Zygmunt Bauman: Retten uns die Reichen?
Rezensiert von Laura Sturzeis, 11.11.2015

Zygmunt Bauman: Retten uns die Reichen? Herder (Freiburg, Basel, Wien) 2015. 127 Seiten. ISBN 978-3-451-31565-7. D: 14,00 EUR, A: 14,40 EUR.
Thema
Zygmunt Bauman, der bekannte Theoretiker der Postmoderne oder auch verflüssigten Moderne, legt mit „Retten uns die Reichen?“ einen Essay zu einem brandaktuellen Thema vor, das derzeit in aller Munde ist. In diesem knappen Band behandelt er die wachsende soziale Ungleichheit, fragt nach deren Entstehungsbedingungen und warnt vor ihren Folgen.
Autor
Zygmunt Bauman ist polnischer Soziologe und einer der weltweit bekanntesten seiner Zunft. Er hatte von 1971 bis 1990 den Lehrstuhl für Soziologie an der University of Leeds inne. Er ist Autor zahlreicher bekannter Werke, wie „Das Unbehagen in der Postmoderne“ (1999), „Flüchtige Moderne“ (2003) und „Leben als Konsum“ (2009). Insgesamt veröffentlichte Bauman 57 Bücher und weit über hundert Artikel. Nachdem er sich am Anfang seines Schaffens intensiv mit den Themen der „Moderne“ und der „Rationalität“ auseinandersetzte, wendete er sich in einer späteren Phase ab 1990 verstärkt der „Postmoderne“ und dem „Konsumismus“ zu.
Aufbau und Inhalt
Ohne Umschweife kommt Zygmunt Bauman in der Einleitung zum Kernthema des Buches. Es geht um die wachsende soziale Ungleichheit, die seit den letzten Jahrzehnten überall auf der Welt im Steigen begriffen ist – und zwar in einem bisher ungekannten Ausmaß. Bauman zitiert zahlreiche Quellen, die diesen augenscheinlichen Befund belegen: „Der Reichtum, der am oberen Ende der Gesellschaft gehortet wird, hat es ganz offenkundig verabsäumt, nach unten durchzusickern und den Wohlstand von uns anderen zu mehren oder zu bewirken, dass wir uns sicherer fühlen, dass wir hinsichtlich unserer eigenen Zukunft und der unserer Kinder optimistischer sind oder uns glücklicher fühlen“ (S. 13). Doch warum stoßen diese Befunde nicht auf eine breite Resonanz und ebnen Veränderungen den Weg? Bauman wird im Verlauf der folgenden Kapitel immer wieder auf diese Frage zurückkommen.
In „Ungleichverteilung heute“ (Kapitel 1) erläutert Bauman zunächst anhand von zahlreichen Befunden, wie groß die Kluft zwischen Arm und Reich bereits geworden ist. Diese Befunde beziehen sich zum einen auf die globale Schere zwischen Arm und Reich – während 2013 die reichsten 20 % der Bevölkerung 90 % aller hergestellten Güter verbrauchen, sind es bei den ärmsten 20 % lediglich 1 %. Wobei insbesondere das Ansteigen der Ungleichheit innerhalb der Länder ein neues Phänomen darstellt, das sich immer mehr ausweitet. Hier bezieht sich Bauman auf den ehemaligen Chefökonomen der Weltbank, François Bourguinon, der diesem Umstand 2013 ein Buch widmete mit dem Titel „Die Globalisierung der Ungleichheit“. Auch wenn die globale zwischenstaatliche Ungleichheit abnimmt - hierfür liegt der Grund primär im wirtschaftlichen Aufschwung bevölkerungsreicher Länder, wie China und Indien - nimmt „der Abstand zwischen den Reichsten und den Ärmsten auf der Welt weiterhin zu[] und (…) die Einkommensunterschiede innerhalb der Länder [weiten sich] weiterhin aus[]. (…) Die Veränderungen der jüngeren Vergangenheit haben lediglich einer verschwindend kleinen Minderheit der Weltbevölkerung genutzt“ (S. 18f.). Das erschreckende an diesem sich vollziehenden sozialen Wandel sei, so Bauman, dass die Ungleichheit heute „kraft ihrer eigenen Logik und Dynamik“ steige und keine Impulse mehr von außen benötige (S. 20). In der sozialen Realität spiegle sich dieser Wandel in einem Auseinanderdriften der Lebenswelten wieder, die kaum noch Überschneidungspunkte und Vernetzungen aufweisen und damit auch den sozialen Zusammenhalt brüchig werden lässt.
In einem zweiten Kapitel („Warum finden wir uns damit ab?“) wendet sich Bauman nun der titelgebenden Frage dieses Buches zu. Hierfür zitiert Bauman eingangs Daniel Dorling, Professor für Humangeografie an der Universität Sheffield: „[I]n den wohlhabenden Ländern [besteht] soziale Ungleichheit deshalb fort[], weil die Menschen weiterhin an die Grundannahmen der Ungerechtigkeit glauben.“ (S. 32) Diesen Grundannahmen liegen den nach außen hin vertretenen Überzeugungen zugrunde, die in der Regel nicht weiter hinterfragt werden. Ein zentraler ‚Grundgedanke der Ungerechtigkeit‘ wurde von Margret Thatcher eingeführt und gelangte ab den ausklingenden 1970er Jahren allmählich zu seiner Blüte. Es ist die Überzeugung, dass Menschen ‚naturgemäß‘ unterschiedliche Fähigkeiten besitzen und dieses Potential insofern bereits im Individuum angelegt ist anstatt von gesellschaftlichen Sachverhalten beeinflusst und überhaupt beeinflussbar zu sein. Dem stellt Bauman seine soziologische Perspektive entgegen, die einer ‚strukturierten‘ Welt einen lernfähigen und insofern ‚strukturierenden‘ ‚Charakter‘ gegenüberstellt, an dem wir arbeiten, den wir schulen und dadurch auch weiterentwickeln können (S. 37). Doch die Struktur der modernen Gesellschaft als individualisierte und kapitalistische Konsumgesellschaft lässt manche Handlungsoptionen jedoch als naheliegender erscheinen als andere.
Den ‚Lügen, die den sozialen Zusammenhalt gefährden‘ ist Kapitel drei gewidmet. Den Ausgangspunkt für die weiteren Überlegungen bildet die Verfasstheit der (Welt-)Gesellschaft im 21. Jahrhundert. Auch wenn die gesellschaftlichen Gegebenheiten historische, politische, soziale und wirtschaftliche Konstrukte sind, und damit keineswegs natürlich, erscheinen sie uns doch als ebensolche Tatsachen. „Wir neigen (zu Recht) dazu zu denken, dass das die Welt ist, in der wir leben müssen. Und wir folgern (zu Unrecht), dass es zu dieser Art von Welt keine Alternative gibt und auch keine Alternative geben kann.“ (S. 43f.) Die zentralen „Gegebenheiten“, die Bauman als reformresistent und widerstandsfähig identifiziert, sind wirtschaftliches Wachstum, fortwährende Konsumsteigerung, natürliche zwischenmenschliche Ungleichheit und Konkurrenz. Galt Wirtschaftswachstum den Vordenkern der modernen Ökonomie noch als notwendiges Übel, so ist ohne sein Heilsversprechen heute kein Wahlkampf mehr zu gewinnen. Selbst Keynes war noch der Meinung, dass „[d]er Tag (…) nicht weit [ist], an dem das ökonomische Problem in die hinteren Ränge verbannt werden wird, dort, wohin es gehört. Dann werden Herz und Kopf sich wieder mit unseren wirklichen Problemen befassen können “ (S. 51). Doch die entfesselten Märkte (ob Finanz- oder Arbeitsmärkte) entpuppen sich immer mehr als ‚wirkliche‘ Probleme für die meisten Menschen, während sie für die Reichen einen Segen darstellen durch die die ‚unsichtbare Hand‘ sichtbare Profite zu ihren Gunsten generiert. Das Problem mit dem Wirtschaftswachstum stellt sich gegenwärtig jedoch wie folgt dar: „Die Steigerung des ‚Gesamtvermögens‘ und die Zunahme sozialer Ungleichheit gehen Hand in Hand.“ (S. 55) Der „Trickle-Down“-Theorie zum Trotz, die besagt, dass alle vom Reichtum der Reichen profitieren, sickert nichts nach ‚unten‘ durch. „Für einige wenige bedeutet ‚Wirtschaftswachstum‘ Reichtum und Überfluss, doch für die unüberschaubare Masse an anderen Menschen bedeutet es einen enormen Verlust an Sozialprestige und Selbstachtung.“ (S. 58f.) Auch die gegenwärtig so wirkmächtigen „Tatsachen“ des steigenden Konsums, der natürlichen Ungleichheit zwischen Menschen und der Konkurrenz als Leitprinzip werden von Bauman unbarmherzig zerpflückt. Gesellschaftliche Inklusion funktioniert nur insoweit als Konsumfähigkeit gegeben ist. Ist sie es nicht mehr, zerbricht auch diese Illusion vollends.
Das letzte Kapitel („Worte gegen Taten“) skizziert in Kürze einige Überlegungen Baumans zum Umgang mit der Misere. Die Kluft zwischen einer Wirklichkeit, die wir (meist) als unveränderbar erleben, und die auf Werten beruht, die wir individuell als wenig erstrebenswert empfinden, und einer Realität, die wir uns wünschten und mit den von uns hochgehaltenen Werten von Respekt, Solidarität, Gleichheit und Freundschaft in Einklang stünde, ist groß. Um trotzdem nicht an der Größe dieses Widerspruchs zu zerbrechen, verweist Bauman auf eine Rede Elias Canettis aus dem Jahre 1976. Darin befasst er sich mit der Frage, ob es angesichts des momentanen Zustands der Welt, „etwas gibt, wodurch Dichter oder was man bisher dafür hielt, sich nützlich machen können.“ Canetti gelangt zu dem Schluss, dass „[i]n einer solchen Welt, die man als die verblendetste aller Welten bezeichnen möchte, (…) es von geradezu kardinaler Bedeutung [erscheint], daß es welche gibt, die diese Gabe der Verwandlung ihr zum Trotz weiter üben.“ (S. 122) Auch wenn es den Anschein hat, dass jegliche Warnrufe darüber, wo unsere Gesellschaft hinsteuert, vertan sind, so sieht Bauman nichtsdestotrotz eine Notwendigkeit dafür gegeben diese Warnrufe zu tätigen – „immer wieder und immer entschlossener.“ (S. 123)
Fazit
Zygmunt Bauman hat mit „Retten uns die Reichen?“ ein kleines Büchlein mit viel Inhalt vorgelegt. Auch wenn anfänglich viel Bekanntes rezipiert wird, zumindest für jene LeserInnen, die sich schon länger mit der Thematik der sozialen Ungleichheit auseinandersetzen, so ist die Art und Weise, in der Bauman verschiedenste Theorien und Konzepte aus seinem reichen Fundus hervorholt, um damit gegenwärtige Problemlagen zu analysieren ein wahres Lesevergnügen. So wird mit Descartes über das Verhältnis des modernen Subjekts zu Konsumgütern in der kapitalistischen Gesellschaft räsoniert und mit Jonathan Franzen die Beziehung zu diesen begehrenswerten, meist technologischen Konsumobjekten erörtert. An vielen Stellen platziert Bauman sprachkünstlerisch versiert Bilder in die Köpfe der LeserInnen, die das Buch zu einem Erlebnis machen. Manchmal ein sportliches (ad Kluft zwischen Arm und Reich), wenn es um die „Kluft [geht], die so tief ist, dass nur noch die allerkräftigsten und skrupellosesten Kletterexperten es mit ihr aufnehmen können.“ (S. 10f.) Manchmal ein kulinarisches (ad Durchschnittswerte der Wohlstandsmessung): „Wobei dies, nicht zu vergessen, lediglich Durchschnittswerte sind, die somit jenem Jux-Rezept für eine Hasen-Pferde-Pastete ähneln: man nehme einen Hasen und ein Pferd …“ (S. 10).
Rezension von
Laura Sturzeis
Sozioökonomin und Programmkoordinatorin des Masterstudiums Sozioökonomie an der Wirtschaftsuniversität Wien
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Zitiervorschlag
Laura Sturzeis. Rezension vom 11.11.2015 zu:
Zygmunt Bauman: Retten uns die Reichen? Herder
(Freiburg, Basel, Wien) 2015.
ISBN 978-3-451-31565-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19385.php, Datum des Zugriffs 09.12.2023.
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