Andrea Keller (Hrsg.): Die Rolle der Tafeln im Sozialstaat
Rezensiert von Dr. Georg Singe, 01.10.2015
Andrea Keller (Hrsg.): Die Rolle der Tafeln im Sozialstaat. Solidarische Ökonomie oder Armutszeugnis der Sozialpolitik?
Lit Verlag
(Berlin, Münster, Wien, Zürich, London) 2015.
74 Seiten.
ISBN 978-3-643-12892-8.
19,90 EUR.
Forum Theologie, Philosophie und Ethik, Band 2.
Thema und Herausgeberin
Seit über 20 Jahren existiert in Deutschland die Tafelbewegung. Aus kleinen Anfängen ist eine große Bewegung geworden.
Die Rolle der Tafeln im Sozialstaat wird seit Jahren kritisch reflektiert. Diesem Anspruch stellt sich auch die Publikation von Andrea Keller, die als Herausgeberin und Referentin an der Akademie St. Jakobushaus in Goslar arbeitet.
Entstehungshintergrund
Die Publikation ist eine Dokumentation einer Tagung, die 2014 in dieser Akademie der Diözese Hildesheim stattgefunden hat.
Aufbau und Inhalt
Schon in dem Vorwort des Akademiedirektors Heiner J. Willen (S. 7-9) wird der inhaltliche Focus auf die Diskussion der gerechtigkeits- und solidaritätsstiftenden Funktion des Wirkung der Tafelbewegung im Sozialstaat gelenkt. Die besondere Bedeutung des kirchlichen Engagements in der Tafelbewegung im Hinblick auf den notwendigen Einsatz zur politischen Bekämpfung von Armut wird hervorgehoben.
Vier Beiträge erschließen das Thema aus unterschiedlicher Perspektive. Andrea Keller formuliert in der Einleitung (S.11 – 18) die Ambivalenzen, inwieweit die Tafeln in Deutschland als ein Armutszeugnis der Sozialpolitik oder als subsidiäre Ergänzung im Sinne einer besonderen Form solidarischer Ökonomie zu verstehen sind. Das Spannungsfeld der kritischen Diskussion der Tafelbewegung liegt „im Zielkonflikt zwischen Armutslinderung und Armutsbekämpfung“ (S. 13).
In einem ersten Beitrag (S. 19 – 24) stellt Jochen Brühl, Vorsitzender des Bundesverbandes Deutsche Tafel e.V. das ehrenamtliche Selbstverständnis der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Tafelbewegung dar und zeigt das Leitbild und auch die Grenzen der Tafelarbeit auf, die nur „im Dreiklang aus Überfluss, Mangel und Ehrenamt“ (S. 23) funktioniert. Die eigentliche Armutsbekämpfung ist und bleibt die Aufgabe des Staats. Der Tafelbewegung ist es gelungen, Armut in der Gesellschaft wieder sichtbar zu machen und als gesellschaftliches Problem zu diskutieren.
Alexander Dietz beschreibt als Privatdozent für systematische Theologie an der Universität Heidelberg und Referent für Armutspolitik bei der Diakonie Hessen in seinem Beitrag „Die ambivalente Rolle der Tafeln im Sozialstaat“ (S. 25- 46) die bedeutende Rolle der kirchlichen Wohlfahrtsverbände und Kirchengemeinden in der Tafelbewegung, da immerhin ein Drittel der Tafeln in Deutschland in kirchlicher Trägerschaft sind. Er zeigt auf, wie im Rahmen der Veränderungen der Sozialgesetzgebung durch die Sozialpolitik und des im neoliberalen Markt zunehmenden Überangebotes an Lebensmitteln die Bedeutung der Tafelbewegung enorm zugenommen hat. Die ambivalenten Wirkungen der Tafelbewegung im Hinblick auf eine Symptombekämpfung können nicht nivelliert werden und dennoch bestehen große Chancen, dass die Tafelbewegung einen Beitrag zu einer sozialen und gerechten Gesellschaft beiträgt. „Die Chance der Tafelbewegung besteht darin, dass sie, indem sie Armut aufzeigt, die Voraussetzungen für eine Anwaltschaft für Arme schafft und Möglichkeitsräume zu einem weiterführenden Engagement…“ (S. 34). Dietz betont, dass es nicht die Aufgabe der Tafeln ist, sich überflüssig zu machen, sondern es eine Aufgabe der Sozialpolitik ist, die Tafeln überflüssig zu machen (vgl. S. 37). Mit konkreten Vorschlägen, das sozialpolitische Engagement einzelner Tafeln zu vertiefen, schließt Dietz seinen Beitrag. Tafeln können auch helfen bei der Durchsetzung von Rechtsansprüchen einzelner Tafelnutzer, sie können Bildungsarbeit bei Ehrenamtlichen und Öffentlichkeitsarbeit leisten. Zudem können sie sozialpolitische Initiativen vor Ort sowie die Lobbyarbeit des Tafelbundesverbandes und der Wohlfahrtsverbände unterstützen.
Als letzten Beitrag formuliert Ulrich Thien, Leiter des Referates Soziale Arbeit beim Caritasverband Münster, aus theologischer Sicht sozialpastorale Perspektiven der Tafelbewegung und weiterer existenzunterstützender Angebote (S. 47- 71). Er greift die Debatte des „Kritischen Aktionsbündnisses 20 Jahre Tafeln – armgespeist – 20 Jahre Tafeln sind genug“ auf und formuliert die Notwendigkeit, auf dem Hintergrund der kirchlichen Soziallehre Fragen der Verteilungs- und Teilhabegerechtigkeit im Sinne einer gesellschaftlichen Bekämpfung von Armut neu zu buchstabieren. Dies impliziert im Rahmen des Eintretens für Gerechtigkeit und Solidarität eine Parteinahme im Sinne der befreiungstheologischen Option für die Armen.
Diskussion und Fazit
Das Buch stellt mit seinen unterschiedlichen Beiträgen einen guten Überblick über die Diskussion und die Ambivalenzen der deutschen Tafelbewegung dar. Es wird deutlich, dass die Tafeln keinen Ersatz für eine armutsvermeidende, existenzsichernde und bedarfsgerechte Grundsicherung darstellen. Diese Mindestsicherung ist und bleibt die Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben als Voraussetzung für eine solidarische und gerechte Gesellschaft. So bietet das Buch viele Anregungen zur Vertiefung des Themas und viel Material für die Ehrenamtlichen der Tafelbewegung, ihr Selbstverständnis zu reflektieren.
Rezension von
Dr. Georg Singe
Dipl.-Sozialarbeiter, Dipl.-Theologe, Systemischer Familientherapeut, Supervisor und Lehrtherapeut (DGSF)
Dozent an der Fakultät I für Bildungs- und Gesellschaftswissenschaften, Fachbereich Soziale Arbeit der Universität Vechta
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Es gibt 26 Rezensionen von Georg Singe.
Zitiervorschlag
Georg Singe. Rezension vom 01.10.2015 zu:
Andrea Keller (Hrsg.): Die Rolle der Tafeln im Sozialstaat. Solidarische Ökonomie oder Armutszeugnis der Sozialpolitik? Lit Verlag
(Berlin, Münster, Wien, Zürich, London) 2015.
ISBN 978-3-643-12892-8.
Forum Theologie, Philosophie und Ethik, Band 2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/19551.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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