Rüdiger Noelle, Michael Ermann: Grundlagen und Praxis gerontopsychiatrischer Pflege
Rezensiert von Prof. Dr. habil. Gisela Thiele, 02.02.2016

Rüdiger Noelle, Michael Ermann: Grundlagen und Praxis gerontopsychiatrischer Pflege. Psychiatrie Verlag GmbH (Köln) 2015. 168 Seiten. ISBN 978-3-88414-624-8. D: 24,95 EUR, A: 25,70 EUR, CH: 35,50 sFr.
Thema
Die vorliegende Publikation hat den Anspruch, evidenzbasiertes Fachwissen zur gerontopsychiatrischen Pflege zu vermitteln. Den Pflegenden sollen Handlungsgrundlagen und Techniken bereitgestellt werden, wie sie mit der Verknüpfung der eigenen inneren Reflexion eine therapeutische und fachlich fundierte Beziehung als Grundlage für eine gute Betreuung aufbauen können.
Herausgeber
Herausgeber dieses Bandes ist Diakon Prof. Dr. Rüdiger Noelle, der viele Jahre als Fachkrankenpfleger für Psychiatrie tätig war und seit 2012 an der Fachhochschule Bielefeld den Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre der Sozial- und Gesundheitswirtschaftslehre innehat.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist nach einem Vorwort und einer Einleitung in weitere 14 Kapitel unterschiedlicher Länge gegliedert.
In der Einleitung wird vom Autor verdeutlicht, dass die Publikation die professionelle Pflegekraft auf dem in jeder Situation neu zu gehenden Weg des Erkennens, Verstehens und Handelns begleiten soll. Mit den Gesundheitsverhaltensmustern läge ein Instrumentarium vor, das den Zugang zu den Menschen über ihre Ressourcen suche und alle Faktoren berücksichtige, die für deren körperliche und seelische Gesundheit wichtig sei (S. 12).
Im ersten Kapitel „Grundlagen“ wird zunächst spezifisches Wissen über das Altern herausgearbeitet und danach auf die gerontopsychiatrische Pflege eingegangen. Dabei geht es um einen assoziativen Pflegeansatz, der die Einbeziehung aller Einflussfaktoren auf die konkrete Situation mit einschließt. Primär seien die Bedürfnisse und Wünsche der zu Pflegenden zu berücksichtigen und erst in zweiter Linie die Vorschriften der Gesetzgebung. In der Praxis dürfte das meines Erachtens allerdings eher mehr Wunsch als Realität sein.
Das zweite Kapitel ist mit dem Titel „Basisassessments zum Ausschluss lebensbedrohlicher Situationen“ überschrieben. Vom Notfallassessment wird auf das Delir im Alter sowie deren Erkennung und Behandlung übergegangen. Die Auftrittswahrscheinlichkeit eines Delirs reiche von bis zu 30% bei internistischen Krankenhausaufnahmen und bis zu 80% nach Hüftoperationen und intensivmedizinischer Behandlung. Warum danach völlig unvermittelt auf die Suizidalität im Alter eingegangen wird, mutet etwas eigenartig an. Noelle behauptet hier, dass sich alte Menschen nicht spontan für einen Suizid entscheiden würden, sondern lange vor diesem Ereignis bestehe der Wunsch, früher sterben zu können (S. 34).
Kapitel drei „Gesundheitsverhaltensmuster Ernährung und Stoffwechsel“ enthält Ausführungen zum biografischen Verständnis der Ernährungsgewohnheiten und zur lebensphasengerechten Versorgung. Danach folgen, auch wieder relativ unvermittelt, Angaben zum Dekubitus und dessen Prophylaxe sowie Behandlung.
Dem „Gesundheitsverhaltensmuster Ausscheidung“ ist das vierte Kapitel vorbehalten. Es sei wichtig, regelmäßige Gesprächsmöglichkeiten in vertrauter, kultursensibler Atmosphäre zu schaffen.
Es folgen Ausführungen zum „Gesundheitsverhaltensmuster Aktivität und Bewegung“. Es werden zwei Modelle – das Modell der „Handlungsspielräume“ und das der „Selektiven Optimierung mit Kompensation“ nach Baltes vorgestellt, nach denen die Pflegenden Veränderungen in diesen Bereichen strukturieren können. Eine Möglichkeit, die Zufriedenheit mit der Aktivität einschätzen zu können, biete der standardisierte SEIQol- Test (S. 57).
Im sechsten Kapitel „Gesundheitsverhaltensmuster Schlaf und Ruhe“ werden ein Schlafassessment vorgestellt und Hilfen für einen erfolgreichen Schlaf gegeben. Ältere würden nicht weniger Schlaf benötigen als junge Menschen, allerdings nehme die Fähigkeit ab, lange und durchgehend zu schlafen.
Es folgt das Kapitel zum „Gesundheitsverhaltensmuster Kognition und Perzeption“, das über 50 Seiten umfasst. Dieses Muster beschreibt die Fähigkeit, Sinneseindrücke aus der Umgebung aufzunehmen, zu verarbeiten, um letztlich Entscheidungen treffen zu können (S. 62). Es bestimmt aber auch über das Maß der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Es schließen sich ausführliche Informationen über die Krankheitsbilder Demenz, Depression, Psychosen und Sucht an und deren pflegerischen Erfordernisse. Warum Sucht in diesem Themenbereich behandelt wird, ist nicht ganz nachvollziehbar.
Im Kapitel acht zum „Gesundheitsverhaltensmuster Selbstwahrnehmung und Selbstkonzept“ werden noch einmal die Depression und das notwendige Assessment als Gegenstand der Ausführungen gewählt, das bereits im vorhergehenden Kapitel umfangreich behandelt wurde.
Das „Gesundheitsverhaltensmuster Bewältigungsverhalten und Stresstoleranz“ wird in einem weiteren Kapitel bearbeitet. Wesentliches Element dieses Musters seiist das Gefühl von Selbstwirksamkeit und Kontrolle, die mit zunehmender gesundheitlicher Beeinträchtigung ohnehin abnehmen und es müssten zudem noch Kompensationsstrategien für die schwindenden Kräfte und den Verlust sozialer Kontakte aufgebracht werden. Recht rudimentär wird am Ende dieses Kapitels auf nicht einmal zwei Seiten auf das Betreuungsrecht sowie die Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung verwiesen.
Das Thema des folgenden Kapitels „Gesundheitsverhaltensmuster Werte und Überzeugungen der zu Pflegenden“ wird unter dem Aspekt des Stärkens, Tröstens und der Beruhigung gesehen (S. 146). So könnten die Werte, Überzeugungen, Spiritualität und Religiosität sowohl die Gesundheit als auch die Ernährungs- und Bewegungsmuster bestimmen.
Das vorletzte Kapitel ist dem „Gesundheitsverhaltensmuster Sexualität und Reproduktion“ gewidmet. Es verwundert, dass zur Sexualität noch nicht einmal auf einer Seite Ausführungen und zur Reproduktion gar keine gemacht werden, obgleich letztere im Titel des Kapitels aufgeführt ist.
Das letzte sehr kurze Kapitel gilt dem „Abschied nehmen“ und der Sterbebegleitung, worauf danach noch eine Seite zur „Schlussbemerkung: Was die gerontopsychiatrische Pflege ausmacht“ ausgeführt wird.
Fazit
Die vorliegende Publikation erfüllt zunächst einmal den selbst gestellten Anspruch, evidenzbasiertes Fachwissen zur gerontopsychiatrischen Pflege zu vermitteln. Allerdings scheint mir der Begriff, mit dem zehn der Kapitel überschrieben sind, „Verhaltensmuster“, nicht glücklich gewählt zu sein. Denn Verhalten ist etwas, was Mensch und Tier gemeinsam haben. Im Verhalten heben wir den Arm, setzen ein Bein etc. Verhalten kann also auf bestimmte physikalische, chemische und biologische Faktoren des Körpers zurückgeführt werden. Insofern wäre der Begriff Handeln der treffendere, weil Handeln über einen Entwurf motivational gesteuertes Verhalten [1] ist und Motive dafür entscheidend sind, die letztlich eine Pflegebeziehung steuern.
Des Weiteren sind die Stringenz der Ausführungen und die sehr unterschiedlich umfangreichen Abhandlungen der Themen wenig nachvollziehbar. Da gibt es ein Kapitel über mehr als 50, ein weiteres über 25 Seiten, wohingegen die meisten anderen aber nur sehr wenige Seiten füllen, obgleich sie eine ebenso tiefgründige Betrachtung verdient hätten. Verwunderlich ist auch, warum Testverfahren in manchen Kapiteln ausführlich vorgestellt und behandelt werden bis hin zur Methodik der Auswertung und andere nur kurz Erwähnung finden. Bei letzteren erfolgt noch nicht einmal durchgängig eine Angabe von Quellen, wenn sich Pflegende für ein bestimmtes Verfahren interessieren, um dieses anwenden zu können.
Dennoch kann dieses Buch für viele Pflegende eine bereichernde praktische Hilfe sein, insbesondere bei jenen Kapiteln, die tiefgründig behandelt werden.
[1] U. Schimank 2000: Handeln und Strukturen. Einführung in die akteurtheoretische Soziologie. Weinheim/München. S. 25;
Rezension von
Prof. Dr. habil. Gisela Thiele
Hochschule Zittau/Görlitz (FH)
Berufungsgebiete Soziologie, Empirische
Sozialforschung und Gerontologie
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Zitiervorschlag
Gisela Thiele. Rezension vom 02.02.2016 zu:
Rüdiger Noelle, Michael Ermann: Grundlagen und Praxis gerontopsychiatrischer Pflege. Psychiatrie Verlag GmbH
(Köln) 2015.
ISBN 978-3-88414-624-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19451.php, Datum des Zugriffs 08.12.2023.
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