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Ralf Konersmann: Die Unruhe der Welt

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 24.09.2015

Cover Ralf Konersmann: Die Unruhe der Welt ISBN 978-3-10-038300-6

Ralf Konersmann: Die Unruhe der Welt. S. Fischer Verlag (Frankfurt am Main) 2015. 461 Seiten. ISBN 978-3-10-038300-6. D: 24,99 EUR, A: 25,70 EUR, CH: 35,50 sFr.

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In der Ruhe liegt die Kraft – Unruhig ist mein Herz…

Ruhe und Unruhe sind Gegensätze. Sie stellen sich im menschlichen Dasein als Bewegungslosigkeit und Bewegung dar, physisch und psychisch. Bereits in der antiken griechischen Philosophie kommt der stasis, der Ruhe, als akinêsia, Bewegungslosigkeit, erêmia“, als solitude, Einsamkeit, Sammlung, Meditation, im Gegenteil zu akinêsia, Bewegung, metabolê, Veränderung, eine existentielle Bedeutung zu. Im aktuellen philosophischen Diskurs wird der Eigenschaft, Ruhe zu bewahren, in sich gehen, Gleichmut, Ausgeglichenheit, Gefasstheit, Selbstkontrolle, Zurückhaltung, Gelassenheit… eine besondere Form der Lebensführung und Lebenskraft zugeschrieben: „Wenn Wissen und Gelassenheit sich ergänzen, bilden sich Harmonie und Ordnung“ (Thomas Strässle, Gelassenheit. Über eine andere Haltung zur Welt, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/14938.php). Freilich stehen der Wunschvorstellung, gelassen zu sein und zu leben, oft genug Wirklichkeiten und Zwänge entgegen, die Unruhe, Hektik, Stress, Getriebensein und Überforderung bewirken. Der Rat – „Du musst dein Leben ändern“ (Peter Sloterdijk) – kommt dann meist als Aufforderung daher, die im alltäglichen Dasein kaum einzulösen ist. Und doch gilt es, einen Perspektivenwechsel anzustreben, wie ihn im großen Maßstab die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ 1995 zum Ausdruck gebracht hat: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“; und wie dies die Nobelpreisträgerin für Wirtschaftswissenschaften, Elinor Ostrom, mit dem ökonomischen und ethischen Konzept vom „Teilen“ zum Ausdruck bringt (Elinor Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11224.php).

Entstehungshintergrund und Autor

Diesen anthropologischen und scheinbar logischen Bewertungskriterien stehen allerdings, beim näheren Nachdenken, Eigenschaften gegenüber, die „Unruhe (als) ein Daseinsgefühl, eine Welt voller Phantasien, voller Verheißungen und Pläne(n)“ identifizieren. Damit wird auf eine menschliche Fähigkeit verwiesen, die eben nicht Stillstand und Beharren auf Bestehendem meint, sondern die Wandlungs- und Veränderungskompetenz des Menschen in den Vordergrund rückt: Der Einstellung – „Das haben wir schon immer so gemacht“ – , als passive und konservative Lebenseinstellung, wird die Neugier des Neuen, Unbekannten und zu Erreichenden im menschlichen Denken und Tun entgegen gestellt: „Die Unruhe ist ein hoffnungsvolles Taumeln, ein massenhaftes Sehnen und Drängen, das die Unterscheidung zwischen Treiben und Getriebensein nicht kennt“ (vgl. dazu auch: Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/18946.php).

Der Kieler Philosoph Ralf Konersmann richtet seinen Blick auf eben diesen „blinden Fleck“, der „Unruhe“ als eine zu überwindende, dem menschlichen Dasein schädliche (Un-)Tugend zum Ausdruck bringt. Mit seinem Essay will er nicht vor der blinden Wut des Machens warnen und in die anthropologischen Klagen vom „Haben oder Sein“ (Erich Fromm) einstimmen; vielmehr geht es ihm erst einmal darum, den Begriffen und Handhabbarkeiten des (scheinbaren) Gegensatzes von Ruhe und Unruhe im Sinne einer Selbstaufklärung auf die Spur zu kommen: „Der Anspruch einer solchen Vergewisserung zielt weniger auf die Richtigstellung des vermeintlich Abwegigen oder Falschen als auf die Ermittlung dessen, wer wir… selber sind, die wir durch unsere besondere, unsere eigene Art des Sprechens, des Denkens und Verhaltens für uns selbst und für andere sichtbar werden“. Dabei richtet er seine Aufmerksamkeit zum einen auf die historischen, kulturellen Entwicklungen darüber, wie sich die Eigenschaften Ruhe und Unruhe darstellen; zum anderen setzt er sich mit den vermeintlichen, gedachten und gemachten Phänomenen der Unruhe, Unbestimmtheit und Entgrenztheit in der sich immer interdependenter und globaler entwickelnden (Einen?) Welt auseinander.

Aufbau und Inhalt

Sein Suchschema über die Historien und Gegenwärtigkeiten der Unruhe gliedert Konersmann in zehn Kapitel. Das erste titelt er mit „1503: Langer Blick“, indem er die These formuliert, dass wir das Phänomen „Unruhe“ nicht begreifen, „solange wir sie auf natürliche Gegebenheiten zurückführen, auf die psychische und physiologische Ausstattung des Menschen“. Diese überraschende Behauptung diskutiert er mit dem Vorschlag, „die Unruhe als historische Tatsache zu verstehen, als Kulturphänomen“. Er verweist auf antike Denkweisen und sieht im „Jagen nach Erkenntnis“ eines Nikolaus von Kues an der Wende zum 16. Jahrhundert einen Wendepunkt von dem bis dahin festgefügten Wissen, das höchstens ein „Umschauen“ erlaubte, hin zum Wagnis, Anderes, Neues, Unerhörtes zu er„jagen“, also einer „Kultivierung der Unruhe“ und einer „Entgrenzung“ des Denkens: „Der historische Tiefenblick birgt die Chance, die geläufigen, vom Bedürfnis nach Beherrschbarkeit und raschen Lösungen diktierten Diagnosen des Tages in den Zusammenhang einer kulturellen Selbstbefragung zu stellen“.

Im zweiten Kapitel benennt er auch ein Geschichtsdatum: 1891, mit dem er mit den französischen Schriftstellern Paul Valéry (1871 – 1945) und André Gide (1869 – 1951) danach fragt, wie ein „Inquieteur“, ein „Unruhiger“ und „Narziss“, etwa ein Künstler die Unruhe in seinem Schaffen umdeutet: „Eben noch als das leibliche Zeichen einer existentiellen Störung beargwöhnt, die den daseinszugewandten Narziss in die Weltlosigkeit stürzte, verwandelt sich die Unruhe nun in das unbestimmte Versprechen der Erneuerung der Zeit“.

Auch beim dritten Kapitel steht ein Datum voran: 1724, mit dem er die „Inquietät“ als „Dualität von Mythos und Logos“ charakterisiert und als Zeugen den französischen Aufklärer Bernard le Bovier de Fontenelle (1657 – 1757) aufruft, um die Kontinuitäten und Diskontinuitäten beim Mythos zu erkennen: „Die Unruhe liebt es, in der Maske aufzutreten: als Aktion, als Veränderung, als Bewegung, als Wandel, als Aufgebrachtheit, als Zerstreuung, als Stress, als Burnout“.

Im vierten Kapitel greift der Autor weit zurück: Um 600 v. Chr. In der Genesis findet er Formen der mythischen Rede und der Tat, etwa in der Erzählung von Kain und Abel, in der der Totschlag als „Imago der Unruhe“ gewissermaßen schicksalhaft postuliert wird. Im Kainsmythos wird die Abwendung vom göttlichen Willen und den religiösen Gesetzmäßigkeiten zur Vertreibung (aus den paradiesischen Versprechungen), bis hin zur Freudschen Definition, dass „die Unergründlichkeit der Unruhe auf den Fluch als einer letzten, unbefragbaren Instanz zurück(zuführen)“ sei.

Das fünfte Kapitel weist 1620 aus, als Denkvorschlag, „es mit der Unruhe aufzunehmen“. Jenseits der mythischen Bestimmung von der Unruhe als Verhängnis, wie er im Kainsmythos zum Ausdruck kommt, bestimmt der englische Philosoph Francis Bacon (1561 – 1626) in seinem Werk „Novum Organum“ (1620) vor, das „Abbild des Seins“ als ein eigenständiges, selbständiges, unabhängiges und wissenschaftliches Kulturereignis zu betrachten. Entscheidend dabei ist der Gedanke, „dass die Unruhe der ursprünglichen Schöpfung nicht fremd, nicht störend oder als das ganz Andere entgegentritt, sondern aus ihrer eigenen Mitte heraus mit der Erschaffung des Menschen gleichursprünglich entstand“. Im Baconschen Sinne bedeutet demnach, es mit der Unruhe aufzunehmen „die mit ihr eingetretene Situation als Vorteil zu erkennen und diesen Vorteil auch zu nutzen“.

Im sechsten Kapitel wird mit dem Datum 1790 Friedrich Schiller in die Pflicht genommen, indem er mit seinem Aufsatz „Über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde, die Unruhe zeitlich entgrenzt und in die Pflicht als Antrieb für die geschichtlichen Veränderungen und des Fortschritts nimmt. Hier wird vorbereitet, was dann später, etwa bei Hegel, als die Überwindung des Überschreitens und Zuwiderhandelns der Unruhe bestimmt wird, „als etwas, das selbst etwas ist und sich als dieses Etwas auch begreifen muss“.

Mit „um 60 n. Chr.“, wird im siebten Kapitel auf ein weiteres Datum zurückgegriffen, das an die stoischen Morallehren erinnert, die die „Seelenruhe“ als einen Kontrapunkt zum Übel der Unruhe setzt. Mit dem Eklektiker Seneca wird die „Schicksalsruhe“ gewissermaßen zum Ruhepool, der sich in den Erwartungshaltungen und Hoffnungen der „Gelassenheit“ widerspiegelt.

Im achten Kapitel steuert der französische Literat und Philosoph Blaise Pascal (1623 – 1662) mit dem Datum 1669 einen Perspektivenwechsel bei, der den „Eintritt in die Neuzeit als den Augenblick (charakterisiert), in dem die Verbindung abriss und die Welt entstand, die dem vormals durch den Schöpfungscharakter der Dinge verbürgten Vertrauensvorschuss entbehren muss“. Die „Unruhewelt“ entsteht und mit ihr das Kalkül vom „geringeren Übel“.

Wir sind angelangt beim Datum 1845, wenn es im neunten Kapitel darum geht, die Welt zu verändern. Der bekannte Widerpart, dass es im falschen Leben kein richtiges geben könne, fordert heraus, die Welt zu interpretieren, mit der Marx/Engelschen These, dass die Unruhe ein absolutes Erstes im Denken und Handeln der Menschen sein müsse. „Die Unruhe … existiert in der Unmittelbarkeit ihrer Bezüge“.

Das zehnte Kapitel schließlich setzt das Datum 1932. Mit dem Prosastück aus den „Keuner-Geschichten“ von Bertolt Brecht (1898 – 1956) werden die Veränderungsparadigmen bei Identitätsfestlegungen und -krisen diskutiert: „Ein Mann, der Herrn Keuner lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: ‚Sie haben sich gar nicht verändert‘. ‚Oh‘, sagte Herr Keuner und erbleichte“. Hier wird Identität als eigener wie fremder Achtungserweis deutlich und fokussiert sich schließlich im „Menschenrecht auf Undurchsichtigkeit“.

Fazit

Das Plädoyer für eine Genealogie und Kultivierung der Unruhe befördert eine ganze Reihe von Querverweisen, Parallelen und Imponderabilien zum (scheinbaren) Gegensatz, der Ruhe, zu Tage. Eines jedoch ist fester Bestandteil beim Umgang mit den Phänomenen: Ohne Zeitbewusstsein gibt es kein Humanum! Historiker gehen mit dieser Grundüberzeugung anders um als Philosophen. Während die ersteren Geschichte als Faktum betrachten, um historisches Gehen und Vergehen zu verstehen, reflektieren letztere eher die existentiellen und mystischen Entwicklungen: „Es ist das eine, ein Selbstverständnis zu haben und sich dessen Vorgaben zu überlassen; es ist etwas anderes, diesem Selbstverständnis auf die Spur zu kommen und es als das, was es ist, zu verdeutlichen“. Die Auseinandersetzung mit dem kulturellen Phänomen „Unruhe“ wird also bestimmt davon, wie die Eigenschaft wahrgenommen wird; weil Unruhe nämlich gegenwärtig ist, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. „Es ist die( ) Unentrinnbarkeit, mit der die Unruhe das Versprechen, zu dem es geworden ist, selbst gefährdet“. Aus gutem Grund zieht Ralf Konersmann bei seiner Suche nach einer „Kultur der Unruhe“ immer wieder das künstlerische Schaffen und Kunstwerke heran, mit denen sich die (scheinbaren) Diskrepanzen aufheben, die den Daseinsgefühlen Ruhe und Unruhe zugesprochen werden. So kommt er zu der beruhigenden wie gleichzeitig beunruhigenden, weil herausfordernden Aussage: Ohne das kluge Zusammenspiel von Ruhe und Unruhe im menschlichen Dasein ist „Stimmigkeit“ nicht zu haben!

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1702 Rezensionen von Jos Schnurer.

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ISSN 2190-9245