrennt werden müssen und darüber hinaus auch nicht deckungsgleich sind. So wurde und wird die pejorative Fremdbezeichnung „Zigeuner“ auch „auf die Angehörigen eines umfangreichen Spektrums sozial marginalisierter Gruppen angewende[t]“ (S. 11) wie etwa Jensiche, irische Pavee oder niederländische woonwagenbewoners.

In Kapitel 4 (S. 21-88) entwirft Lausberg ein geschichtliches Panorama des Antiziganismus und erzählt auf knappen 60 Seiten eine sechs Jahrhunderte umfassende Geschichte der Stigmatisierung, Diskriminierung und Verfolgung. Hier fokussiert er sich auf die Rekonstruktion einer Kontinuitätslinie des Antiziganismus: beginnend bei den frühneuzeitlichen Stadtverweisen und der Vogelfreierklärung durch den Freiburger Reichstag über die Radikalisierung des Antiziganismus nach Ende des 30jährigen Krieges, Maßnahmen zur Zwangsassimilation des aufgeklärten Absolutismus und die „Zigeunerpolitik“ des deutschen Kaiserreichs bis hin zur systematischen Vernichtung von Sinti, Roma und anderen als „Zigeuner“ verfolgten Gruppen im Nationalsozialismus und den Kontinuitäten der Stigmatisierung im postnazistischen Deutschland. Diese Tour de Force durch die Geschichte des Antiziganismus führt Lausberg bis in die jüngste Vergangenheit fort und problematisiert den Zusammenhang von Migration und antiziganistischer Gewalt, die sich im wiedervereinigten Deutschland der 1990er in Form von pogromartigen Ausschreitungen und Brandanschlägen artikulierte.

Ab Kapitel 5 (S. 89-95) nähert sich die Studie Lausbergs in großen Schritten dem eigentlichen Thema: dem Zusammenhang von Migration, Freizügigkeit und Antiziganismus. Bereits in der Debatte um die Aufhebung der Freizügigkeitsbeschränkungen für polnische EU-BürgerInnen 2011 zeigte sich, was auch in jener um rumänische und bulgarische EU-BürgerInnen 2014 deutlich zu Tage trat: insbesondere am rechten Rand der deutschen Gesellschaft wurden tiefsitzende antipolnische Ressentiments aufgegriffen und zu Zwecken der Hetze gegen eine angeblich unmittelbar bevorstehende Masseneinwanderung aus Polen in Anschlag gebracht.

Im Falle der Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien zeigt sich, dass „[d]ie Hetze gegen die Migrant_innen […] seinen Ursprung nicht am ‚rechtsextremen‘ Rand [hat], sondern in der sich demokratisch bezeichnenden ‚Mitte‘ der Gesellschaft.“ (S. 97) Lausberg greift hier implizit Seymour Lipsets Theorie des Extremismus der Mitte [1] auf, die in jüngeren empirischen Studien zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit verstärkt aufgegriffen wurde [2].

Medien und PolitikerInnen der gesellschaftlichen Mitte, so Lausberg, schürten Angst vor einer ungebremsten Zuwanderung von sog. „Armutsmigranten“ und suggerierten ein Szenario der politischen und ökonomischen Überforderung durch die schiere Masse an ZuwanderInnen aus Bulgarien und Rumänien. Solche „Dramatisierungs- und Skandalisierungsstrategien“ (S. 124) mussten von der extremen Rechten, wie Lausberg anhand von NPD, Pro-Bewegung und rechter Publizistik illustriert, lediglich als Steilvorlagen aufgriffen werden. Die rechte Propaganda zeichnet sich dabei stets durch drei Motive aus: „Erstens die ‚Masseneinwanderung in den Sozialstaat‘, zweitens ‚Lohndumping‘ zu Lasten der deutschen Arbeitnehmer_innen und drittens die ‚Überfremdung‘ Deutschlands.“ (S. 125) Das Feindbild der „Armutsmigranten“ aus Bulgarien und Rumänien fiel auf fruchtbaren Boden, daran änderte auch die Tatsache nichts, „dass das Ressentiment von der ‚Einwanderung in die Sozialsysteme‘ nicht haltbar ist“ (S. 144) und einer statistischen Überprüfung nicht stand hält. Die Debatte um die Zuwanderung wurde vielfach statt von Fakten durch althergebrachte antiziganistische Motive und Stereotype geprägt – die Termini „Armutsmigrant“ und „Roma“ wurden häufig als austauschbare Synonyme verwendet. (vgl. S. 138-139)

Anschließend an diese Diagnose widmet sich Lausberg in Kapitel 7 (S. 147-172) der Darstellung der sozialen, politischen und ökonomischen Situation von Roma in Rumänien und Bulgarien. Diese ist durch multiple Exklusion und ausgeprägte Feindschaft in nahezu allen gesellschaftlichen Schichten gezeichnet. Antiziganistische Hetze ist in beiden Ländern kein Alleinstellungsmerkmal rechtsextremer Parteien und Splittergruppen. Lausberg zeichnet hier ein verstörendes Bild, das als zentrale Motive für die Emigration und Flucht rumänischer und bulgarischer Roma nach Westeuropa die Mischung aus struktureller Diskriminierung, institutionellem Rassismus, antiziganistischer Hetze und Gewalt identifiziert.

Die Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien schlug in einigen Städten Deutschlands große Wellen. In Mannheim, Duisburg, Dortmund oder Berlin führte diese EU-Binnenmigration zu aufgeregten und hitzigen Debatten. Wie die Migrationsdebatte en détail auf kommunaler Ebene ablief, untersucht Lausberg in Kapitel 8 anhand Dortmund und Duisburg. In Dortmund wurde die Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien von Anbeginn als Sicherheitsproblem diskutiert, in dessen Zuge den ZuwanderInnen pauschal kriminelles Verhalten (vgl. S. 177-179) zugeschrieben wurde. Dieser Sicherheitsdiskurs verknüpfte sich in Dortmund darüber hinaus mit einer Debatte über Prostitution und Straßenstrich. (vgl. S. 179-181) Teilweise wurden die sog. „Armutszuwanderer“ gar für den sozialen Niedergang ganzer Dortmunder Stadtteile verantwortlich gemacht (vgl. S. 196-198)

Die Diagnose Lausbergs für die Stadt Duisburg fällt ähnlich aus: Der Zuzug von Roma wurde in der lokalen Presse häufig als ökonomische Belastung und Problem kategorisiert. Die MigrantInnen wurden zu Verursachern von Problemen deklariert unter denen sie jedoch selbst zu leiden haben. Aus Opfern von Diskriminierung wurden so TäterInnen gemacht: „Die Sichtweise, dass sie Probleme haben und nicht machen, wird fast gar nicht thematisiert.“ (S. 204) Die rumänischen und bulgarischen NeubürgerInnen wurden in der Duisburger Lokalpresse zu einem omnipräsenten Thema. Auch hier wurde wie selbstverständlich an antiziganistische Klischeebilder von den dreckigen, faulen und unintegrierbaren „Zigeunern“, Kriminalität oder gar an die alte Mär des Kinderraubes und Kinderhandels, die bereits im 17. Jahrhundert das erste Mal auftauchte, angeknüpft. (vgl. S. 206-210) Antiziganismus artikulierte sich jedoch nicht nur auf der Ebene medialer Berichterstattung, sondern auch in Demonstrationen oder Hasspostings im Social Web, wo Roma als „Menschenmüll“ diffamiert und mitunter zum organisierten Mord aufgerufen wurde. (vgl. S. 211-215)

Ergebnisdiskussion/Fazit

Lausbergs Studie untersucht die Indienstnahme des Antiziganismus im Kontext der Zuwanderungsdebatte. Dieser ist in seiner langen, jahrhundertealten Geschichte niemals ernsthaft in Frage gestellt, tabuisiert und wirkmächtig in seine Schranken verwiesen worden. Daher konnten antiziganistische Stereotype gegenüber rumänischen und bulgarischen EU-BinnenmigrantInnen problemlos reaktiviert und aufgegriffen werden. Der Antiziganismus dient hier, das zeigt Lausberg anhand unzähliger Beispiele, zur Legitimierung und Rationalisierung der Abwehr von MigrantInnen, die ungewünscht sind und als ökonomische Ballast und undifferenziertes Problem wahrgenommen werden. Die Studie zeigt eindrücklich, dass Antiziganismus kein exklusives Problem des rechten Randes darstellt, sondern tief auch in der sog. Mitte der Gesellschaft verankert ist, die gemeinhin als Hort demokratischer und humanistischer Werte verklärt wird.

Dennoch bleibt beim Lesen von „Antiziganismus in Deutschland“ ein Beigeschmack. So ist die theoretische Synthese auf das kurze Fazit (Kapitel 9) beschränkt und nicht unmittelbar am Material selbst entfaltet. Mehr methodische Stringenz hätte dem Buch ebenfalls gut getan: Es bleibt fraglich, ob eine Analyse antiziganistischer Ressentiments in der Debatte über die Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien ein notwendigerweise schemenhaftes Kapitel zur Geschichte des Antiziganismus vom Spätmittelalter bis in die Gegenwart vorangestellt werden muss. Analytisch fruchtbarer wäre stattdessen wohl gewesen, ideologische Kontinuitäten (und mögliche Diskontinuitäten) direkt am untersuchten Material aufzuzeigen.

Keinen guten Eindruck vermitteln zudem die vielen – auch grammatikalischen – Fehler. Denn über die üblichen Tippfehler, die der/die LeserIn wissenschaftlicher Publikationen heute bereits gewohnt ist, verleihen die vielen unvollständigen Sätze dem Buch nicht jene Seriosität, die es aufgrund der politischen Aktualität und Brisanz des Themas verdient hätte.


[1] Seymour M. Lipset: Der ‚Faschismus‘, die Linke, die Rechte und die Mitte. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1959 (11), S. 401-444.

[2] Siehe hierzu exemplarisch die „Mitte“-Studien der Universität Leipzig, die regelmäßig seit 2002 durchgeführt werden. (http://research.uni-leipzig.de/kredo/mitte-studien.html, letzter Zugriff 30.12.2015)

Rezension von
Mag. Tobias Neuburger
Stiftung niedersächsische Gedenkstätten Projekt „Kompetent gegen Antiziganismus/Antiromaismus (KogA) in Geschichte und Gegenwart“
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Es gibt 5 Rezensionen von Tobias Neuburger.

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ISSN 2190-9245