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Sabine Andresen, Claus Koch et al. (Hrsg.): Vulnerable Kinder

Rezensiert von Prof. Dr. Manfred Liebel, 07.04.2016

Cover Sabine Andresen, Claus Koch et al. (Hrsg.): Vulnerable Kinder ISBN 978-3-658-07056-4

Sabine Andresen, Claus Koch, Julia König (Hrsg.): Vulnerable Kinder. Interdisziplinäre Annäherungen. Springer VS (Wiesbaden) 2015. 245 Seiten. ISBN 978-3-658-07056-4. D: 49,99 EUR, A: 51,39 EUR, CH: 62,50 sFr.

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Thema

Die besondere Verletzlichkeit von Kindern wird oft in grob vereinfachender Weise als eine bloße Naturtatsache dargestellt und als Rechtfertigung für die Bevormundung von Kindern benutzt, z.B. in manchen institutionalisierten Formen und Maßnahmen des Kinderschutzes. Auch Spendenkampagnen von Kinderhilfsorganisationen bemühen oft die Bedürftigkeit und vermeintliche Hilflosigkeit von Kindern, um Mitleid und Spendenbereitschaft zu erzeugen. Oder staatliche Interventionsprogramme verweisen vorschnell auf vermeintliche Risiken des Kinderlebens und damit verbundener „Fehlentwicklungen“, um Eingriffe in das Leben von Kindern im Sinne einer bestimmten politischen oder pädagogischen Ideologie zu rechtfertigen, etwa nach dem Motto, in die Kinder müsste mehr und früher „investiert“ oder sie müssten „strenger erzogen“ werden. Um einem solch manipulativen Umgang mit der Verletzlichkeit von Kindern zu begegnen, bedarf es dringend der wissenschaftlichen Aufklärung durch möglichst interdisziplinäre und unvoreingenommene Forschung. Dabei ist es nicht damit getan, nur auf die besonderen Fähigkeiten, Handlungspotentiale oder die Rechte von Kindern zu verweisen, so wichtig dies ist, sondern es muss auch den Gründen der Verletzlichkeit von Kindern selbst auf den Grund gegangen werden. In dem hier zu rezensierenden Sammelband wird dies versucht.

Ausgangspunkt und Zielsetzung

Der Ausgangspunkt für die in dem Band behandelte Thematik liegt nach Bekunden der Herausgeberinnen Sabine Andresen und Julia König sowie des Herausgebers Claus Koch in folgendem Tatbestand. Die sozial- und erziehungswissenschaftliche Kindheitsforschung mit ihrer Betonung der Akteursperspektive der Kinder habe die Verletzlichkeit als Merkmal von Kindheit in den vergangenen Jahrzehnten eher gemieden und anderen Disziplinen wie der Medizin, der Evolutionstheorie, den Neurowissenschaften und der Psychologie überlassen. So habe in den erziehungswissenschaftlichen Diskursen die Perspektive auf die relative Autonomie, die Fähigkeiten und Handlungsressourcen von Kindern dominiert. Dies sei zwar als Reaktion auf die machtvolle Konstruktion des erziehungsbedürftigen, schwachen und unreifen Kindes nachvollziehbar, habe aber mitunter dazu geführt, „die Verletzlichkeit von Kindern ebenso zu überspielen wie ihre physische und psychische Angewiesenheit auf bestimmte Ermöglichungsbedingungen ihrer Selbstständigkeit“ (S. 9).

Ohne die Kinder als (mögliche) Akteure aus dem Auge zu verlieren, soll in dem Band der Akzent darauf liegen, dass und in welcher Weise Kinder verschiedenen Alters auf die Sorge und liebevolle Zuneigung der Älteren angewiesen sind. Als „anthropologische Ausgangssituation des Menschen“ als einer „Frühgeburt“ müsse die Ungleichheit im Generationenverhältnis hinsichtlich des Machtgefälles und der damit verbundenen Handlungsfähigkeiten und -spielräume mit bedacht werden. Die „Unausweichlichkeit der Generationendifferenz“ soll gesellschaftstheoretisch und subjekttheoretisch mit der Analyse der Handlungsmöglichkeiten und -fähigkeiten von Kindern vermittelt werden.

Die Herausgeber*innen sehen sich aber auch veranlasst, darauf hin zu weisen, „dass in den westlichen Industriegesellschaften des globalen Nordens die dramatisch in Szene gesetzte Vulnerabilität von Kindern gegenwärtig eine hohe Konjunktur hat“ (S. 10). Insbesondere kritisieren sie die „hektisch zusammengeflickten Aktions- und wohlfahrtsstaatlichen Steuerungsprogramme“, die nur auf die Korrektur von Verhaltens- und Entwicklungsstörungen fokussiert sind. Das gravierendste Problem dieses Trends sehen sie darin, „dass dieses jeglicher Ambivalenz entledigte Gefährdungsparadigma den Erkenntnissen der Kindheitsforschung, welche die tatsächlichen Eigenständigkeiten von Kindern herausgearbeitet hat, gänzlich unvermittelt entgegengesetzt steht“ (S. 10). Vor diesem Hintergrund sehen die Herausgeber*innen das Ziel des Bandes darin, „die kindliche Vulnerabilität im Konfliktfeld von Bedingungen selbstbestimmten kindlichen Agierens und der Gefährdung und Begrenzungen solcher Ermöglichungsbedingungen zu diskutieren“ (S. 10).

Aufbau und Inhalt

Der Band ist in vier Teile gegliedert.

Im ersten Teil wird Vulnerabilität als Dimension von Beziehung und Bildung systematisch diskutiert. Vera King analysiert das Verhältnis von Heteronomie und Autonomie im Kontext generationaler Fürsorge aus subjekt- und kulturtheoretischer Perspektive. Claus Koch diskutiert kindliche Aneignungsprozesse von Welt in entwicklungspsychologischer Perspektive mit skeptischem Blick auf die Frage, inwiefern pädagogische Institutionen, namentlich Früherziehungsprogramme, dieser Aufgabe gerecht werden. Magrit Stamm und Isabelle Halberkann kritisieren das heute weit verbreitete Resilienz-Konzept als Gegenkonstrukt zur Vulnerabilität, insofern es soziale Kontexte systematisch ausblendet und in hohem Maße pädagogisch individualisiert.

Im zweiten Teil geht es um eine historisch-kulturwissenschaftliche Rekonstruktion des Bildes vom „vulnerablen Kind“ und um das Verständnis der transgenerationellen Bedeutung des Erzählens. Meike Sophia Baader legt in einer emotionsgeschichtlichen Rekonstruktion die Konstitution von sozialhistorischen Situationen und Dynamiken frei, in welchen Kinder besonders verletzlich waren oder als besonders verletzlich wahrgenommen wurden. Marianne Leutzinger-Bohleber zeigt in den Gemälden des kolumbianischen Malers Fernando Botero eine szenische Dynamik auf, welche sie psychoanalytisch als künstlerische Darstellungen transgenerativer Weitergabe von Trauma und Bindung liest. Zwischen diesen beiden Beiträgen sind zwei Kurzgeschichten von Ulrike Kolb eingefügt, die das Thema der kindlichen Verletzlichkeit literarisch und damit jenseits der Grenzen wissenschaftlicher Sprache und Analysekriterien entfalten.

Der dritte Teil ist den Zusammenhängen von sozialer Ungleichheit und Vulnerabilität gewidmet, wobei den Erfahrungen materiellen Mangels, von Stigmatisierung und Ausgrenzung besondere Bedeutung beigemessen wird. Sabine Andresen stellt unter Bezug auf empirische Untersuchungen dar, wie die Erfahrung relativer Armut von Kindern in Deutschland zu ihrer Vulnerabilität beiträgt, und verbindet ihre Analyse mit kindheitstheoretischen Überlegungen. Jutta Ecarius diskutiert auf der Basis jugendtheoretischer Überlegungen und einer Fallstudie die Frage von Generationengerechtigkeit als Prämisse aktueller Pädagogik; dabei zeichnet sie nach, wie sich bei einem Heranwachsenden aus einem Mangel an Ressourcen Vulnerabilität ausprägt und sich in seine Biographie einschreibt. Sophie Künstler zeigt mittels einer von Foucault inspirierten Diskursanalyse von Interviews mit Müttern und Vätern, wie Migrantenkindern, die sich um Übergang von der Kindertagesstätte in die Grundschule befinden, abwertende Subjektpositionen zugewiesen werden.

Im vierten Teil wird die leibliche Dimension von Vulnerabilität unter Bezug auf Sexualität und Gewalt beleuchtet. Julia König legt dar, warum in pädagogischen Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern das Sexuelle nicht ausgeblendet werden kann und es in den Interpretationen sexueller Szenen zwischen beiden Seiten zu Sprachverwirrungen und verstörenden Wirkungen kommen muss. Mechthild Wolff wirft einen Blick auf die Institutionen stationärer Erziehungshilfe bzw. der „Heimerziehung“ und zeigt, warum es in diesen Institutionen aus strukturellen Gründen immer wieder zu sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche kommt. Micha Brumlik diskutiert die ethischen Dilemmata, die sich bei der rituellen Beschneidung von männlichen Säuglingen aus der Perspektive seiner „advokatorischen Ethik“ auftun, kommt allerdings zu dem Schluss, dass sie als religiöser Brauch gerechtfertigt ist.

Der Beitrag des deutsch-jüdischen Erziehungswissenschaftlers und Moralphilosophen Micha Brumlik basiert auf seiner Abschiedsvorlesung, die er am 21. Januar 2013 an der Frankfurter Goethe-Universität gehalten hat. Es ist sicher kein Zufall dass der Band mit ihm schließt. Auch mehrere Autorinnen des Bandes beziehen sich auf seine grundlegenden Schriften, insbesondere diejenigen zur „Advokatorischen Ethik“ (1992) und „Gerechtigkeit zwischen den Generationen“ (1995). Der Band, der auf den Beiträgen einer Fachtagung anlässlich der Emeritierung von Micha Brumlik basiert, ist auch als Würdigung von dessen Persönlichkeit und Werk zu verstehen.

Diskussion

Indem der hier vorgestellte Band die Thematik der Vulnerabilität zur Akteursperspektive der heutigen sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung in Beziehung setzt, hebt er sich wohltuend von anderen Veröffentlichungen (nicht zuletzt in den Medien) zur Verletzlichkeit und Hilfsbedürftigkeit von Kindern ab. Er vermittelt profunde und differenzierte Einblicke in die sozialwissenschaftliche und psychologische Fachdiskussion, vor allem mit Blick auf pädagogische Fragestellungen und Herausforderungen. Namentlich der Beitrag von Vera King macht mit seiner präzise formulierten subjekt- und kulturtheoretischen Reflexion kindlicher Angewiesenheit auf Ältere und der Ambivalenzen in den Generationsbeziehungen auf bisher wenig bedachte Dimensionen des Themas Vulnerabilität aufmerksam. Oder in dem Beitrag von Sabine Andresen wird in gelungener Verbindung von kindheitstheoretischen Überlegungen und empirischen Befunden verdeutlicht, wie die Vulnerabilität von Kindern aufs engste durch prekäre Lebensverhältnisse und soziale Ungleichheit mit bedingt ist.

Einzelne Beiträge, vor allem diejenigen zur Diskursanalyse und psychoanalytischen Zugängen machen es aufgrund des verwendeten Fachjargons den Leserinnen und Lesern, die nicht in diesen Fachgebieten zu Hause sind, gewiss nicht leicht, die Argumente nachzuvollziehen. Es lohnt aber allemal, sich auf sie einzulassen. Bei der Rede von „Subjektivierung“ ist es z.B. unerlässlich, sich näher mit dem Subjektverständnis des französischen Philosophen Michel Foucault zu befassen. Bei der einfühlsamen Interpretation der Bilder des aus Kolumbien stammenden und in Paris lebenden Malers Fernando Botero gilt ähnliches für die teils kontroverse psychoanalytische Fachdiskussion zum Verständnis von Traumata, aber auch für die in postkolonialen Theorien angesprochene „epistemische Gewalt“ westlicher Diskurse, auf die die Autorin nur knapp (aber immerhin) Bezug nimmt.

An einigen Stellen des Bandes wird darauf hingewiesen wird, dass sich die Beiträge auf Kinder in den eher wohlhabenden Gesellschaften des globalen Nordens beziehen. Gleichwohl ist mitunter in generalisierender Weise von „Moderne“ oder „modernen Konzepten“ die Rede, ohne diese zu lokalisieren und zu spezifizieren. Zwar klingt in manchen Beiträgen an, dass die so bezeichneten Phänomene in sich widersprüchlich sind und sogar zu zusätzlichen Belastungen führen und zur Vulnerabilität von Kindern beitragen können. Aber es wird ausgespart, dass sie sich weitgehend der Kolonisierung und Ausbeutung „fremder“ Erdteile und nachfolgenden postkolonialen Machtkonstellationen verdanken, von denen sie mit „infiziert“ sind (z.B. in Migrationsprozessen oder dem Kampf von Unternehmen und Staaten um wirtschaftliche Standortvorteile). Hier wäre für die weitere Debatte und Forschung zur Vulnerabilität von Kindern wünschenswert, auch den Blick auf Gesellschaften und Kulturen im globalen Süden zu richten, in denen oft andere Problemkonstellationen vorliegen, aber auch andere „Antworten“ als in Europa gefunden werden, und dabei die postkolonialen Machtkonstellationen mit zu bedenken (wie dies ansatzweise in dem Beitrag von Marianne Leutzinger-Bohleber geschieht).

Es wäre auch wünschenswert gewesen, auf das Spannungsfeld genauer (d.h. nicht nur in dem Beitrag von Magrit Stamm und Isabelle Halberkann) einzugehen, das zwischen den Polen von Resilienz und Verletzlichkeit angesiedelt ist. Des Weiteren hätten die gattungsethischen Fragen um die neuen gravierenden Formen von Verwundbarkeit, die etwa Jürgen Habermas in seiner Auseinandersetzung mit dem Siegeszug der Biotechnologien und der „liberalen Eugenik“ aufwirft („Die Zukunft der menschlichen Natur“, 2001), mehr als nur einige Randbemerkungen verdient gehabt (sie finden sich immerhin in den Beiträgen, die sich um die asymmetrischen Generationenverhältnisse drehen).

Zu drei Beiträgen sehe ich mich veranlasst, ausdrücklich kritische Anmerkungen zu machen. Claus Koch setzt sich in seinem Beitrag unter Bezug auf die sog. Bindungstheorie und darauf aufbauende empirische Studien (vornehmlich in den USA) zur Vulnerabilität im frühen Kindesalter mit aktuellen Programmen der institutionalisierten Früherziehung in Deutschland auseinander. Er warnt davor, die Kinder zu früh in Krippen zu betreuen, da sie durch die frühe und langdauernde Trennung von ihren Eltern (vor allem den Müttern) emotional massiv überfordert und damit in ihrer Persönlichkeitsentwicklung, z.B. im Erwerb der Fähigkeit zur Empathie, gefährdet würden. Auch wenn er durchaus der Qualität der Früherziehung (z.B. einem günstigen Betreuungsschlüssel) eine gewisse Bedeutung zumisst, kommt er doch letztlich zu einem pauschalen Urteil, das sich nur am Alter der Kinder orientiert. Der Autor hätte m.E. die konkrete Lebenssituation der Kinder, um die es geht, ebenso mit bedenken müssen, wie den politischen Kontext, in dem diese Debatte in Deutschland geführt wird. Da dies nicht geschieht, läuft der Beitrag Gefahr, selbst von einer politischen Seite vereinnahmt zu werden, die ihrerseits auf einem obsolet gewordenen Mutterbild und entsprechenden Ideologien einer vermeintlich von der Natur vorgegebenen „heilen Gesellschaft“ aufbaut (wie bei der Kampagne der CSU für das „Müttergeld“, in polemischer Kritik als „Herdprämie“ bezeichnet).

In dem Beitrag von Mechthild Wolff zur Heimerziehung als vulnerablem Lebensort für Kinder wird der Institution selbst Vulnerabilität attestiert („Vulnerabilität der Institution Heim“). Ebenso wie es problematisch ist, von „lernenden Institutionen“ zu sprechen und somit strukturelle Gebilde mit menschlichen Eigenschaften auszustatten, trägt die Wortwahl der Autorin dazu bei, die Institution Heim als Ganze entweder zu idealisieren oder zu verteufeln. Es wäre weiterführend (gewesen), sich mit unterschiedlich denkbaren Strukturen dieser Institution sowie der Stellung und den Interessen (sowie der Ausbildung und Haltung) des hier tätigen Fachpersonals auseinanderzusetzen und Alternativen aufzuzeigen, die den Bedürfnissen, Interessen und Rechten der hier betreuten Kinder gerecht werden (z.B. die Einrichtung unabhängiger Beschwerdestellen). Hinsichtlich dieser Fragen ist es noch immer lehrreich, sich auf die entsprechenden Erfahrungen und Vorschläge von Janusz Korczak (in Polen) oder Siegfried Bernfeld (in Österreich) in den 1920er Jahren einzulassen.

Noch eine (etwas längere) Bemerkung zu dem den Band abschließenden Beitrag von Micha Brumlik. Der Autor sieht in der nicht-medizinisch indizierten Beschneidung der Penisvorhaut männlicher Säuglinge, wie sie in der jüdisch-religiösen (und muslimischen) Tradition verankert ist, einen schwer zu entscheidenden „Grenzfall“ der von ihm auf Immanuel Kant zurückgeführten advokatorischen Ethik, aber letztlich gelangt er zu dem Schluss, sie verteidigen zu müssen. Brumliks Argumentation ist – wie immer in seinen Schriften – scharfsinnig, und er macht zu Recht auf oft mitspielende Ressentiments in der Debatte zum Thema aufmerksam. Aber bei seiner Verteidigung dieses – wie er selbst zugesteht – äußerst schmerzhaften Rituals macht er es sich zu leicht. Der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit von Kindern kann m.E. nicht, wie er vorgibt, damit gerechtfertigt werden, dass generell in Sozialisationspraktiken, wie wir sie bisher kennen, der Körper und die Psyche von Kindern von Anbeginn ihres Lebens „geprägt“ wird, ohne dass sie eine Chance haben, sich ihnen zu widersetzen. Es widerspricht auch ethischen Überlegungen, den Eingriff damit zu rechtfertigen, dass er nur eine kleine Zahl von Kindern betrifft (lässt sich ein ethischer Grundsatz in utilitaristischer Manier relativieren?), langfristige Schäden nicht zweifelsfrei nachgewiesen seien (müsste nicht eher nachgewiesen werden, dass er keine Schäden verursacht?), oder dass seine Legalisierung durch den Deutschen Bundestag dem „Rechtsfrieden“ gedient habe (auf wessen Kosten?). Gerade im Sinne einer advokatorischen Ethik wäre stattdessen darauf zu insistieren, solche Praktiken auf ein Minimum (insbesondere auf medizinische Notfälle) zu beschränken und sie immer wieder im Sinne des Freiheits- und Emanzipationsversprechens an die Kinder zu problematisieren. Zumal wenn der Gedanke der Kinderrechte und die Anerkennung von Kindern als Rechtssubjekte mit eigener Menschenwürde ernst genommen wird, sollte jegliche Form paternalistischer Machtausübung (selbst in ihren „weichsten“ Varianten) als bleibendes Problem empfunden und, wo immer möglich, vermieden oder zurückgedrängt werden. Mit seinem Plädoyer für die Beschneidung von kleinen Jungen allein unter Bezug auf eine jahrtausendealte Tradition setzt sich Micha Brumlik über die selbst formulierten Kriterien einer advokatorischen Ethik hinweg. Allerdings müsste das Gleiche auch für andere Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit von Kindern gelten, die bisher weit weniger Aufmerksamkeit gefunden haben, wie die von Brumlik erwähnte operative Korrektur von „Segelohren“ oder die operative „Vereindeutigung“ des Geschlechts bei intersexuellen Kindern. Solche Eingriffe sollten ebenso wie die Beschneidung mindestens solange unterbleiben, bis Kinder in der Lage sind, ihren Willen zu bekunden und eine eigene Entscheidung zu treffen.

Fazit

Das Buch ist ein großenteils differenzierter und ausgewogener Beitrag zum Verständnis der Vulnerabilität von Kindern, ohne diese in Gegensatz zu der in der Kindheitsforschung favorisierten Akteursperspektive zu bringen. Auf eindrucksvolle Weise wird in den eher theoretisch akzentuierten Beiträgen die Balance zwischen anthropologischen und biologischen Gründen für die Angewiesenheit und Abhängigkeit der Kinder auf der einen Seite und den historisch variablen sozialen und kulturellen Gründen auf der anderen Seite gewahrt und transparent gemacht.

Nicht alle Beiträge sind in gleicher Weise verständlich und überzeugend, aber insgesamt tragen sie dazu bei, einen tieferen Einblick in die verschiedenen Dimensionen der Verletzlichkeit von Kindern zu ermöglichen. Von besonderem Wert ist, dass die Frage der Vulnerabilität mit der Frage der Generationsdifferenzen und den darin eingelassenen Ungleichheiten, aber auch dem damit immer verbundenen Neubeginn in Beziehung gesetzt wird. Wenn die in dem Band versammelten Argumente ernst genommen würden, müsste sich insbesondere der bisher übliche paternalistische und bevormundende Kinderschutz in grundlegender Weise wandeln.

Rezension von
Prof. Dr. Manfred Liebel
Master of Arts Childhood Studies and Children’s Rights (MACR) an der Fachhochschule Potsdam, Fachbereich Sozial- und Bildungswissenschaften
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Es gibt 104 Rezensionen von Manfred Liebel.

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ISSN 2190-9245