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Hendrik Berth, Elmar Brähler et al. (Hrsg.): Gesichter der ostdeutschen Transformation

Rezensiert von Prof. Dr. Hartmut M. Griese, 08.12.2015

Cover Hendrik Berth, Elmar Brähler et al. (Hrsg.): Gesichter der ostdeutschen Transformation ISBN 978-3-8379-2536-4

Hendrik Berth, Elmar Brähler, Markus Zenger, Yve Stöbel-Richter (Hrsg.): Gesichter der ostdeutschen Transformation. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Sächsischen Längsschnittstudie im Porträt. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2015. 200 Seiten. ISBN 978-3-8379-2536-4. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR, CH: 35,50 sFr.

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Thema

Die DDR existiert schon ein Viertel Jahrhundert nicht mehr, das Zentralinstitut für Jugendforschung (ZIJ) in Leipzig wurde vor 25 Jahren abgewickelt, aber eine Studie hat überlebt – die „Sächsische Längsschnittstudie“, die 1987 unter der Leitung („Studienvater“) von Peter Förster im ZIJ ins Leben gerufen wurde. Seit dieser Zeit begleitet die Studie ostdeutsche Menschen, damals Jugendliche im Alter von 17/18 Jahren (1987: 1407 SchülerInnen aus 72 Klassen an 41 Schulen der Bezirke Leipzig und Karl-Marx-Stadt, die zumeist 1973 geboren wurden), heute Personen in der mittleren Lebensspanne (zuletzt noch 328 Probanden), auf ihrem Lebensweg. Mittlerweile (2013/ 2014) sind insgesamt 27 „Wellen“ abgeschlossen wurden und ein Ende ist nicht abzusehen – eine einzigartige sozialwissenschaftliche Studie mit ungeheurem Erkenntnispotential für die Jugend-, Lebenslauf-, Sozialisations- und Transformationsforschung. Etliche Buchpublikationen und Aufsätze haben über die jeweiligen Ergebnisse und den Erkenntnisstand der Studie berichtet. Ich selbst habe z.B. zwei größere Werke dazu bei socialnet.de rezensiert (Förster 2002 und Berth u.a. 2012). Dort lassen sich die Rahmenbedingungen sowie weitere Einzelheiten über diese einmalige empirische Längsschnittforschung nachlesen.

Herausgeber

Die Herausgeber sind identisch mit denen von 2012 und arbeite(te)n an den Universitäten Dresden, Leipzig und Zittau/ Görlitz als Medizinpsychologen und -soziologen sowie in der Gesundheitswissenschaft und haben die Leitung der Studie von Peter Förster übernommen, der mittlerweile weit über 80 Jahre alt ist. Im Buch sind 15 Portraits bzw. „Berichte der StudienteilnehmerInnen“ abgedruckt, so dass diese hier auch als „AutorInnen“ bezeichnet werden sollen, da es sich zumeist um authentisches Material aus Aufsätzen zu vorgegebenen Themen handelt.

Aufbau

Nach dem Vorwort der Herausgeber (S. 9-15) folgen drei allgemeine Beiträge über Grundsatzinformationen zur „Sächsischen Längsschnittstudie“ (S. 17-27; Hrsg. plus Peter Förster!), eine Zusammenfassung der Hrsg. zu „Zentrale Ergebnisse aus 28 Jahren …“ (S. 29-43) sowie zuletzt eine Diskussion „Wie repräsentativ sind die Daten …?“ (S. 45-62; Hrsg. plus David Richter und Gert G. Wagner).

Sodann folgen die 15 Portraits/ Berichte in alphabetischer Reihenfolge der Familiennamen, wobei die Leser jeweils über zwei Fotos (aus der Jugendzeit zu Beginn der Studie und aktuell) sowie die wichtigsten Sozialdaten (Geburtsort und -jahr, Beruf, Wohnort, Familie und Hobbies) sich einen ersten Eindruck von den Personen machen können.

Der wohl interessanteste Beitrag folgt dann abschließend, ein im Original abgedruckter „Forschungsbericht zu den ersten beiden Wellen der Studie“ aus dem Jahre 1988 (!) zu „Entwicklungstendenzen ideologischer Haltungen und der Aktivität der FDJ“ von Peter Förster und Mitarbeitern, der schon allein wegen der dort gebräuchlichen Terminologie sowie den äußerst kritischen Anmerkungen heute und vor allem für Wissenschaftshistoriker lesenswert ist.

Inhalt und Erkenntnisse

Erwähnenswert sind die Entwicklungen und Veränderungen der Einstellungen, Werthaltungen und Meinungen der untersuchten StudienteilnehmerInnen, worüber exemplarisch berichtet wird (S. 29ff), da in den 28 Jahren „mehr als 5000 verschiedene Fragen gestellt“ wurden. Die Absatzüberschriften geben die Auswahl der Themen und/ oder die Interpretation der Hrsg. wieder:

  • „Große Zustimmung zur deutschen Einheit“; (S. 30), die Selbstwahrnehmung der Probanden zu der Frage „Wer sind die GewinnerInnen der deutschen Einheit?“ (S. 31 – „VerliererInnen“ sind demgemäß Frauen, Menschen mit „erlebter Arbeitslosigkeit“, Verbleib im Osten und „Netto-Einkommen unter 2000 Euro“);
  • „Was bleibt von der DDR?“ (S. 33 – vor allem ein „Normalzustand“ mit „Doppelidentität“ als DDR-BürgerIn und BürgerIn der Bundesrepublik);
  • „Wachsen Ost und West zusammen?“ (S. 37 – ein Viertel meint auch nach 25 Jahren, dass die „Unterschiede zwischen Ost und West überwiegen“);
  • „Wie viel Zeit braucht die innere Einheit?“ (S. 39 – Tendenz: „Die erwartete Zeit bis zur tatsächlichen Einheit schiebt sich somit von Jahr zu Jahr immer weiter nach hinten“ und „nur 17 Personen (5,3 %) … gehen davon aus, dass die innere Einheit bereits vollzogen ist“).

Was bleibt rückblickend hinsichtlich der psychosozialen Folgen für die zur „Wendezeit“ typischen Jugendlichen festzuhalten (S. 41f)? „Die Befragten haben ihre Identität als ehemalige DDR-BürgerInnen nicht aufgegeben“; es besteht überwiegend eine „Doppelidentität“ und eine „tatsächliche Wiederherstellung der inneren Einheit“ wird erst zukünftig gesehen.

Für das Autorenteam gilt: „Insgesamt gesehen bleibt aus unserer Sicht aber das Ergebnis, dass sich die Wahrnehmung der deutschen Einheit seit 1990 deutlich positiv entwickelt hat. Die Daten sind ein ermutigendes Zeichen für den ostdeutschen Transformationsprozess und die Annäherung zwischen Ost- und Westdeutschen“ (S. 42). Das „Ganze“ kann man auch anders sehen – ich komme darauf zurück.

Die Studie kann ursprünglich als repräsentativ bezeichnet werden, jedoch ist der verbleibende Rest von 328 Personen der ehemals 1407 Probanden durch folgende Merkmale charakterisiert, die eine methodische Schieflage zur Folge haben: mehr Frauen, mehr „politisch Interessierte“, höher gebildete Menschen sowie motovierte und optimistische BürgerInnen. Dies wird auch verstärkend bei der Auswahl (das Kriterium dafür blieb mir unklar) der 15 Personen für die „Berichte der StudienteilnehmerInnen“ deutlich, deren Portraits dann quasi als Hauptteil des Buches folgen (S. 65-140) (9 Frauen und 6 Männer; überwiegend Abitur und Studium; als Wohnort geben zwei das europäische Ausland an (!), fünf wohnen in Süddeutschland (!) und zwei weitere in Berlin bzw. Potsdam (!), so dass etwa die Hälfte der 15 ProbandInnen sich gegenwärtig nicht mehr in Ostdeutschland aufhalten).

Vorgegebene Fragen waren:

  • „Warum nehme ich immer noch an der Studie teil?“;
  • „Was hat mir an der DDR gefallen?“;
  • „Was hat mir an der DDR nicht gefallen?“;
  • „Was gefällt mir heute am besten?“;
  • „Was gefällt mir heute nicht?“.

Ferner wurden teilweise Aussagen qualitativer Art aus früheren Wellen (vor allem 1990/ 91 und 1994) herangezogen sowie schwerpunktmäßig die kurzen Aufsätze zu den 2015-Fragen bzw. Bitten, insbesondere zu:

  • „Wie denken Sie heute allgemein über die Wiedervereinigung?“.

Ferner gab es extrinsische Schreibmotivationen wie:

  • „Bitte schildern Sie eine für Sie besonders wichtige/ einprägsame/ lustige Begebenheit in Zusammenhang mit der deutschen Einheit“;
  • „Viele Westdeutsche behandeln uns Ostdeutsche als Deutsche zweiter Klasse“; „Ich bin froh, die DDR noch erlebt zu haben“;
  • „Es war nicht alles falsch, was wir in der Schule über den Kapitalismus gelernt haben“.

Die Autoren verzichten bewusst auf eine Diskussion und/ oder Interpretation der Aufsatzpassagen und lassen die Texte unkommentiert für sich sprechen. Das vorliegende Buch hat keinen wissenschaftlichen Anspruch. So kann jeder Leser sich quasi die Aussagen rauspicken, die für seine Sicht der Dinge bzw. Konstruktion der Wirklichkeit passend, viabel und anschlussfähig sind. Die Auswahl von Zitaten (auch von 1990, 1994) als Überschrift zu den 15 Berichten gibt jedoch in etwa die intendierte Richtung an, z.B.:

  • „Die Wiedervereinigung war richtig und gut“ (S. 65);
  • „So viel Freiheit war ich nicht gewohnt“ (S. 69);
  • „ … weil dieser Umbruch viel zu schnell geht“ (1990, S. 73);
  • „Westdeutsche glauben immer noch, dass alle aus dem Osten doof sind“ (1994, S. 79);
  • „Die DDR bleibt ein Teil der Generation Wende“ (S. 83);
  • „Die Reisefreiheit ist die große Errungenschaft“ (S. 95);
  • „Wir haben in der DDR nicht schlecht leben müssen“ (S. 99);
  • „Zur Wiedervereinigung gab es keine Alternative“ (S. 105);
  • „Es war nicht alles schlecht, genau wie heute“ (S. 119);
  • „Umbruch einer unvorbereiteten Gesellschaft“ (S. 131);
  • „Dank der Wende konnte ich meinen Traum zum Beruf machen“ (S. 135).

Wenn ich jetzt einige Sätze aus den Berichten gemäß meiner Intention „Was ist aus der Sicht der Wende-Generation schief gelaufen?“ zitiere, dann verfolge ich damit eine Kritik an der Auswahl der Überschriften, aber vor allem an der Politik der Wiedervereinigung:

  • „Ärgerlich ist aber immer noch, dass es für gleiche Arbeit unterschiedliche Einkommen gibt“ (Lehrerin!);
  • „Genau genommen leben wir in einer globalen Diktatur der Wirtschaft“ (Fotograf, Augsburg);
  • „Die Menschen in Ostdeutschland sind heute vermutlich genauso frustriert wie damals … in dem neuen ‚Geld-regiert-die Welt-System‘“ (Diplom-Betriebswirtin, Zwickau);
  • „ Einfach abzuwickeln … Das verdient dann nicht den Namen Wiedervereinigung, sondern Annektion“ (Informatikerin, Rodewisch);
  • „Was gefällt mir heute nicht? Lobbyismus und direkter Einfluss der Wirtschaft auf die Politik … Sozialstaat-Abbau, Verklärung des Begriffes Freiheit … Der politische Druck ist dem wirtschaftlichen Druck gewichen. Der Mensch ist frei, aber nur im Rahmen seiner wirtschaftlichen Möglichkeiten … Die Schere zwischen arm und reich geht ständig weiter auseinander“ (Ingenieur, Ginsheim-Gustavsburg);
  • „Viel Negatives vom Westen übernommen … alles Positive aus dem Osten abgeschafft … Es wurde mir zu viel zerstört, was in der DDR doch positiv war“ (Verwaltungsangestellte, Bayern!);
  • „Dier Wiedervereinigung ging einfach zu schnell … Ich kehrte nach England zurück, wo ich mich inzwischen mehr zu Hause fühlte … Trotz allem fühle ich mich auch heute noch als Bürgerin der ehemaligen DDR“ (Juristin, Wales/ Großbritannien!);
  • „Was hat mir in der DDR gefallen? Geborgene Kindheit, ohne Zukunftsangst, soziale Sicherheit für alle, Kinderbetreuung von Krippe bis Hort, keine Kriminalität, Förderung von Familie und Frau (z.B. Haushaltstag) … Kapitalismus ist doch nichts, für das man einstehen kann, die Ellbogengesellschaft“ (Datenbank-Analystin, Tutzing/ Starnberger See!);
  • „Viele gute Dinge der DDR, wie das Bildungssystem, das Gesundheitssystem, der Umgang mit Familie und Kindern, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf (um nur eine Auswahl zu nennen) wurden über Bord gekippt. Es entstand mehr der Eindruck einer ‚Wiedervereinnahmung‘ als einer Wiedervereinigung“ (Diplom-Ingenieur, Bayern!);
  • „Man sieht heute immer noch, dass wir zwei Republiken sind … Im Grunde haben wir über genau das den Kapitalismus gelernt, was uns nachher serviert wurde … Im Grunde war der Systemwechsel ein gesellschaftlicher Rückschritt“ (Betriebswirtin, Südhessen!);
  • „Wesentliche Errungenschaften einer sozialistischen Idee gingen ohne Chancen auf Erhalt unter … Wir werden über verschiedene Kanäle medial manipuliert“ (Abteilungsleiter, Potsdam!).

Ich lasse die Aussagen ebenfalls ohne Kommentar so stehen und für sich sprechen.

Als Randnotiz sei noch erwähnt, dass es „erstaunlich ist, dass etwa ein Drittel der heute ca. 42-jährigen TeilnehmerInnen nicht über eine eigene E-Mail-Adresse verfügt und nach wie vor den klassischen Papierfragebogen bevorzugt“ (S. 23) – technische Rückständigkeit oder kritische Distanz zur Ausspionierung durch die neuen Medien?

Der „wertvollste“ Text im vorliegenden Band ist zweifellos das Original des Forschungsberichts von 1988, zu dem angemerkt wird: „Dieser bislang unveröffentlichte Bericht entstand im Dezember 1988 als Schnellinformation/ Dienstsache über die Ergebnisse der ersten beiden Wellen der Studie. Er wird hier unverändert wiedergegeben“ (S. 143). Der Text zeigt schonungslos und kritisch sowie in einer ambivalenten bzw. situationsadäquaten Sprache die Lage der jungen Menschen gegen Ende der DDR und dokumentiert gleichzeitig die Probleme einer systemkritischen Jugendforschung, wie sie am ZIJ praktiziert wurde, weshalb dieses nicht selten in harten Auseinandersetzungen mit der SED-Führung bzw. dem Ministerium von Margot Honecker stand. U.a. werden in dem Text angesprochen: „die nach wie vor ungenügenden Möglichkeiten der Schüler zur demokratischen Mitgestaltung des Lebens“ (S. 149), „dass in der 9. Klasse nur noch 38 % (6 % sehr stark) zustimmen, dass der Marxismus-Leninismus ihnen hilft, sich richtig im Leben zu orientieren“ (S. 150). Da ist die Rede von „sehr ernsten Signalen“ und von „erheblichen Defiziten“,, von einer „Abschwächung der Identifikation mit der DDR“ (S. 152) und einer „zwingenden Notwendigkeit“ zum Nachdenken über die Realität. Konstatiert wird quasi als Zusammenfassung, „dass Möglichkeiten zur demokratischen Mitgestaltung des Lebens im politisch organisierten Kollektiv den Mitgliedern nach wie vor zu wenig erlebbar gemacht werden“ (S. 165) und dass „die Festlegungen der 8. Zentralratstagung nach wie vor nur ungenügend realisiert“ sind (S. 168) – ein auch und vor allem nach 25 Jahren deutsche Einheit lesenswerter Text über das irre Verhältnis von Wissenschaft (Theorie und Empirie) und Politik (Praxis und Realität) in der DDR, über den dadurch notwendigen Spagat einer kritischen empirischen Jugend- und Sozialforschung bzw. über den Balanceakt des systemkritischen ZIJ in der Auseinandersetzung mit der Parteiführung, der dokumentiert, dass auch die abrupte und chancenlose Abwicklung des ZIJ ein nicht wieder gutzumachender Fehler der deutschen Einheit war.

Diskussion und Kritik

Ich denke, es wird überdeutlich, wo aus Sicht der gut (aus-)gebildeten und zumeist kritisch denkenden 15 Probanden der Schuh der Wiedervereinigung drückt. Wenn man, wie es die Herausgeber machen, die Aufsatzmaterialien unkommentiert und ohne Interpretation oder Zusammenfassung (wie noch bei den Befragungen geschehen; vgl. oben) stehen lässt, besteht das Problem der selektiven und subjektiven Wahrnehmung, wie z.B. bei meiner Auflistung der einheitskritischen Äußerungen. Im Vorwort werden derlei Meinungen von den Herausgebern auch kurz angesprochen, wenn sie konstatieren (S. 12): „Die Mehrheit sagt jedoch auch, dass es erhaltenswerte Dinge (!? H.G.) gegeben hätte, die heute vermisst werden … Bildungssystem … Familienpolitik … soziale Sicherheit“ – eine Diskussion und/ oder Interpretation der Aufsatzaussagen über diese „Dinge“ bleibt, wie erwähnt, aus. Die Portraits und die Aussagen der Probanden bleiben im theoriefreien Raum stehen und sollen wohl für sich sprechen oder eben selektiv gelesen werden – m.E. wurde hier eine Chance vertan, die unterschiedlichen subjektiven Verarbeitungen und biographisch-psychisch vielfältigen Auseinandersetzungen mit den ambivalenten Folgen der deutschen Einheit näher zu analysieren, um daraus z.B. forschungsleitende Hypothesen für weitere Studien zu entwickeln.

Zur angewandten Methode, ihre Vor- und Nachteile, ihr methodologischer Stellenwert oder Probleme der Auswertung etc., nämlich „kurze Aufsätze (ca. 200 bis 500 Worte)“ (S. 10) zu mehreren vorgegebenen inhaltlichen Themen zu verfassen, erfährt man nichts. Dies finde ich bedauerlich, da das empirische Instrument der Aufsatzforschung einerseits recht alt ist (aus den 1920er Jahren der Jugendforschung), andererseits selten verwendet wird und in keinem Hand- oder Lehrbuch erwähnt wird, obwohl es m.E. äußerst produktiv zur Generierung qualitativer Daten geeignet ist (vgl. Näheres zur Methode, ihres Ursprungs und ihrer Anwendung in Griese/ Sievers/ Schulte 2007, S. 115ff).

Forschungen zur deutschen Einheit und ihren psychosozialen Folgen sind, das haben die letzten 25 Jahre gezeigt, zumeist stark von subjektiver und selektiver Wahrnehmung und biographischen Erfahrungen der WissenschaftlerInnen geprägt. Dies erwähnen auch – undiskutiert – die Herausgeber: „Ähnlich ist es in der Auswertung der Daten, die immer auch von subjektiven Annahmen der Forscherpersönlichkeiten beeinflusst werden. So gibt es einige Publikationen vom Studienvater Peter Förster, die sich im Schwerpunkt auf die negativen Folgen des Wiedervereinigungsprozesses konzentrieren und das auch im Titel andeuten, z.B. ‚Junge Ostdeutsche heute: Doppelt enttäuscht‘“ (S. 24/25). In anderen Worten: Auf die Perspektive (Interessen und Ideologie) kommt es an, und ein Forschungsteam sollte mit Blick auf ihre Biographien pluralistisch und heterogen zusammengesetzt sein (vgl. dazu auch unsere Kritik an der deutsch-deutschen Jugendforschung Anfang der 1990er Jahre in Bolz/ Griese 1995 oder die Studie von Mayer/ Schulze 2010 zur „Wendegeneration“).

Mein Wunsch wäre, dass das hochinteressante und erkenntnisgenerierende Aufsatzmaterial in Qualifikationsarbeiten an Universitäten oder in weiteren Studien ausgewertet und theoretisch interpretiert wird und dass der Methode der Aufsatzforschung dadurch mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Kaum eine andere empirische Methode ist (ähnlich dem narrativen Interview) so offen angelegt, generiert so authentisches qualitatives Datenmaterial und liefert derlei überraschende Ergebnisse, Einsichten und Erkenntnisse. So stammt z.B. auch der Titel unserer Studie „Wir denken deutsch und fühlen türkisch“ (Griese/ Sievers/ Schulte 2007) aus einem Aufsatz einer Probandin.

Fazit

Das Buch ist eine Fundgrube für alle, die Interesse haben an authentischen und kritisch-reflexiven Äußerungen von ehemals DDR-Jugendlichen, die im Zenit der Jugend mit 17-18 Jahren den Mauerfall und die Jahre danach erlebt haben und ihre Erfahrungen, die dann generationsprägend wurden, verarbeiten mussten und dies in ihren Äußerungen und Aufsätzen retrospektiv dokumentieren.

Ob sich auch PolitikerInnen finden, die das Buch zur Hand nehmen, die Texte und Portraits sowie das Originaldokument von 1988 studieren, wage ich zu bezweifeln – zu wünschen wäre es, auch in deren eigenem Interesse zum besseren Verständnis der jüngeren deutschen Geschichte (vgl. dazu aktuell unseren Reader Schrader et al 2015).

Literatur

  • Berth, Hendrik/ Brähler, Elmar/ Zenger, Markus/ Stöbel-Richter, Eva (Hrsg.) (2012): Innenansichten der Transformation. 25 Jahre Sächsische Längsschnittstudie (1987-2012). Gießen.: Psychosozial Verlag (vgl. meine Rezension)
  • Bolz, Alexander und Griese, Hartmut M. (Hrsg.) (1995): Deutsch-deutsche Jugendforschung. Theoretische und empirische Studien zur Lage der Jugend aus ostdeutscher Sicht. Juventa: Weinheim und München
  • Förster, Peter (2002): Junge Ostdeutsche auf der Suche nach Freiheit. Eine systemübergreifende Längsschnittstudie zum politischen Mentalitätswandel vor und nach der Wende. Opladen: Leske & Budrich (vgl. meine Rezension)
  • Griese, Hartmut/ Sievers, Isabel/ Schulte, Rainer (2007): ‚Wir denken deutsch und fühlen türkisch‘. Sozio-kulturelle Kompetenzen von Studierenden mit Migrationshintergrund Türkei. Frankfurt: IKO
  • Mayer, Karl Ulrich und Schulze, Eva (2010): Die Wendegeneration. Lebensverläufe des Jahrgangs 1971. Frankfurt/ New York: Campus (vgl. meine Rezension)
  • Schrader, Irmhild/ Joskowski, Anna/ Diaby, Karamba/ Griese, Hartmut M. (Hrsg.) (2015): Vielheit und Einheit im neuen Deutschland. Leerstellen in Migrationsforschung und Erinnerungspolitik. Frankfurt: Brandes & Apsel

Rezension von
Prof. Dr. Hartmut M. Griese
Leibniz Universität Hannover, Philosophische Fakultät, Institut für Soziologie und Sozialpsychologie.
ISEF-Institut (Institut für sozial- und erziehungswissenschaftliche Fortbildung
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Es gibt 85 Rezensionen von Hartmut M. Griese.

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Zitiervorschlag
Hartmut M. Griese. Rezension vom 08.12.2015 zu: Hendrik Berth, Elmar Brähler, Markus Zenger, Yve Stöbel-Richter (Hrsg.): Gesichter der ostdeutschen Transformation. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Sächsischen Längsschnittstudie im Porträt. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2015. ISBN 978-3-8379-2536-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19389.php, Datum des Zugriffs 08.09.2024.


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