Esteban Piñeiro: Integration und Abwehr
Rezensiert von Prof. Simone Gretler Heusser, 20.05.2016
Esteban Piñeiro: Integration und Abwehr. Genealogie der schweizerischen Ausländerintegration. Seismo-Verlag Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen (Zürich) 2015. 371 Seiten. ISBN 978-3-03777-149-5. 45,00 EUR.
Thema
Thema des vorliegenden Buches ist die Ausländerpolitik des schweizerischen Bundesrates seit Anfang des 20. Jahrhunderts. Es werden verschiedene Phasen von Abwehr und Integration unterschieden.
Autor und Entstehungshintergrund
Esteban Piñeiro ist als Soziologe an der Fachhochschule Nordwestschweiz tätig. Das vorliegende Werk ist seine Dissertation, für die er sich auch Michel Foucaults Kategorien der Gouvernementalität stützt. Gewidmet ist die Arbeit seiner Schwester und seinen Eltern, deren Migrationsgeschichte seine Themenfindung mit geprägt hat.
Aufbau und Inhalt
„Integration und Abwehr“ ist als Gouvernementalitätsforschung angelegt und arbeitet mit der genealogischen Diskursanalyse nach Michel Foucault. Als Material dienen dem Autor 146 amtliche Dokumente der schweizerischen Politik, in erster Linie der Bundesverwaltung sowie Rechtstexte zur Ausländer- und Integrationspolitik zwischen 1899 und 2010. Innerhalb dieser Zeit interessieren den Autor drei unterschiedliche Zeiträume.
Zur Zeit des Ersten Weltkrieges betrug die schweizerische Bevölkerung ohne Schweizer Pass rund 15%. Dies war auf die liberale Migrationspolitik in den Anfängen des nationalen Bundesstaates Schweiz zurückzuführen. Sandro Cattacin, der heute Soziologie an der Universität Genf lehrt, erzählt dazu die Anekdote über den Nahrungsmittelproduzenten Nestlé, welchem die schweizerische Bürgerschaft angetragen wurde, sie jedoch – seiner Zeit als nicht in nationalstaatlichen Grenzen Denkender voraus – dankend ablehnte. Der Bundesrat formulierte in dieser Zeit seine erste Migrationspolitik, welche ganz im Zeichen der Abwehr gegen die Gefahr einer „Überfremdung“ stand. Besonders restriktiv wurde die Vergabe von Niederlassungen gehandhabt, welche praktisch nicht mehr rückgängig zu machen sind, wenn sie auch kein Bürgerrecht und keine politische Partizipation ermöglichen.
Diejenigen – wenigen – Ausländer (Frauen waren so oder so lediglich Anhängsel, Schweizerinnen, welche einen Mann ohne Schweizer Pass heirateten, verloren ihr Bürgerrecht, stimmberechtigt waren sie sowieso nicht bis 1971), welche eingebürgert wurden, sollten durch „Assimilation“ quasi zum Verschwinden gebracht werden. Schon 1920 wurde das jus soli diskutiert – es ist bis heute nicht eingeführt.
In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gab es aus verschiedenen Gründen eine erneute starke Einwanderung in die Schweiz. Das restriktive Steuerungsregime stiess an Grenzen, dazu formierten sich fremdenfeindliche Kräfte in der Schweiz. Ein ebenfalls im Seismo Verlag erschienenes Buch vom vorher erwähnten Sandro Cattacin arbeitet ein tragisches Ereignis aus dieser Zeit auf, welches sowohl Solidarität als auch Hass in der schweizerischen Bevölkerung auslöste. Ende August 1965 begrub eine durch einen Gletscherabbruch ausgelöste Lawine 88 Menschen in ihrem Barackendorf bei einer Baustelle für einen Staudamm unter sich. Die Katastrophe führte einerseits zu Spendenaktionen und Hilfeleistungen, welche von verschiedenen Hilfswerken getragen wurden. Andererseits führten die Forderungen von Hinterbliebenen sowie der italienischen Regierung an die eidgenössischen Behörden auch zu fremdenfeindlichen Reaktionen in der Schweiz. Die Forderungen werden grundsätzlich als frech und inakzeptabel empfunden, zudem sah man darin auch eine Verunglimpfung der damaligen Schweizer Einwanderungspolitik.
Aus dieser Zeit stammt auch Max Frischs Satz „Wir haben Arbeitskräfte gerufen. Es kamen Menschen.“ Das Thema Andersartigkeit und Fremdheit dokumentiert auch eine TV-Aufnahme zum Schweizer Autobahnbau der 1960er/70er Jahre. Ein Ingenieur antwortet auf die Frage, wie der Friede auf der Baustelle bei so vielen „verschiedenartigen“ Menschen erhalten werde, man koche jeder Gruppe, was sie gerne esse, das gelte auch für den St. Galler und seine Bratwurst.
Der Film „Die Schweizermacher“ mit dem Kabarettisten Emil Steinberger in der Rolle des etwas unbeholfenen, aber gutherzigen Fremdenpolizisten stammt aus dem Jahre 1975. Die jugoslawische Tänzerin, welche einen Kehrichtsack in der falschen Farbe auf die Strasse stellt, verzichtet zum Schluss auf die Einbürgerung. Das Einzige, was neben der Mode und den Frisuren heute wirklich anders ist als vor 30 Jahren ist die Tatsache, dass es Jugoslawien nicht mehr gibt.
Eine dritte, vordergründig ganz neue Phase bricht in den 1990er Jahren an. Einerseits hat die schweizerische Regierung den Kontrollverlust zu verkraften, welche die Personenfreizügigkeit mit der EU mit sich brachte. Andererseits wird in der Schweiz Ausländerpolitik nun nach dem „Drei-Kreise-Modell“ betrieben, welches eine Abstufung von „mehr oder weniger“ ausländisch suggeriert. Erhöhte Mobilität und Transmigration tragen weiter zur Verwischung früher als fest konzipierter Grenzen bei. Der Bundesrat realisiert: Migration passiert einfach – aber Integration kann man steuern. Es tauchen zwei neue politische Figuren auf: der Citoyen (oder die Citoyenne), Bürger_in nicht in Bezug auf die politischen Rechte [1], jedoch als Teil der Gesellschaft; und statt von schweizerischer Eigenart spricht man nun von Vielfalt, dies auch in Anlehnung an Deutschland, welches sich nun als „Einwanderungsgesellschaft“ versteht.
Allerdings ist diese neue Vielfalt nicht frei von Zwang. Die Integrationspolitik läuft unter dem Motto „Fördern und Fordern“. Im Gegensatz zum Schema der Negation vor 100 Jahren ist die heutige Abwehrstellung der schweizerischen Politik dem Schema der Zugehörigkeit verpflichtet. Die „fehlbaren“ Ausländer_innen und jene, welche als „Parallelgesellschaften“ identifiziert werden lassen sich nicht integrieren und folglich auch nicht als Citoyen_ne_s führen. Was früher negiert wurde, wird heute verschleiert.
Das vorliegende Buch interessiert sich für den Diskurs der Regierung und nicht primär die Einstellungen der Zivilgesellschaft. Selbstverständlich interagieren die verschiedenen Diskursebenen jedoch miteinander, und so möchte ich zum Schluss eine kleine Geschichte stellen, welche in einem ebenfalls vom Autor des vorliegenden Buches, Esteban Piñeiro, mitherausgegeben worden ist. Es soll für den Diskurs der schweizerischen Zivilgesellschaft stehen:
In
Seldwyla fragt ein Fremder zwei Passanten auf Englisch nach dem Weg
zum Rathaus: „Please, where is the town hall?“
Als
diese nicht reagieren, wiederholt er seine Frage auf Französisch:
„Pourriez-vous
me dire où est la mairie?“
Wieder
keine Antwort. Der Fremde versucht es abermals auf Spanisch, auf
Italienisch und sogar auf Türkisch. Als die beiden anderen nicht auf
seine Frage reagieren, geht er enttäuscht davon. Nun sagt der eine
Passant beeindruckt zum anderen: „Mein Gott, der konnte aber viele
Sprachen.“
Darauf
der andere: „Und? Was hat´s ihm genützt?“
(Mateos in Piñeiro et al. 2009, S. 122).
Diskussion
Die Methode der Foucault´schen genealogischen Diskursanalyse ist Geschmacksache. Die Auseinandersetzung mit der schweizerischen Politik im Umgang mit Immigration dagegen ist faszinierend und in diesem Buch von Esteban Piñeiro erscheint viel Bekanntes in einem neuen Licht. Besonders interessant ist dabei die Analyse, dass das heutige (vordergründige) Bekenntnis zu Vielfalt einhergeht mit einer ebenfalls vordergründigen Verfransung der Kategorien (es ist sowieso alles gemischt und hybrid) bei gleichzeitiger knallharter Exklusion von konstruierter Andersartigkeit, welche beispielsweise zu unterschiedlich harten Strafen für Straffällige mit und ohne Schweizer Pass führt.
Fazit
Ein Must für alle, welche sich für den schweizerischen Migrationsdiskurs und die Integrationspolitik interessieren!
Literatur
- Piñeiro Esteban; Bopp Isabelle; Kreis Georg. (Hrsg.) 2009. Fördern und Fordern im Fokus. Leerstellen des schweizerischen Integrationsdiskurses. Zürich und Genf: Seismo.
- Ricciardi Toni, Cattacin Sandro, Baudouï, Rémi. 2015. Mattmark, 30. August 1965. Die Katastrophe. Reihe „Gegenwart und Geschichte“. Zürich und Genf: Seismo.
[1] In den meisten Kantonen der Romandie verfügen dort wohnhafte Ausländer_innen über das kommunale Stimm- und Wahlrecht. Auf nationaler Ebene sowie in den Deutschschweizer Kantonen wurden solche Initiativen bisher immer abgelehnt.
Rezension von
Prof. Simone Gretler Heusser
Dozentin an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit
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Zitiervorschlag
Simone Gretler Heusser. Rezension vom 20.05.2016 zu:
Esteban Piñeiro: Integration und Abwehr. Genealogie der schweizerischen Ausländerintegration. Seismo-Verlag Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen
(Zürich) 2015.
ISBN 978-3-03777-149-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19540.php, Datum des Zugriffs 10.10.2024.
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