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Peter Fonagy, György Gergely u.a.: Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst

Rezensiert von Dr. phil. Manfred Böge, 07.12.2015

Cover Peter Fonagy, György Gergely u.a.: Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst ISBN 978-3-608-94942-1

Peter Fonagy, György Gergely, Elliot L. Jurist, Mary Target: Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2015. 5. Auflage. 572 Seiten. ISBN 978-3-608-94942-1. D: 54,95 EUR, A: 56,50 EUR, CH: 73,90 sFr.

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Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-608-96271-0 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.

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Thema

Das Buch führt in die psychoanalytischen und entwicklungspsychologischen Grundlagen der Mentalisierungstheorie ein. Die Autoren verfolgen das ehrgeizige Ziel, „Leser unterschiedlichster professioneller Herkunft anzusprechen: akademische Psychologen, klinische Psychologen und Psychotherapeuten, aber auch Entwicklungspsychologen aus anderen Disziplinen“ (S. 9). Die Arbeit der Verfasser steht in der Tradition der psychoanalytischen Theoriebildung, integriert zugleich aber auch Erkenntnisse aus anderen Disziplinen wie der Philosophie des Geistes und der Säuglings- und Kleinkindforschung. Im Zentrum des Buches steht die These, dass die Fähigkeit zur Mentalisierung – verstanden als ein Prozess, „durch den wir erkennen, daß unser Geist unsere Weltwahrnehmung vermittelt“ (S. 10) – unauflöslich mit der Entwicklung des Selbst verbunden ist und insofern nicht unabhängig davon verstanden werden kann. Der „Entwicklung von Repräsentationen psychischer Zustände bei Säuglingen, Kindern, Adoleszenten und Erwachsenen“ (S.10) kommt dabei eine Schlüsselrolle zu.

Autoren

Peter Fonagy, Ph.D., F.B.A., ist Freud Memorial Professor of Psychoanalysis und Direktor des Fachbereichs Clinical Health Psychology am University College London. Er ist Direktor des Child and Family Center und des Clinical Outcomes Research and Effectiveness Center, die der Menninger Foundation, Kansas, angeschlossen ist. Er ist außerdem Direktor des Anna Freud Centre, London. Er ist klinischer Psychologe und gehört der Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft als Lehranalytiker für Kinder- und Erwachsenenanalyse an. Er ist Vorsitzender des Forschungskomitees und Vizepräsident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung sowie Fellow der British Academy. Er gehört den Herausgebergremien zahlreicher führender Fachzeitschriften an, unter anderem des „Bulletin of the Menninger Clinic“ sowie „Development and Psychopathology“. Er hat mehr als 200 Buchkapitel und Aufsätze veröffentlicht und zahlreiche Bücher verfasst oder herausgegeben. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen zählen:

  • What Works for Whom: A Critical Review of Psychotherapy Research (herausgegeben mit A. Cooper und R. Wallerstein, erschienen 1999 bei Routledge),
  • Bindungstheorie und Psychoanalyse (erschienen 2003 bei Klett-Cotta) und
  • Evidence-Based Child Mental Health: A Comprehensive Review of Treatment Interventions (zusammen mit M. Target, D. Cottrell, J. Phillips und Z. Kurtz, erschienen 2002 bei Guilford Press).

György Gergely, Ph.D., ist Direktor des Developmental Psychology Laboratory am Psychologischen Institut der Ungarischen Akademie für Wissenschaften und Senior Lecturer des Cognitive Developmental Doctoral Program der Eötvös Lóránd Universität Budapest. Er ist klinischer Psychologe und Gastprofessor des Max Planck Instituts für Psychologie in München, des Child and Family Center der Menninger Clinic, des Department of Psychology am University College London sowie des Department of Psychology, Berkeley. Er gehört dem Vorstand der European Cognitive Neuroscience Inititiative, Triest, an. Er ist Autor des Buches „Free Word Order and Discourse Interpretation“ (veröffentlicht 1991 bei Academic Press of Budapest) und zahlreicher Buchkapitel und Aufsätze. Er ist Mitherausgeber mehrerer führender Fachzeitschriften.

Elliot, L. Jurist, Ph.D., Ph.D., ist Professor am Fachbereich Philosophie der Hofstra Universität und Lecturer am Fachbereich Psychiatrie des College of Physicians and Surgeons, Columbia University. Er ist Autor des Buches „Beyond Hegel and Nietzsche: Philosophy, Culture and Agency“ (veröffentlicht 200 bei MIT Press) sowie zahlreicher philosophischer und psychoanalytischer Beiträge. Er ist Mitglied des Neuropsychiatry Service, New York Presbyterian Hospital, und Mitglied des Ethics Committee of the New York State Psychiatric Institute.

Mary Target, Ph.D., ist Senior Lecturer in Psychoanalysis am University College London und assoziiertes Mitglied der Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft. Sie ist Forschungsdirektorin des Anna Freud Centre, Mitglied des Ausbildungs- und des Wissenschaftsausschusses, Vorsitzende des Forschungskomitees der Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft und Vorsitzende der Arbeitsgruppe Psychoanalytische Ausbildung der Europäischen Psychoanalytischen Föderation. Sie ist Course Organizer des UCL Master´s Course in Psychoanalytic Theory und Academic Course Organizer am UCL/Anna Freud Centre Doctorate in Child and Adolescent Psychotherapy. Sie gehört den Herausgebergremien mehrerer Fachzeitschriften an, unter anderem des „International Journal of Psycho-Analysis“, und ist beratende Mitherausgeberin für psychoanalytische Bücher bei Whurr Publishers sowie Mitherausgeberin der New Library of Psychoanalysis, Routledge. Sie ist aktiv an zahlreichen Forschungsprojekten zur Entwicklungspsychopathologie und psychotherapeutischen Prozess- und Ergebnisforschung beteiligt. Sie ist Autorin und Herausgeberin mehrerer Bücher, zum Beispiel „Attaccamento e Funzione Fiflessiva“ (zusammen mit P. Fonagy, veröffentlicht 2000 bei Raffaello Cortina Editore, Mailand) und The Outcomes of Psychoanalytic Treatment (herausgeben mit M. Leuzinger-Bohleber, erschienen 2002 bei Whurr).

Aufbau

Das Buch gliedert sich in drei Teile:

  1. Theoretische Perspektiven (Kapitel 1 bis 3)
  2. Entwicklungspsychologische Perspektiven (Kapitel 4 bis 8)
  3. Klinische Perspektiven (Kapitel 9 bis 11)

Zum Ersten Teil: Theoretische Perspektiven

Im ersten Kapitel beschreiben die Autoren, dass es einen direkten Zusammenhang gibt zwischen interpersonalen Bindungsprozessen und der in den ersten Lebensjahren auftauchenden Fähigkeit, „sich mentale Zustände im eigenen Selbst und in anderen Menschen vorzustellen“ (S. 31). Die hier formulierte These besagt, dass die Mentalisierungsfähigkeit keine entwicklungspsychologische Selbstverständlichkeit ist, sondern von der Qualität der Bindungsbeziehung abhängt. Die Autoren führen eine Reihe von Forschungsergebnissen an, um ihre Arbeitshypothese zu untermauern. Das Ziel ist die Entwicklung einer Theorie des Mentalen.

Im zweiten Kapitel diskutieren die Autoren den Einfluss der Affekte auf die Entwicklung des Selbst. „Wir untersuchen den Zusammenhang zwischen frühen Objektbeziehungen und Mentalisierung, indem wir sie durch die Linse der Affekte und Affektregulierung betrachten“ (S. 74). Es geht also um die entwicklungspsychologische Fragestellung, welchen Einfluss die Qualität früher Bindungserfahrungen auf die Fähigkeit zur eigenen Affektregulierung ausübt. „Die Regulierung von Affekten hängt mit der Regulierung des Selbst zusammen, genauer: Die Affektregulierung spielt eine entscheidende Rolle für die Beantwortung der Frage, wie Säuglinge aus einem Zustand der Ko-regulierung zur Selbstregulierung übergehen“ (S. 75). Es werden philosophische Affekttheorien genauso vorgestellt wie neurowissenschaftliche Ansätze.

Im dritten Kapitel geht es den Autoren darum, ihren entwicklungspsychologischen Ansatz gegenüber jenen Kritikern zu verteidigen, die behaupten, dass ein psychosoziales Entwicklungsmodell der Mentalisierung zugunsten der Verhaltensgenetik zu vernachlässigen ist. Allerdings wird die umwelttheoretische Position nicht einfach übernommen, vielmehr wird sie unter Berücksichtigung der Erkenntnisse der Bindungstheorie und der Verhaltensgenetik mentalisierungstheoretisch neu formuliert: „Wir räumen der Mentalisierung einen zentralen Platz in diesem Moderationsprozess ein und vertreten die These, daß nicht die reale Umwelt des Kindes, sondern seine Interpretation dieser Umwelt die genetische Expression bestimmt“ (S. 105).

Zum Zweiten Teil: Entwicklungspsychologische Perspektiven

Das vierte Kapitel formuliert im Wesentlichen eine Antwort auf die Frage, „welche Rolle die Affekte bei der Entwicklung des Selbst spielen“ (S. 153). Die Autoren untersuchen, welche Entwicklungsprozesse am Verstehen der eigenen Gefühle und der Gefühle anderer Menschen beteiligt sind. Zu diesem Zweck stellen sie eine Theorie des sozialen Biofeedbacks vor, in deren Zentrum die mütterliche Affektspiegelung steht. Außerdem wird eine Verbindung hergestellt zwischen der Qualität der frühen Affektspiegelung und der späteren Anfälligkeit für psychosozialen Stress. Eine Darstellung pathologischer Formen der frühen Interaktion rundet das Kapitel ab.

Im fünften Kapitel diskutieren die Autoren die Ergebnisse der Entwicklungsforschung der letzten zwanzig Jahre. Diese setzen sie in Beziehung zu ihrer eigenen Auffassung von der Entwicklung des Selbst. Der Erwerb der Mentalisierungsfähigkeit steht dabei im Vordergrund, wobei die Autoren in Anlehnung an frühere Forschungsergebnisse (Kapitel 3) fünf Phasen unterscheiden, in denen „das Selbst als Akteur“ (S. 210) auftritt. Auch wird in diesem Kapitel die Borderline-Persönlichkeitsstörung unter dem „Aspekt der teleologischen Haltung“ (S. 210) untersucht. Dadurch wird ein neuer Blick auf die Entstehung dieser psychischen Erkrankung geworfen.

Das sechste Kapitel nimmt sich die Frage vor, wie sich die innere Realitätswahrnehmung des Kindes im Laufe der psychischen Entwicklung verändert. Am Ende dieses Entwicklungsprozesses steht die Fähigkeit des Kindes „innere Welten zu verstehen“ (S. 258). Um diesen Umgang zu verdeutlichen, greifen die Autoren auf empirisches Analysematerial zurück. Hierbei zeigt sich, dass Kinder psychische Realitäten im Wesentlichen in zwei Modi repräsentieren: im Als-ob-Modus einerseits und im Modus der psychischen Äquivalenz andererseits. „Wir behaupten, daß die Integration dieser Modi zu einem einzigen Reflexionsmodus normalerweise im Alter von etwa vier Jahren abgeschlossen ist und daß in diesem Prozeß die Mentalisierung von Affekten der Mentalisierung von Überzeugungs- oder Kognitionszuständen vorausgeht: Kinder verstehen zuerst, daß Menschen unterschiedliche Gefühle haben; danach erst begreifen sie, daß sie möglicherweise unterschiedlich über ein und dieselbe äußere Realität denken“ (S. 258). Dieses Kapitel beschäftigt sich also hauptsächlich mit der normalen psychischen Entwicklung des Kindes und damit, wie das Kind seine innere Realität wahrnimmt.

Im siebten Kapitel stellen die Autoren „ein psychoanalytisches Modell der Entwicklung reifer Subjektivität“ (S. 295) vor. Den Verfassern des Buches geht es darum, an einem klinischen Beispiel zu zeigen, dass die Fähigkeit des Kindes, „seine innere Realität als repräsentational“ (S. 295) wahrzunehmen, davon abhängt, ob die Realität des Kindes auf eine spielerische Art und Weise von den primären Bezugspersonen gespiegelt worden ist. Bei diesem Vorgang ist es wichtig, dass die Eltern „dem Kind markierte Externalisierungen seiner inneren Zustände anbieten“ (S. 295), das heißt, „daß sie das innere Erleben von der physikalischen Realität abtrennen oder abkoppeln, dem Kind demonstrieren, daß sein Erleben kontrollierbar ist, und den Inhalt dieses Erlebens modifizieren, indem sie Lustgewinn oder Wunscherfüllung verstärken“ (S. 295).

Wurde bisher die Entwicklung der Fähigkeit zur Mentalisierung bis zum fünften Lebensjahr beschrieben, beschäftigen sich die Autoren im achten Kapitel ihres Buches mit emotionalen und kognitiven Entwicklungsschritten in der Adoleszenz. Zu diesem Zweck wird auf bereits diskutierte Konzepte zurückgegriffen. „In diesem Kapitel beschreiben wir eine weitere Stufe in der Entwicklung der Reflexionsfunktion, indem wir die Implikationen der mit der Adoleszenz einhergehenden kognitiven Entwicklung für die Ontogenese der Mentalisierung betrachten“ (S. 320). Von Interesse ist die Frage, warum es in der Adoleszenz häufig zu psychischen Zusammenbrüchen kommt und warum Störungsbilder sich während dieser Zeit verfestigen können.

Zum Dritten Teil: Klinische Perspektiven

Im neunten Kapitel zeigen die Autoren, dass die Pathologie der Borderline-Persönlichkeitsstörung ihren Ursprung hauptsächlich im Scheitern der Fähigkeit zur Mentalisierung hat. Im Rückgriff auf die entwicklungspsychologischen Arbeiten der Bindungstheorie formulieren sie ihr eigenes Verständnis „des Zusammenhangs zwischen Bindung und Borderline-Persönlichkeitsstörung“ (S. 349). Hierbei werden die Folgen von Missbrauch und Misshandlung auf die emotionale und kognitive Entwicklung des Kindes genauso berücksichtigt wie der Zusammenhang von Persönlichkeitsstörung und Mentalisierungsdefizit. Ziel ist es, Grundlagen eines neuen psychotherapeutischen Ansatzes darzustellen.

Das zehnte Kapitel diskutiert die psychische Realität des Borderline-Patienten. In erster Linie werden die spezifischen Verhaltens- und Beziehungsmuster untersucht, wie sie in der psychoanalytischen Übertragungsbeziehung zur Darstellung kommen. Die Verfasser gehen dabei von der These aus, dass die intrapsychische Realität des Patienten das Ergebnis „einer unzureichenden Integration der beiden frühen Modi des Erlebens psychischer Realität, nämlich des Als-ob-Modus und des Modus der psychischen Äquivalenz“, ist (S. 375). Inwieweit Traumata die Integration jener beiden Modi verhindern, wird in diesem Kontext ebenfalls erörtert.

Im elften Kapitel schließlich gehen die Autoren noch einmal auf den Begriff der mentalisierten Affektivität ein und formulieren die These, dass die Fähigkeit zur Mentalisierung im Erwachsenenleben durch Psychotherapie verbessert werden kann. In einem ersten Schritt wird das vor allem für die klinische Praxis relevante Konzept der mentalisierten Affektivität vorgestellt. In einem zweiten Schritt werden dann drei bedeutsame Elemente mentalisierender Affektivität vorgestellt. Im Anschluss daran werden die theoretischen Ausführungen in einem dritten Schritt anhand von vier Beispielen verdeutlicht.

Diskussion

Wenn die Autoren festhalten, dass sich ihre Arbeit „in die alte Tradition der entwicklungspsychologischen Theorie und Forschung innerhalb der Psychoanalyse“ einfügt, „die von Koryphäen wie Anna Freud, Melanie Klein, Mahler, Brody, Emde, Stern und zahlreichen anderen repräsentiert wird“ (S. 9), dann ist dies keine Übertreibung, sondern entspricht durchaus dem reflektierenden Modus. Die Verfasser haben ein bemerkenswertes Buch vorgelegt, das das Potenzial hat, in der psychoanalytischen Theoriebildung einen Paradigmenwechsel herbeizuführen. Den Autoren gelingt es, eine Theorie des Mentalen zu formulieren, die sich nicht nur auf die Tradition der Psychoanalyse bezieht, sondern auch Einsichten aus den Kognitionswissenschaften, der Bindungstheorie sowie der Säuglings- und Kleinkindforschung berücksichtigt. Im Rückgriff auf den deutschen Idealismus und die analytische Philosophie des Geistes vertreten sie die These, dass wir uns als Menschen nur durch andere verstehen und deshalb im Rahmen unserer emotionalen und kognitiven Entwicklung auf Objektbeziehungen angewiesen sind. „Mentalisierung hängt unauflöslich mit der Entwicklung des Selbst zusammen, mit seiner zunehmend differenzierteren inneren Organisation und seiner Teilhabe an der menschlichen Gesellschaft, einem Netzwerk von Beziehungen zu anderen, die diese einzigartige Fähigkeit ebenfalls besitzen“ (S. 11).

Die Gliederung des Buches in drei Teile, wobei jedes Kapitel einer bestimmten Perspektive zugeordnet ist, ist durchdacht und hilft dem interessierten Leser, sich in der Komplexität des Themas zurechtzufinden. Obwohl die Kapitel des Buches zum Teil von unterschiedlichen Personen verfasst worden sind, weisen sie inhaltliche Bezüge untereinander auf, was sich auf die Leseführung und das Verständnis insgesamt positiv auswirkt. Die Autoren verstehen es, den Leser durch die verschiedenen Aspekte der Mentalisierungstheorie zu führen und liefern einen profunden Überblick über die konzeptuellen Grundlagen dieser neuen psychoanalytischen Entwicklungstheorie.

Das Buch ist für ein Fachpublikum geschrieben. Der interessierte Laie wird sich aufgrund der akademischen Ausdrucksweise und dem theoretischen Anspruch schnell überfordert fühlen und das Buch nach einer gewissen Zeit enttäuscht beiseitelegen. Für den psychoanalytisch ausgebildeten Intellektuellen hingegen erweist sich das Buch als Fundgrube neuer bindungstheoretischer und entwicklungspsychologischer Erkenntnisse im Kontext des schrittweisen Erwerbs der Fähigkeit zur Mentalisierung. Diese Einsichten liefern zugleich die Grundlagen für eine neue Form der Psychotherapie. Die Mentalisierungstheorie ist vor allem aus zwei Gründen von Bedeutung: Zum einen berücksichtigen die Autoren bei ihrer Arbeit verschiedene Fachbereiche, die bisher getrennt voneinander gehalten worden sind: Bindungstheorie, Psychoanalyse, Philosophie des Geistes und Kognitionswissenschaften. Zum anderen basiert die Theorie nicht allein auf spekulativen Wahrheiten klinischer Rekonstruktion, sondern wird mit Einsichten aus der empirischen Säuglings- und Kleinkindforschung unterfüttert, wodurch sie einen höheren Grad an Validität erreicht. „In diesem Buch stellen wir klinisches und empirisches Material in Verbindung mit Beobachtungsdaten vor, um zu zeigen, daß das Baby nicht mit dem Bewußtsein seiner selbst als geistbegabter Organismus oder als psychologisches Selbst geboren wird. Das Selbst ist eine Struktur, die sich vom Säuglingsalter bis in die Kindheit hinein entwickelt, und diese Entwicklung hängt in entscheidendem Maße von der Interaktion mit reiferen Psychen ab, die das Kind wohlwollend und reflektierend unterstützen“ (S. 12).

Obwohl es ein Gewinn für die Mentalisierungstheorie ist, dass die Autoren den Versuch unternehmen, möglichst viele Einsichten aus den verschiedensten Forschungsbereichen zu berücksichtigen, wird den vielen Bezügen in der Behandlung zum Teil zu wenig Raum gegeben. So wäre es für den philosophisch gebildeten Leser von Interesse, mehr über die konzeptuellen Einflüsse der Philosophie des Geistes auf die Ausgestaltung dieser Theorie zu erfahren. Die Ausführungen dazu sind leider nicht sehr umfangreich und gehen kaum in die Tiefe. Sie liefern allenfalls einen ersten Eindruck. Die Autoren fühlen sich offenbar der Umfassenheit verpflichtet, worüber sie manchmal den Blick für das Besondere verlieren. Eine weitere Schwierigkeit, die wohl ebenfalls mit der multiplexen Bezugnahme auf unterschiedliche Disziplinen zusammenhängt, besteht in der relativ lockeren Systematik des Buches. Obwohl die Autoren darauf achten, dass die verschiedenen Kapitel mitunter einen inhaltlichen Bezug aufweisen, fällt es selbst dem geübten Leser manchmal schwer, die verschiedenen Fäden der Mentalisierungstheorie zusammenzuhalten. So darf beispielsweise nicht übersehen werden, dass es sich nicht allein um eine komplexe Theorie der schrittweisen Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit handelt, sondern dass die Autoren zugleich den Anspruch vertreten, das Konzept einer mentalisierungsbasierten Therapie (MBT) zu liefern, das vor allem bei schweren psychischen Erkrankungen wie der Borderline-Persönlichkeitsstörung Anwendung finden soll. „Ein wichtiges Ziel der Psychotherapie, wenn nicht sogar das wichtigste, besteht darin, die Mentalisierung weiterzuentwickeln“ (S. 21). Damit beweisen die Autoren einmal mehr, dass es ihnen darauf ankommt, Theorie und Praxis miteinander zu verbinden.

Fazit

Das Buch ist als wissenschaftliches Lehrbuch konzipiert. Die Autoren stellen darin die konzeptuellen Grundlagen der Mentalisierungstheorie vor. Der Theorie, die sich in der Tradition der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie bewegt, gelingt es, neben bindungstheoretischen auch kognitionswissenschaftliche und verhaltensgenetische Erkenntnisse sowie Einsichten aus der Philosophie des Geistes zu berücksichtigen. Auch liefern die entwicklungspsychologischen Ausführungen zugleich das Fundament für eine mentalisierungsbasierte Therapie, die in erster Linie für Behandlung schwerer Persönlichkeitsstörungen konzipiert ist. Ein Muss für jeden, der sich für moderne psychoanalytische Theoriebildung interessiert.

Rezension von
Dr. phil. Manfred Böge
M.A. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Pädagogik der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
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Es gibt 3 Rezensionen von Manfred Böge.

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Zitiervorschlag
Manfred Böge. Rezension vom 07.12.2015 zu: Peter Fonagy, György Gergely, Elliot L. Jurist, Mary Target: Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2015. 5. Auflage. ISBN 978-3-608-94942-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19536.php, Datum des Zugriffs 04.12.2023.


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