Eugenio Gaddini: »Das Ich ist vor allem ein körperliches«
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 20.01.2016

Eugenio Gaddini: »Das Ich ist vor allem ein körperliches«. Beiträge zur Psychoanalyse. Brandes & Apsel (Frankfurt) 2015. 2., erweiterte und durchgesehene Auflage. 364 Seiten. ISBN 978-3-95558-151-0. D: 39,90 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 53,90 sFr.
Das Subjekt tut so, als ob es selbst das Objekt ist
Der italienische Psychoanalytiker Eugenio Gaddini (1916 – 1985) hat über die unbewusste Bedeutung der Imitation bei Kleinstkindern geforscht und dazu die „Theorie der Imitation“ entwickelt. Das Bedürfnis, nachzuahmen, sich an Personen, Sachen und Situationen zu orientieren und damit sich selbst und die Umwelt zu erkennen, hat in der Philosophie, Psychologie und Psychoanalyse immer schon eine große Aufmerksamkeit gefunden. Die Frage „Wer bin ich?“, bis hin zu der „…Wenn ja, wie viele?“ (Richard David Precht) ist immer auch eine nach der physischen und psychischen Existenz. Der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan (1901 – 1981) beweist mit der „Theorie des Spiegelstadiums“, dass sich die Entwicklung des Ichs beim Menschen im Alter zwischen dem 6. bis 18. Lebensmonat bildet. Beim Blick in den Spiegel nämlich begrüßt der Säugling ein Bild mit einer „jubilatorischen Geste“, was Lacan als Identifikation mit sich selbst als Ganzheit interpretiert. Die Bewusstseinswerdung des Bewussten und Unbewussten ist eines der seelisch-körperlichen Geheimnisse des anthrôpos, denen neben der Philosophie, der Anthropologie und der Pädagogik auch die Psychoanalyse auf der Spur ist: „Die Schriften über das Unbewusste sind mit den Wörtern des Bewusstseins geschrieben“, so drückt es der Psychoanalytiker von der Gesamthochschule Kassel, Helmut Junker, aus (Helmut Junker, Intersubjektivität und implizites Gedächtnis. Reflexionen veränderter therapeutischer Praxis, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/14553.php).
Entstehungshintergrund, Autor und Herausgeberteam
Eine Reise in Gaddinis Gedankenwelt kann, so ist in der Fachzeitschrift PSYCHE zu lesen, aus jeder psychoanalytischen Verortung eine Bereicherung sein. Aus diesem Avis wird deutlich, dass der italienische Psychoanalytiker Eugenio Gaddini ein Wissenschaftler war, den seine ehemalige Schülerin und Kandidatin Jacqueline Amati Mehler (Direktorin des Ausbildungsinstituts der AIPsi und Vorsitzende des Komitees für psychoanalytische Ausbildung in Rom) als „Selbst-Kreativen“ und als Psychiater mit „klinische( r ), ethische( r ) und wissenschaftliche( r ) Strenge“, bezeichnet. In ihren, dem Buch „Das Ich ist vor allem ein körperliches“ vorangestellten „Erinnerungen an Eugenio Gaddini“ klingt noch seine Empfehlung in ihren Ohren: „Wenn ihr eine Idee habt, einen Gedanken – so unvollkommen er euch auch erscheinen mag – zeichnet ihn auf, schreibt ihn nieder. Auch wenn es nur ein Satz ist, eine halbe Seite, eine Seite. Lasst nichts verloren gehen, bewahrt die Notizen auf; eines Tages findet ihr sie wieder, und die Verbindungen zwischen den verschiedenen Ideen nehmen Gestalt an“. So verfuhr er auch selbst, wie man aus seinen gesammelten Schriften (Scritti A cura di M. L. Macagni, A. Gaddini, R. de Bbenedetti Gardini, Raffaelo Cortina, Milano 1989) herauslesen kann.
Die Bonner und Hamburger Psychotherapeutinnen Gemma Jappe und Barbara Strehlow geben Gaddinis Werk nun in zweiter Auflage in deutscher Sprache neu heraus. Dabei wählen sie, aus der ersten, italienischen Ausgabe, die Aufsätze aus, die für die Betrachtung der heutigen, individuellen und gesellschaftlichen Wandlungs- und Veränderungsprozesse bedeutsam erscheinen, wie dies die Lehranalytikerin der Associazione Italiana di Psicoanalisi (AIPsi), Simona Argentieri, in ihrem Nachwort „Gaddini heute“ zum Ausdruck bringt: In Entwicklungen der Integration und Desintegration, von Angst vor dem Selbstverlust und den daraus entstehenden Pathologien; was Gaddini zu der Einschätzung brachte, „dass die ganze nicht psychotische Psychopathologie in ihren vielgestaltigen Aspekten eine Maske der latenten Psychose in jedem von uns ist“.
Aufbau und Inhalt
Die ausgewählten Schriften aus Gaddinis Schaffen, das man als die feste Überzeugung vom „totalen Selbst“ des Menschseins als im wahrsten Sinne des Wortes Gedanke für Gedanke, Schritt für Schritt und Versuch für Versuch von Anbeginn des menschlichen Daseins an begreifen kann, gliedern sich im Band nach der Denk- und Entstehungsgeschichte des italienischen Psychoanalytikers. Die einzelnen, klinisch orientierten theoretischen und praktischen, psychologischen und psychoanalytischen Themen kreisen dabei um die Frage, die Gaddinis Werk charakterisiert, nämlich“ warum und wie aus Körper-Erfahrung, also sensorischer Empfindung, psychischer Sinn entsteht (senso) und wie umgekehrt die Psyche sich die Körperfunktionen zu eigen macht“. Der chronologischen Reihenfolge voran aber stellen die Herausgeberinnen, gewissermaßen als bündelnde Quintessenz von Gaddinis Arbeiten, seine „Bemerkungen zum Psyche-Soma-Problem“, die er 1980 formulierte. „Die erste psychische Herausbildung des Selbst (in der pränatalen und Geburtsphase, JS) muss … als die Basisstruktur der differenzierten Entwicklung der Psyche betrachtet werden“. Die Prozesse vom Stadium der Nicht-Integration bei der Geburt bis zur Bildung und Entwicklung von ersten Funktionsorganisationen der Psyche unterliegen vielfältigen Verwundbarkeiten und Störungen: „Ein Teil dieses Körpers ist in Wirklichkeit Teil des mütterlichen Körpers; aber bei der Umweltbeziehung der psychischen Funktion ist er ein Teil der Erfahrung des Selbst“. Psychologische Erklärungs- und Deutungsmuster dieser Bewusstseins- und Bindungsphänomene bietet Gaddini mit mehreren Fallbeispielen an; etwa der Erfahrung, dass Kleinkinder beim Zeichnen einer Person nach dem ersten Gekritzel ein Rund formen, darin zuerst den Mund abbilden, dann die Augen, und dann die Gliedmaßen als einfache Striche direkt vom Kopf an zeichnen. Diese Schritt für Schritt psychische Eroberung des psychischen Körpers wäre, so Gaddini in seinem Aufsatz über das Psyche-Soma-Problem, nicht möglich, „wenn ihm nicht der mühselige Prozess des Auftauchens aus einem nicht objektivierten Körper vorherginge, nämlich dem der Funktionseinheit des Kindes mit der Mutter“.
Mit den nun folgenden Texten folgen die Herausgeberinnen der klinischen, chronologischen Arbeit Gaddinis. Mit dem Aufsatz „Die frühkindliche Rumination“ (1959) stellt er seine klinischen Forschungen zum „Wiederkäuen“ (Erbrechen) bei Babys vor, die in der medizinischen Behandlung bis dahin als Folge von geistiger Zurückgebliebenheit diagnostiziert wurde. Mit seinen Untersuchungen konnte er beweisen, dass diese Ernährungsstörung auf andere Ursachen zurückzuführen ist, etwa durch eine jähe und vorzeitige Entwöhnung des Kleinkindes. Seine Forschungen auf diesem Gebiet haben für ein Umdenken in der Pädiatrie geführt.
Der Text „Über die Imitation“ (1969) fasst die im zurückliegenden Jahrzehnt erfolgten klinischen Forschungen über „frühe Imitationen“ zusammen. Er entwickelt die im psychoanalytischen Diskurs geprägten und eher undifferenziert verwendeten Begriffe „Imitation – Identifizierung – Introjektion“ weiter und bildet so seine „Theorie der Imitation“ heraus.
„Aggression und Lustprinzip“ (1972) wird der nächste Text getitelt. Es sind Gaddinis Bemühungen, die psychoanalytische Aggressionstheorie durch eine Neubewertung des Energiebegriffs weiter zu führen. Am Beispiel von Lust- und Unlustempfindungen bei Kleinkindern stellt er fest, „dass in den ersten Lebenswochen die aggressive Energie sehr viel mächtiger als die libidinöse Energie ist, aber gleichzeitig den mächtigsten Anreiz zur Produktion und zum anfänglichen Entwicklungs- und Differenzierungsprozess der Libido darstellt.“
Mit dem Aufsatz „Jenseits des Todestriebes“ (1972) bezieht Gaddini Position zum Freudschen Lebens- und Todestrieb, indem er mit der Feststellung, dass die Aggression ein Trieb sei, die Auffassung von Freud bestätigt, aber gleichzeitig in der psychoanalytischen Forschung und Klinik dazu auffordert, den inneren Selbstregulierungsmechanismen der Aggression intensiver als bis dahin auf die Spur zu kommen; im übrigen eine Herausforderung, die bis heute (und möglicherweise heute in besonderem Maße) gilt!
1974 verfasste Gaddini seinen Forschungsbericht „Entstehung des Vaters und Urszene“. Damit nimmt er einen in der damaligen Zeit bei der Betrachtung der psychologischen frühkindlichen Entwicklung eher vernachlässigten Aspekt auf. Es ist die Frage, wie die ersten Entdeckungen des Kindes beim Koitus der Eltern auf die psychische Entwicklung wirken, was in der Psychoanalyse als „Urszene“ bezeichnet wird. Die Erfahrungen, Verarbeitungen und Bewertungen auf die Ich-Identität des Kindes können frühprägende und langandauernde pathologische Wirkungen haben, die Gaddini thematisiert.
Mit dem Beitrag „Die Herausbildung des Vaters in der frühkindlichen Entwicklung“ (1975) schließt Gaddini an die vorherigen Überlegungen an. Von dem Moment an, wo der Vater in der Wahrnehmung des Kindes eine „äußere Figur“ im Gegensatz zur Mutter annimmt, bildet sich im kindlichen Bewusstsein der Vater als „äußerliches Objekt“ heraus. Wie diese Prozesse gelingen und welche Anlässe und Entwicklungen dazu beitragen können, Angst vor Vater und/oder der Mutter zu haben, zeigt Gaddini am Beispiel einer fast 60jährigen, schwer agoraphobischen Patientin auf.
„Die Erfindung des Raumes in der Psychoanalyse“ (1976 – 1978) bezeichnet Gaddini als die „Beschreibung des psychischen Apparats in räumlichen Begriffen“. Sie ist gleichzeitig verknüpft mit dem „psychoanalytischen Erwerb der Zeit„; beides Fiktionen und Wirklichkeiten. Es ist der Raum der Dinge, die in der frühen kindlichen Phase als Bedürfnisse, Wünsche und Triebe wirksam sind; und es ist der Raum des individuellen Selbst, der als Lebens- und Überlebensdrang tätig ist. Der Autor stellt dazu die These auf, „die gesamte psychische Struktur als eine differenzierte Struktur des individuellen Selbst zu betrachten“.
Symbole sind Merkpunkte für psychische Bilder des Selbst. Mit dieser Kennzeichnung wendet sich Gaddini der Frage nach der „präsymbolische(n) Aktivität der kindlichen Psyche“ zu (1984). Mit dem Begriff „psychische Basisorganisation“ (PBO) arbeitet er heraus, welche seelischen Mechanismen und Aktivierungen in der Phase des Trennungsprozesses, also etwa nach dem sechsten Monat auftreten: „Die Aktivität der psychischen Basisorganisation scheint hauptsächlich darauf gerichtet zu sein, das Selbst zu schützen und zu stärken, welches das erschütternde Drama der Trennung überlebt hat, und auf autonome Weise ein genügendes Ausmaß an Stabilität zu erreichen“.
Das Phänomen, „dass die Phantasie durch Bilder gegenüber der im Körper ausgedrückten Phantasie ein fortgeschritteneres Stadium darstellt“, behandelt Gaddini im Beitrag „Frühe Abwehrphantasien und der psychoanalytische Prozess“ (1981). Am Beispiel einer Hauterkrankung (Dermatitis) einer Patientin, ermittelt der Therapeut traumatische Formen von Nicht-Integration und schmerzhaften Angst- und Erinnerungserlebnissen, die sich schließlich durch das Bewusstwerden, die „eigenen Haut als Grenze und Umgrenzung des Selbst“ zu benutzen, lösen.
Die in der Psychoanalyse bekannten
Entwicklungen von „außersinnlichen Wahrnehmungen“ (ASW) hat
Gaddini bereits 1965 thematisiert. In seinem „Beitrag zur
Untersuchung des
„PSI-Phänomene, PSI-Faktoren und schöpferischer Prozess“, mit diesem Vergleich zwischen Kreativität und PSI-Phänomenen setzte sich Gaddini 1965 auseinander. Es geht um das Thema: Traumarbeit. Mit dem halluzinatorischen Bild wird angestrebt, in der Phantasie einen unerfüllten Wunsch zu befriedigen, in also gewissermaßen vom entkörperten Zustand in einen körperlichen zu bringen. Im Gegensatz zu philosophischen Zugangsweisen, wie etwa dem „Geistesblitz“ (Manfred Geier, Geistesblitze. Eine andere Geschichte der Philosophie, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/16058.php), geht es in der Psychotherapie darum, „die Verschmelzung der (auf die psychische Außenwelt bezogenen) Inhalte der außersinnlichen Wahrnehmung mit den entsprechenden unbewussten Inhalten der psychischen Innenwelt“ zu verhindern. Mit dem Versuch, anhand der Lebens- und Forschungsgeschichte von Heinrich Schliemann, der kein Berufsarchäologe war und trotzdem Troja fand, diese Entdeckung auf die bei Schliemann vorfindbaren persönlichen Entwicklungsprozessen, wie etwa von Depressionen, perzeptiven Gewissheiten und regressiven Sicherheitsmechanismen, zurückzuführen, beschritt Gaddini einen Weg, der, wie sich in der Rezeption verdeutlicht, nicht unwidersprochen wird.
1984 stellte Gaddini die Frage: „Inwiefern haben wir heute andere Patienten?“. Die (hoffentlich) nicht (mehr) in Frage gestellte Erkenntnis, „dass das Individuum nicht das automatische Ergebnis seiner Anlage ist, sondern vielmehr das Ergebnis seiner Entwicklung“, hat eben auch dazu geführt, dass sich in der Psychoanalyse ein Bewusstsein entwickelte, „dass sich die individuelle Psychopathologie, ebenso wie der individuelle Mensch, Hand in Hand mit der soziokulturellen Umwelt verändert“. Dafür benutzt er das schöne Bild: „Gerade weil der Einfluss der Psychoanalyse auf die Kultur der Wirkung eines Steines ähnelt, der in einen Teich fällt, provoziert ihr Auftreten eine Veränderung in den Beziehungen zwischen der Kultur und den Individuen, die ihr angehören“.
Im Text „Die Maske und der Kreis“ geht es um die Fragen, wie sie in der Freudschen Traumdeutung (1899) zum Ausdruck kommen, nämlich dass „der manifeste Traum für das Bewusstsein die Maske des latenten Traums“ ist. Der Text wurde bei der Jahres-Eröffnungsversammlung 1985-1986 des psychoanalytischen Zentrums von Bologna vorgestellt und (posthum) in den Konferenzband veröffentlicht. Gaddini nimmt dabei die Erkenntnis über das „Körper-Psyche-Kontinuum“ auf und konfrontiert sie mit dem „Psyche-Körper-Kontinuum“, das den Körper innerhalb der Psyche mit einschließt. Für die Psychoanalyse bedeutet dies, dass sie in ihrem Verständnis und in ihrer Wirkung nicht „biologisch ist, sondern dass sie sich vielmehr sehr für den psychischen Sinn des Biologischen interessiert“. Im Text geht Gaddini erneut das Phänomen ein, dass sich bei der kindlichen Entwicklung erst ab einem bestimmten Zeitpunkt die Fähigkeit zeigt, in einem Bild eine erste Selbst-Gestalt darzustellen. Das „Kreisbild“ wirkt weiterhin symbolhaft und als (Selbst-)Struktur und wird gestört durch runde Traumbilder (Urangst), durch Trennungs- und Verletzungsschmerz.: „Im Unterschied zum Traum ist die individuelle Psychopathologie jedoch eine dauerhafte Maske – das Gesicht, das ein jeder von uns trägt“.
Fazit
Bei seinen überwiegend klinisch determinierten Forschungsarbeiten zur Psychoanalyse der ersten Struktur setzt sich Gaddini ab von der in seiner Zeit anerkannten, traditionellen Auffassung der Leib-Seele-Dichotomie. Er nimmt vielmehr das doppelte Kontinuum – Körper / Seele und Seele/Körper – zum Anlass, um über den körperlichen Ursprung des Seelischen und über die Verwandlung der Körperfunktion unter seelischer Bedeutung nachzudenken: „Das Wachstum entsteigt und entwickelt sich aus der Körperfunktion, die Psychoanalyse dagegen beschreitet den Weg in entgegengesetzter Richtung von seelischen Phänomenen zu immer früheren Entwicklungsstadien bis hin zu den Anfängen der Differenzierung des Seelischen aus den Körperfunktionen“ (Gemma Jappe / Barbara Strehlow, S. 13). Wir tragen – symbolhaft und real – unsere Maske der Imitation; sie selbst-kreativ zu entdecken, zu analysieren und zu bewältigen, dafür bieten Eugenio Gaddinis professionelle Anregungen – in erster Linie für Psychologen, Psychotherapeuten und Psychoanalytiker, aber durchaus auch für Bildungsarbeiter aus den vielfältigen Professionen – interessante und weiterführende Informationen und Handlungsperspektiven an.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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