Christina Huf, Irmtraud Schnell (Hrsg.): Inklusive Bildung in Kita und Grundschule
Rezensiert von Dipl.-Sozialarb. / Dipl.-Sozialpäd. Anja Karliczek, 14.04.2016

Christina Huf, Irmtraud Schnell (Hrsg.): Inklusive Bildung in Kita und Grundschule. Verlag W. Kohlhammer (Stuttgart) 2015. 239 Seiten. ISBN 978-3-17-026153-2. 34,99 EUR.
Thema
Der Begriff Inklusion ist in der aktuellen Bildungslandschaft allgegenwärtig. Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention besteht eine rechtliche Verpflichtung zur Einrichtung eines Inklusiven Bildungssystems. Was bedeutet dies jedoch in der Praxis? In Schulen und Kindergärten begegnet man einer Vielzahl völlig unterschiedlicher Individuen. Das vorliegende Buch versucht diese Heterogenität aufzugreifen und vielfältige, fachliche Perspektiven aus Praxis und Forschung darzustellen. Wichtige Zusammenhänge und Begriffe werden erläutert, Widersprüche und Probleme angesprochen und Ideen für die Umsetzung entwickelt, um sich der Frage zu nähern: Was bedeutet Inklusion im heutigen Bildungssystem?
Herausgeberinnen
Herausgeberin
Dr. Christina
Huf vertritt
die Professur für Pädagogik und Didaktik der Grundschule und des
Elementarbereichs der Universität Bremen. Ihre
Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Kindheitsforschung,
sowie Kindheits- und Grundschulpädagogik und vergleichende
Bildungsforschung.
Herausgeberin
Dr. Irmtraud
Schnell ist
Studienrätin im Hochschuldienst am Institut für Sonderpädagogik
der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ihre Arbeitsschwerpunkte
sind Integration/Inklusion und die Widersprüche im deutschen
Bildungssystem, sowie Schulentwicklung unter dem Anspruch von
Inklusion.
Die Autoren der einzelnen Beiträge sind Mitarbeiter
der Goethe-Universität Frankfurt und deren Kooperationspartnerinnen.
Entstehungshintergrund
Die Autoren sehen Inklusive Bildung als gemeinsame Aufgabe und Herausforderung von Elementar- und Primarbereich. Mit dem Buch wollen sie dem Gedanken der Heterogenität folgend verschiedene fachliche Perspektiven auf das Thema Inklusion ermöglichen. Hierbei sollen Bedingungen, Ideen zur Realisierung, verschiedene Denkmuster, Hürden und Schwierigkeiten aufgezeigt werden. Das Werk soll einen Dialog zwischen unterschiedlichen erziehungswissenschaftlichen und fachdidaktischen Perspektiven ermöglichen und Impulse für Forschung und Lehre geben.
Aufbau
Das Buch gliedert sich in folgende Abschnitte:
- Ungleichheiten und Unverfügbarkeiten – Spannungsfelder inklusiver Bildung im Elementar- und Primarbereich
- Impulse für die Veränderung institutioneller Strukturen
- Impulse für die Veränderung von Selektionspraktiken
- Impulse für die Veränderung didaktischer Perspektiven
Inhalt
Einführend
erläutern die Herausgeberinnen zwei Spannungsfelder, die sie für
zentral bei der Betrachtung von inklusiver Bildung halten, und geben
Ausblick, wie die Autorinnen diese in ihren Beiträgen
aufgreifen.
Das erste
Spannungsfeld
befasst sich mit der Unterschiedlichkeit und Ungleichheit von
Kindheiten. Verwiesen wird auf die vielfältigen und ungleichen
Lebensbedingungen, Startchancen und Möglichkeiten der
gleichberechtigten Teilhabe, Selbst- und Mitbestimmung von Kindern.
Erläutert werden Bedeutung, Möglichkeiten und Herausforderungen
dieser für die (Inklusive) Bildung.
Bildung als ein Balanceakt
zwischen Gegenwärtigkeit und Zukunft des Kindes ist das zweite
Spannungsfeld.
Hier begegnen sich der Anspruch an die Effizienz des Bildungssystems,
gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen und die Fokussierung auf
Qualifikationen auf der einen und individuelle Erfahrungen der Kinder
auf der anderen Seite. Gefordert wird, Kinder als Akteure ihres
Lebens und Lernens anzuerkennen und sie an Entscheidungen zu
beteiligen. Die Anerkennung von Selbstständigkeit und
Individualisierung sei jedoch nicht nur Zugeständnis, sondern auch
Zumutung.
Abschließend werden zentrale Ergebnisse des Buches für
die inklusive Bildung aufgeführt.
Die ersten Beiträge geben Impulse für die Veränderung institutioneller Strukturen. Andreas Gruschka befasst sich in seinem Beitrag mit dem Zusammenhang zwischen Integration und Differenzierung. Neben einem Exkurs in die deutsche Schulgeschichte, zeigt er aktuelle Herausforderungen an den Schulen auf und stellt Voraussetzungen und mögliche Wege vor, um den Widerspruch zwischen Integration und Differenzierung aufzuheben. Zudem resümiert er persönliche Erfahrungen an Sekundarschulen und stellt Ergebnisse von Interviews mit pädagogischem Personal vor.
Dieter Katzenbach beschäftigt sich mit dem Thema „De-Kategorisierung“. Er erläutert die Bedeutung auf verschiedenen Betrachtungsebenen, sowie deren Möglichkeiten und Grenzen und zeigt Ansätze aus der Praxis auf. Zudem werden die Themen Behinderung, sonderpädagogischer Förderbedarf, die Heterogenitäts- bzw. Diversity-Debatte und das Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma behandelt. Er führt aus, welche pädagogischen Aufgaben sich daraus ergeben und stellt die Theorie der egalitären Differenz vor.
Mit dem Übergang von Kindertageseinrichtungen und Schule befasst sich Michael Urban. Er erläutert, dass das Schulsystem eher auf Systemeffizienz und -optimierung, sowie das Thema Lernen fokussiert ist und stellt dar, warum es hier noch Forschungsbedarf gibt. Zudem lenkt er den Blick auf die Kinder mit ihren spezifischen Förderbedarfen, sowie Ressourcen. Er weist auf Herausforderungen und Schwierigkeiten, aber auch Berührungspunkte und positive Effekte einer stärkeren Kooperation hin, die Bildungsbenachteiligung reduzieren und individuelle Bildungsprozesse fördern soll.
Impulse für die Veränderung von Selektionspraktiken geben die Autoren des zweiten Abschnittes. Zwei verschiedene Forschungsprojekte von Christina Huf und Helga Kelle widmen sich Selektionspraktiken und Inklusionspotentialen. Neben der kritischen Betrachtung der Eingangsdiagnostik und -selektionspraxis, erläutern sie das Konzept der „Förderdiagnostik“. Sie zeigen Strukturentwicklungen auf, die zu einer Kindfähigkeit der Schule für alle Kinder führen sollen. Zudem befassen sie sich mit Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Grundschul- und Sonderpädagogik und erläutern, warum eine Abschaffung der Rückstellungspraxis notwendig ist. Anschließend stellen sie empirische Ergebnisse zum Inklusionsmodell flexible Eingangsstufe vor. In diesem Zusammenhang erläutern sie auch die Bedeutung der Peergroup für den Entwicklungsprozess und stellen einen internationalen Vergleich an.
Irmtraud Schnell stellt in ihrem Beitrag die konventionelle Leistungsbewertung einer individuellen Begleitung und Rückmeldung gegenüber. Sie befasst sich mit dem Spannungsverhältnis zwischen Marktfähigkeit und Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes. Sie verweist auf die Notwendigkeit einer Einbeziehung des Kindes unter Beachtung der sozialen, kulturellen und individuellen Heterogenität. In diesem Zusammenhang stehen die Themen Lernbehinderung und Etikettierung-Ressourcen-Dilemma, sowie die mangelnde Passung zwischen Schule und Lernausgangslagen der Schüler. Sie verweist auf die Bedeutung von Kompetenzwahrnehmungen und stellt Ideen für eine individualisierende Gestaltung des Unterrichts und alternative, differenzierende und beteiligende Rückmeldungen vor. Abschließend stellt sie Minimalforderungen für eine Schule als guten Entwicklungsort für alle Schüler auf und erläutert Konsequenzen für die Lehrerbildung.
Mit dem Thema Diagnostik befasst sich Michael Fingerle. Er stellt einen mixed-methods-Ansatz aus individualisierter Förderdiagnostik und standardisierten Materialien vor und arbeitet Bedeutung, Möglichkeiten und Ziele für die inklusive Pädagogik heraus. Neben den Leistungsständen, sind auch sozial-emotionale Rahmenbedingungen, die Fähigkeit zur Adaptivität und vor allem das Selbstkonzept der Kinder hierfür elementar. Er stellt die Bedeutung von Adaptivität bei der Planung von Lernangeboten und -umgebung heraus, d.h. einer Anpassung an die Lebenslagen und diagnostizierten Lernvoraussetzungen der SchülerInnen. Er zeigt Probleme in der Umsetzung auf und erläutert, warum es keine Erfolgsgarantie für pädagogische Angebote gibt, sie aber trotzdem notwendig sind.
Im letzten Abschnitt geben die Autoren Impulse für die Veränderung didaktischer Perspektiven. Die Entwicklung der Zählkompetenz bei einem Kind mit einer spezifischen Sprachentwicklungsstörung stellen Birgit Brandt und Götz Krummheuer vor. Sie erläutern die Zusammenhänge zwischen der Entwicklung von Zählkompetenzen und Sprache, sowie der Bedeutung von Sprachentwicklungsstörungen. Sie zeigen, dass Lernen nicht nur ein innerer, sondern auch ein Interaktions- und Partizipationsprozess ist. In einem Beispiel zeigen sie Inklusion in verschiedenen sozialen Kontexten und stellen weitergehende Überlegungen aus inklusionspädagogischer Sicht dar.
Mit Inklusiver sprachlicher Bildung im Kontext der Naturwissenschaften befassen sich Ilonca Hardy, Susanne Mannel und Sarah Schauer. Sie stellen die Bedeutung von Sprache und Bildungssprache unter kognitiven und sozialen Aspekten dar, erläutern Merkmale und Voraussetzungen inklusiver sprachlicher Bildung im Kindergarten und erklären die Unterschiede zwischen Bildung, Förderung und Therapie. Zudem behandeln sie die Themen individuelle sprachliche Voraussetzungen, Deutsch als Zweitsprache, sowie Sprachentwicklungsstörungen und Behinderung. Sie zeigen, dass die Diagnostik und Planung pädagogischer Angebote unter den Aspekten Gruppe, Individuum und Kontext erfolgen müssen. Außerdem stellen sie pädagogische Ansätze, sowie Techniken und Förderprogramme in Hinblick auf inklusive sprachliche Bildung dar und geben abschließend Beispiele für sprachliche Unterstützung in naturwissenschaftlichen Bildungsangeboten. Hierbei weisen sie auf die Bedeutung heterogener kooperativer Gruppenkonstellationen, die Partizipation aller Kinder und das Thema adaptive Lerngelegenheiten hin.
Der Beitrag von Birgit Lütje-Klose und Ulrich Mehlem befasst sich mit der Inklusion mehrsprachiger Kinder. Sie betrachten kritisch die Themen Ermittlung von Förderbedarf, Klassifikationen, sowie Benachteiligung und zeigen Folgen, die dies für die Schüler haben kann. Sie stellen dar, welche vielfältigen Dimensionen in diesem Zusammenhang zu beachten sind, warum das Herausstellen bestimmter Fallgruppen willkürlich ist und alle Kinder von einem sprachsensiblen Unterricht profitieren. Zudem stellen sie Ergebnisse aus einem empirischen Projekt zu Sprachfördermaßnahmen vor. Pädagogische Ansätze, Vorteile, sowie Herausforderungen und Probleme werden dargestellt.
Kooperatives Lernen in der Grundschule wird von Gerhard Büttner, Jasmin Decristan und Katja Adl-Amini als Lehr-Lernmethode vorgestellt, die für heterogene Gruppen, sowie für Kinder mit Lernschwierigkeiten sehr gut geeignet ist. Unterschiedlichkeiten können hier als Ressourcen genutzt werden und emotionale, motivationale, sowie soziale Effekte erzielt werden. Als methodische Beispiele Peer-gestützten Lernens werden das Gruppenpuzzle und der Learning-Together-Ansatz vorgestellt. Dargestellt werden auch die Voraussetzungen, die Rolle der schulischen Lernumgebung und der Lehrkräfte. Zudem erläutern die Autoren, wie kooperatives Lernen in inklusiver Pädagogik genutzt werden kann. Abschließend wird der aktuelle Forschungsstand dargestellt.
Im letzten Beitrag befasst sich Diemut Kucharz mit dem Sachunterricht. Er erläutert, warum der inklusive Gedanke im Fach selbst enthalten ist und welche Möglichkeiten, aber auch Schwierigkeiten in der pädagogischen Umsetzung auftreten. Er zeigt, welche Methoden für heterogene Lerngruppen besonders gut geeignet sind und stellt didaktische Überlegungen für einen gemeinsamen Unterricht an. Dabei berücksichtigt er die drei Grundformen des Lernens: individualisiertes, kooperatives und gemeinsames Lernen. Er diskutiert das Thema kompetenzorientierter Unterricht und Inklusion und weist darauf hin, dass Lernzuwachs in unterschiedlichen Kompetenzbereichen und -stufen erfolgt. Zudem stellt er die Bedeutung von Regel- oder Mindeststandards, sowie individueller Bezugsnorm dar. Als Beispiel inklusiven Sachunterrichts wird der Freie Forscher Club der Bergschule Fidel vorgestellt. Abschließend ist der aktuelle Forschungsstand und weitere -bedarf Thema.
Diskussion
Dieses Buch regt, wie von den Autoren beabsichtigt, die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Facetten, Denkansätzen und Zusammenhängen von inklusiver Bildung in der aktuellen Kita- und Schullandschaft an. Es wird deutlich, welch vielfältige Aspekte einfließen, wenn man sich dem Thema zuwendet: heterogene Personengruppen (Kinder, Eltern, Lehrer, Personen verschiedener Institutionen), soziale Dimensionen, sowie der gesamtgesellschaftliche Rahmen spielen eine Rolle. Es wird deutlich herausgearbeitet, dass Inklusion alle Kinder betrifft, egal welche Voraussetzungen sie mitbringen. Das Geschlecht, Behinderungen, Sprache, soziale Hintergründe sind Facetten vielfältiger Persönlichkeiten mit Bedürfnissen und Ressourcen. Diese gilt es nun im Bildungssystem aufzugreifen. Wie kann das gelingen? Wer ausführliche Methoden, Beispiele und praktische Anregungen sucht, findet diese an anderer Stelle.
Das Buch präsentiert kein geschlossenes Konzept, sondern einzelne Blickwinkel und interessante Aspekte aus Praxis und Forschung. Technologiedefizit, Mehrsprachigkeit, soziale Komponenten, kooperatives Lernen, Etikettierung-Ressourcen-Dilemma, die stärkere Einbindung der Schüler seien hier beispielhaft genannt. Sicher können noch weitere Facetten ergänzt werden. Die Sicht von Kindern, Lehrern und Eltern könnte stärker ausgeführt, Themen wie die Gestaltung von Schulraum, sowie der zeitlichen Strukturen aufgegriffen werden. Auch ein Blick auf mögliche Grenzen von Inklusion fehlt in der Diskussion. Insgesamt bietet es jedoch vielfältige Anregungen zum Thema Inklusion.
Fazit
Den Gedanken der Heterogenität aufgreifend, stellt das Buch verschiedene fachliche Perspektiven aus Forschung und Praxis zum Thema Inklusion in Schule und Kindergarten dar. Es präsentiert kein geschlossenes Inklusionskonzept, sondern zeigt die Bedingungen zur Umsetzung im Schulsystem, Ideen zur Realisierung inklusiver Pädagogik, verschiedene Denkmuster, Möglichkeiten, aber auch Hürden und Schwierigkeiten. Es gibt Denkansätze und Anregungen für die Praxis. Die Betrachtung ist nicht abschließend, regt jedoch die Auseinandersetzung mit vielfältigen Aspekten des Themas Inklusion an.
Rezension von
Dipl.-Sozialarb. / Dipl.-Sozialpäd. Anja Karliczek
Schulbegleiterin
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Es gibt 5 Rezensionen von Anja Karliczek.
Zitiervorschlag
Anja Karliczek. Rezension vom 14.04.2016 zu:
Christina Huf, Irmtraud Schnell (Hrsg.): Inklusive Bildung in Kita und Grundschule. Verlag W. Kohlhammer
(Stuttgart) 2015.
ISBN 978-3-17-026153-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19499.php, Datum des Zugriffs 03.06.2023.
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