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Sandra Kunz: Säuglings­sozialisation im Wandel

Rezensiert von Franziska Widmer, 18.01.2016

Cover Sandra Kunz: Säuglings­sozialisation im Wandel ISBN 978-3-8288-3507-8

Sandra Kunz: Säuglingssozialisation im Wandel. Kulturelle Vorgaben und Deutungsangebote zu familiären Rollenbildern in den Elternbriefen der Pro Juventute an der Wende zum 21. Jahrhundert (1988 - 2006). Tectum-Verlag (Marburg) 2015. 286 Seiten. ISBN 978-3-8288-3507-8. D: 24,95 EUR, A: 25,70 EUR, CH: 35,50 sFr.

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Thema

Die Autorin Sandra Kunz untersucht in ihrer Doktorarbeit die Elternbriefe der Stiftung Pro Juventute, Schweiz von 1988 – 2006. Bei diesen handelt es sich um Ratgeberliteratur, die in der Schweiz seit 1969 von vielen Gemeinden als Unterstützung – oft unentgeltlich – an junge Eltern abgegeben werden, gegenwärtig erhalten rund 75‘000 Eltern diese Briefe. Sandra Kunz untersucht Deutungsangebote und kulturellen Vorgaben der familiären Rollenbilder, die sich in den Elternbriefen niederschlagen. Die Untersuchung schliesst an die Lizentiatsarbeit von Katharina Wehrli von 2003 an, die die Elternbriefe von 1969 bis 1988 im Hinblick auf geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und Mutterbilder untersuchte. Kunz führt diese Studie weiter und erweitert sie um die Frage: „Was genau bieten die Elternbriefe ihrer Leserschaft an Deutungsangeboten und kulturellen Vorgaben zu den verschiedenen Rollenbildern von Familie, Eltern, Mutter, Vater und Kind?“ (Kunz, 2014, S.18). Die Autorin leistet zu einem Thema, zu dem für die Schweiz kaum – und für die gewählte Untersuchungszeit und das Thema der frühen Kindheit keine – Forschungsergebnisse vorliegen, eine sorgfältige Untersuchung von weit verbreitetem und aussagekräftigem Quellenmaterial und untersucht, wie weit die Elternbriefe gesellschaftliche Entwicklungen aufnahmen, diese abbilden, und welche Verhaltensweisen zur Gestaltung des Familienlebens vorgeschlagen werden.

Autorin

Sandra Kunz, geboren 1979, studierte Geschichte, Publizistik und Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich.

Entstehungshintergrund

Die rezensierte Arbeit wurde als Doktorarbeit bei Prof. Dr. Béatrice Ziegler, Prof. Dr. Thomas Hengartner und Prof. Ueli Mäder als Dissertation 2014 an der Universität Zürich angenommen.

Aufbau und Inhalt

Die Vorstellung von Familie als historisch bedingtes soziales Modell steht im Zentrum der Untersuchung. Sandra Kunz richtet ihre Aufmerksamkeit auf die in der Arbeit als nachtraditionell oder posttraditionell bezeichnete Familie, mit der die als „Pluralisierung familialer Lebensformen“ bezeichnete Entwicklung für die Zeit nach 1980 gefasst wird. Deshalb werden für die Untersuchung die Elternbriefe von 1988 bis 2006. Ausgewählt wurden die 13 Briefe für das erste Lebensjahres, mit dem Ziel, die in den Quellen vertretenen Vorstellungen bezüglich Familien, Eltern, Mutter, Vater und Kind herauszuarbeiten.

Die Untersuchung der Quellen erfolgt entlang von drei, in der Forschung beschriebenen Entwicklungen im sozialhistorischen Kontext.

Die Arbeit ist wie folgt aufgebaut:

Nach der Einleitung (1) folgt die Darstellung des sozialhistorischen Kontextes anhand der drei Forschungsfelder

  • Pluralisierung familialer Lebensformen, Verwissenschaftlichung des kindlichen Sozialisationsprozesses und dem Konzept des Kindes als Akteur (2).
  • Im zweiten Kapitel werden die Elternbriefe und die dafür zuständige Abteilung „Mutter und Kind“ der Stiftung Pro Juventute in diesem sozialhistorischen Kontext verortet (3).

    Dann folgen die Auswertungen der Quellen entlang folgender Kategorien:

  • Familienbild (4),
  • Elternbild (5),
  • Mutterbild (6),
  • Vaterbild, (7)
  • Kindsbild (hier wird der Begriff von Kunz übernommen) (8), die jeweils vor dem Hintergrund der drei Entwicklungen untersucht werden,
  • und eine abschliessende Diskussion im letzten Kapitel (9).

Bei der Urheberschaft der Elternbriefe handelt es sich um eine im Jahr 1912 gegründete schweizerische Stiftung unter der Schirmherrschaft der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft, welche sich zum Ziel gesetzt hatte, das Wohl der Jugend in der Schweiz zu fördern. Die Stiftung finanziert sich – bis heute, allerdings immer weniger – über den Verkauf von Sonderbriefmarken und durch Spenden der bürgerlichen Elite, die in der damaligen Zeit in ihr vertreten war (vgl. Kunz, 2014, S.85ff). Die seit 40 Jahren durch die Pro Juventute herausgegebenen Elternbriefe werden, so vermutet die Autorin, als staatsnahe empfunden (Kunz, 2014, S.23). Für den Inhalt verantwortlich zeichnet sich innerhalb der Stiftung 1988 eine Arbeitsgruppe von vier Frauen (1988), welche die Elternbriefe in Zusammenarbeit mit externen ExpertInnen verfassten. Auch Rückmeldungen von Eltern wurden einbezogen. Dabei beobachtet Kunz, dass für die jeweiligen Überarbeitungen von 1998 und 2006 zunehmend ExpertInnen und Fachverbänden einbezogen werden und konstatiert damit eine Professionalisierung der AutorInnenschaft (vgl. Kunz, 2014, S.110f.)

Methodisches Vorgehen: Kunz untersucht die 13 Elternbriefe zur Begleitung des ersten Lebensjahrs in den Jahren 1988, 1998 und 2006, da in diesen Jahren die Elternbriefe jeweils überarbeitet wurden, und wertet sie mittels qualitativer Inhaltsanalyse nach Mayring in Kombination mit hermeneutischen Verfahren aus. Die Autorin vertritt dabei die in der Forschung weit verbreitete These, dass sich gesellschaftlicher Wandel in Ratgeberliteratur niederschlägt und deshalb dort forschend zugänglich gemacht werden kann (Kunz, 2014, S.29).

Ausgewählte Ergebnisse: Die Rezension konzentriert sich in der Darstellung der Ergebnisse auf den Aspekt der „Pluralisierung von Familienformen“, da hier die interessantesten Ergebnisse vorliegen. Bezüglich der Kategorie „Familienbild“ arbeitet Sandra Kunz heraus, dass die Elternbriefe erst 2006, also spät, explizit auf verschiedene Familienformen eingehen. Die in der wissenschaftlichen Diskussion konstatierte und der Gesellschaft existierenden Pluralisierung von Familienformen spiegelt sich in den Elternbriefen also nur bedingt. Trotz der expliziten Gleichwertigkeit differenter Familienformen in den Elternbriefen stellt Kunz eine implizite Konstruktion von Einelternfamilien als defizitäre Familienform fest, aus der sie folgert, dass das bürgerliche Familienmodell noch immer als wenig reflektierte Normalitätsfolie dient und Abweichungen davon als Sonderfall mit besonderem Bedarf an Handlungsanleitung dargestellt werden (vgl. Kunz, 2014, S.135). In den Elternbriefen wird die Wahl von Familienformen als frei wählbar dargestellt, die durch reale Bedingungen wie beispielsweise fehlende Krippenplätze und mangelnder Möglichkeiten der Vereinbarkeit von Familie und Beruf bestehende Einschränkungen der Wahlmöglichkeit werden dagegen nicht diskutiert. Insofern nimmt der Ratgeber hier eher eine Traditionen bestätigende Haltung ein.

In Bezug auf das Elternbild wird in den Briefen Familienarbeit als Arbeit beschrieben, die Elternbriefe weichen hier also vom bürgerlichen Familienmodell ab, das Familienarbeit als Erfüllung für Frauen definierte (vgl. Kunz, 2014, S.36). Die Wahl der Arbeits- und Rollengestaltung wird als private Entscheidung dargestellt (vgl. Kunz, 2014, S.167). Der Tonfall gegenüber den Eltern wird im Verlauf des untersuchten Zeitraums zunehmend von Anweisungen geprägt und normativer, die in der wissenschaftlichen Diskussion der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts geprägte Vorstellung reflexiver Elternschaft spiegelt sich nicht in den Briefen (ebd.). Kinder werden, so ein Ergebnis, als Problem für die Eltern dargestellt, als schwierig zu bewältigende Aufgabe, der Stress von Eltern wird betont, die Eltern sind in erster Linie für Pflege und Erziehung verantwortlich, diese wird nicht als gesamtgesellschaftliche Aufgabe betrachtet (ebd).

Im Hinblick auf das Mutterbild stellt Kunz fest, dass die Zuständigkeit für Kind und Haushalt der Mutter zugeschrieben wird (Kunz, 2014, S.194). Die Zeit nach der Geburt wird als schwierige Zeit für die Mutter des Kindes dargestellt, die intelligenter Gestaltung bedarf (ebd.). Betreffend Verwissenschaftlichung nimmt die Autorin wahr, dass Mütter zunehmend an ExpertInnen und professionelle HelferInnen verwiesen werden (vgl. Kunz, 2014, S.196). Betreffend Vaterbild wird konstatiert, dass die AutorInnen der Elternbriefe den Vater als wichtige Person in der Familie ansprachen und damit darum bemüht waren, die Rollenvorstellungen der des bürgerlichen Familienmodells zu überwinden (vgl. Kunz, 2014, S.223).

Diskussion

Die Arbeit von Sandra Kunz legt eine Fülle von detaillierten und empirisch begründeten Ergebnissen zu – teilweise widersprüchlichen – Vorstellungen zu Familien im untersuchten Zeitraum vor. Sie besticht durch die reichhaltige, differenzierte und sorgfältige Auswertung der gewählten Quellen. Die Wahl der Elternbriefe erweist sich als ausgesprochen fruchtbar, da in diesen durch die schweizweite Verbreitung und fortlaufende Überarbeitung die von der Autorin gesuchten Konstruktionsprozesse klar hervortreten. Es handelt sich um eine wichtige Arbeit für die Schweiz, da, wie erwähnt, bislang wenige Untersuchungen zu der dem Land eigenen Gemengelage von bürgerlichen Normen und Modernisierungsprozessen – wie Pluralisierung von Familienformen – vorliegen und diese hier differenziert geleistet wird. Es werden Widersprüche deutlich, wie derjenige, dass die Eltern in den Briefen explizit beide angesprochen werden, implizit aber doch die Mutter gemeint ist. In der Arbeit findet sich eine Fülle von Ergebnissen zu Konstruktionsprozessen von Vorstellungen von Familien und Säuglingssozialisation in der Schweiz, welche teilweise erstaunen. So überrascht beispielsweise das Ergebnis, das das erste Jahr mit dem Kind vor allem als Belastung für die Mutter dargestellt wird - ein Befund, der stark im Widerspruch zur bürgerlichen Mutterideologie steht.

Kritisch angemerkt werden könnte, dass die Auswertungsmethode nicht ganz nachvollziehbar ist – Sandra Kunz spricht, neben der qualitativen Inhaltsanalyse von hermeneutischen Verfahren, macht aber das Vorgehen nicht weiter deutlich. Manchmal erscheinen die Interpretationen etwas grosszügig – oder nicht ganz plausibel. Beispielsweise schliesst Kunz aus der Tatsache, dass Familienarbeit als Arbeit dargestellt werde, dass sie damit auch für Väter attraktiv dargestellt werden sollte. Neben der Vermutung, dass die bürgerliche Vorstellung von Familienarbeit als Nicht-Arbeit nicht mehr als gültige Norm betrachtet werden kann, lassen sich durchaus auch weitere Gründe finden, weshalb Familienarbeit als Arbeit dargestellt wird. Schade ist, aber wohl dem disziplinären Hintergrund und dem Umfang der Arbeit geschuldet, dass eine Reflexion der Ergebnisse in Bezug auf erziehungswissenschaftliche und entwicklungspsychologische Erkenntnisse eher wenig erfolgte. Da die Autorin jedoch darauf abzielt, kulturelle Vorstellungen herauszuarbeiten, und nicht, die Elternbriefe insgesamt auf ihre Ratgeberqualitäten zu untersuchen, handelt es sich bei dieser Kritik eher um den Wunsch nach Fortführung der Untersuchung.

Fazit

Sandra Kunz untersucht in ihrer Doktorarbeit die Elternbriefe für das erste Lebensjahr der Stiftung Pro Juventute (Schweiz) von 1988 – 2006 (Ratgeberliteratur für Eltern). Die Untersuchung erfolgte mit dem Ziel, Vorstellungen und diesbezügliche Veränderungen zu Familien, Elternbildern, Mutter –, Vater- und Kindsbilder herauszuarbeiten. Sie wurde mit der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring in Verbindung mit hermeneutischen Verfahren vorgenommen.

Die Ergebnisse verdeutlichen die oft widersprüchlichen Konstruktionsprozesse in Bezug auf aktuelle Entwicklungen in der Schweiz, die Arbeit bietet eine Fülle an sorgfältig herausgearbeiteten, teilweise auch unerwarteten Ergebnissen zu einer bislang kaum erforschten Phase der Forschung zu Familien in der Schweiz.

Eine mit Gewinn zu lesende empirisch-historische Arbeit.

Rezension von
Franziska Widmer
lic phil. I (schweiz. Äquivalent zu MA), Erziehungswissenschaft, Filmwissenschaft, Geschichte UZH, Dozentin für frühe Kindheit ZHAW (Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften)
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Es gibt 1 Rezension von Franziska Widmer.

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Zitiervorschlag
Franziska Widmer. Rezension vom 18.01.2016 zu: Sandra Kunz: Säuglingssozialisation im Wandel. Kulturelle Vorgaben und Deutungsangebote zu familiären Rollenbildern in den Elternbriefen der Pro Juventute an der Wende zum 21. Jahrhundert (1988 - 2006). Tectum-Verlag (Marburg) 2015. ISBN 978-3-8288-3507-8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19485.php, Datum des Zugriffs 24.01.2025.


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